Vor gar nicht allzu langer Zeit war Klavierunterricht noch etwas für privilegierte Kinder wohlhabender Eltern, die sich in der Schule nicht selten zu Strebern entwickelten. Gefallen fanden daran neben den eigenen Eltern vor allem die Großeltern („Was für ein wohlerzogener Junge“), in der Schule konnte man damit aber keine Coolness-Punkte einheimsen. Und auch die alljährlichen Klavierabende dienten eher dazu, vor den anderen Tastennovizen mit seinem Können zu prahlen oder eben duckmäuserisch von dannen zu schleichen und sich zwei Wochen lang vorzunehmen, endlich mehr zu üben.
In den letzten Jahren hat sich da aber einiges getan, ich glaube, dass vornehmlich CHILLY GONZALES dafür sorgte, dass die Rolle des Pianisten plötzlich in einem anderen Licht erschien. Es bedurfte nicht mehr zwangsläufig einer E-Gitarre, um lässig rüberzukommen.
Doch wo CHILLY GONZALES zu Beginn noch die Grenzen des Möglichen am Piano auslotete und allzu gerne in abstrakte Formen abdriftete, galt plötzlich auch ein „Solo piano“ (2004) wieder als chic. Es folgten Künstler wie ÓLAFUR ARNALDS, NILS FRAHM, MARTIN KOHLSTEDT und LAMBERT, die zuletzt nicht nur auf Jazz- oder Klassik-Festivals gebucht wurden, sondern inmitten von Indie-Bands auftraten.
Inzwischen gilt NILS FRAHM selbst als Referenz, und bei „Solo“ (Erased Tapes, VÖ: 29.03.2015) handelt es sich keineswegs um sein erstes Soloalbum, sondern bereits um den elften Tonträger innerhalb von zehn Jahren – die Aufnahmen mit anderen Musikern gar nicht mitgerechnet.
Insofern überrascht es auch nicht, dass bereits drei Monate später mit dem Soundtrack zu dem derzeit in allen Medien präsenten Film „Victoria“ (ebenfalls Erased Tapes, VÖ: 12.06.2015) bereits ein nächstes Album erscheint. Und wo liegen nun die Unterschiede zwischen den Alben, muss man wirklich beide haben?
Bei „Solo“ handelt es sich um ein klassisches Piano-Album, die Atmosphäre ist sehr ruhig und besinnlich. Um das Album „richtig“ zu verstehen, empfiehlt es sich, einen Blick in das Booklet zu werfen, denn es erklärt (sogar in Blindenschrift), warum es so minimalistisch ausfällt. Minimalistisch heißt in diesem Fall auch, dass man kein virtuoses Klavierspiel erwarten, sondern sich viel mehr auf den Klang der Töne einlassen soll, die oft sehr lange stehen bleiben. Denn NILS FRAHM hat „Solo“ auf dem weltweit größten Klavier in Tübingen eingespielt, wo der Pianist in etwa zwei Meter Höhe sitzt und der Resonanzraum gewaltig ist, man mitunter sogar den Eindruck hat, das Piano würde von einem Kontrabass begleitet („Wall“). Gleichzeitig bedeutet das aber auch, dass man bei „Solo“ keine Begleitmusik für die Teetafel zu erwarten hat, dafür fällt das Album zu speziell aus.
Die Atmosphäre bei „Music for the motion picture Victoria“ fällt zwar ebenfalls ziemlich ruhig, aber an vielen Stellen mit einer vergleichsweise bedrückenden Stimmung aus. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die beteiligten Musiker den Film zuvor nicht kannten und die Musik gewissermaßen „live“ improvisiert wurde. Was hätte besser zu einem Film passen können, der in einem Take aufgenommen wurde? Neben dem klassischen Klavier tauchen diverse andere Instrumente (Viola, Cello und Gitarre) auf, die oftmals aber bloß als Soundeffekte genutzt wurden. Nur der Opener („Burn with me“) stammt von DJ Koze und fällt musikalisch auf dem Rahmen, fängt die Berliner Clubkultur aber hervorragend ein. Dass es sich bei diesem Album um Filmmusik handelt, ist offensichtlich. Interessant ist es, sich dazu den Ablauf des Films vorzustellen, wenn man ihn noch nicht kennt. Oder das eigene Kopfkino anzuwerfen und die Gedanken schweifen zu lassen. Wer nicht träumen mag, wird mit diesem Album nicht viel anzufangen wissen. Alle anderen können sich davon zumindest leiten lassen.