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SYCAMORE AGE – s/t

Ich habe Angst vor dieser Platte. Dabei habe ich sie noch nicht einmal gehört. Warum sollte ich also Angst vor ihr haben? Um diese Frage zu beantworten, zitiere ich einfach mal frei heraus aus der Pressemitteilung. Dort heißt es, SYCAMORE AGE hätten sich nach einem Platanengewächs benannt, weil die Stile, derer sie sich bedienen, wie Äste in unterschiedliche Richtungen ragen und ihre kreative Unermüdlichkeit sprieße wie Blätter im Frühjahr. 70er Jahre Progressive Rock, Folk, Krautrock, zeitgemäße Elektronik, Experimentalmusik, verwunschene Melodien, SUFJAN STEVENS, TIM BUCKLEY, FLAMING LIPS und EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN können dabei nur provisorische Orientierungspunkte im fraktalen Sounduniversum von SYCAMORE AGE sein. Infolge dessen dürften laut Info selbst die erfahrensten Kritiker Probleme haben, diese Musik zu kategorisieren. Die „enthusiastisch umjubelte Ausnahmeband Italiens“ (mit schon über 3000 Plays auf Myspace), die aus sieben Multiinstrumentalisten besteht, performt dafür auch schon mal live mit einer elektrischen Zahnbürste! Ich kann nichts dagegen tun: vor meinem inneren Auge manifestieren sich Bilder von den wilden Rock-Orgien der 70er Jahre. Von wuselnden Fellwesten, strömendem Schweiß, nackten Brüsten im bunten Nebellicht der ganz großen Bühnen, von langen Haaren und Bärten, schlammbeschmiert, von Haschspritzen rauchenden Hippies im Peyote-Nirvana, von jeder Menge hautengen Lederhosen und andersweltlichem Sex auf undefinierten Drogen, Hauptsache es bringt dich auf deiner spirituellen Reise ein Stück weiter in Richtung der großen Freiheit. Bilder von Cowboystiefeln an bemalten, eng miteinander verschlungenen Körpern ziehen in Zeitlupe an mir vorbei. Und elektrische Zahnbürsten. Das alles lässt mich ehrfurchtsvoll erbeben ob der schieren Größe dieses wahnsinnigen Projektes namens SYCAMORE AGE aus Italien. Was mir hingegen echte, ungefilterte Angst bereitet, ist der letzte Absatz ihrer Botschaft an die weltliche Presse. Dort heißt es wörtlich: „Wir glauben, dass Kunst mehr sein kann als ein bequemes Sofa. Mehr wie der Sitz einer Propellermaschine, die dich an unerwartete Orte bringt. Orte, an denen du alles finden kannst: Paradies oder Hölle. Gehst du das Risiko ein?“ Ja, ich muss es tun! Ich lege dieses epochale Werk jetzt auf. Paradies oder Hölle. Wir sehen uns auf der anderen Seite…

Also gut. Jetzt läuft das Ding, und eines kann ich gleich zu Anfang sagen: Angst muss vor dieser Platte niemand haben. Dies ist keine dauergewellte Rock-Oper aus den Abgründen der leinensakkotragenden DREAM THEATER Hölle. Nein, denn obwohl hier offensichtlich sehr fähige Musiker am Werk sind, wird auf schmierige minutenlange Technikeinlagen zum Glück komplett verzichtet. Das sauber produzierte Album gibt sich vielmehr durchweg ruhig, lässt sich tatsächlich nicht in irgendetwas einordnen. Oft werden akustische Gitarren, Klavier, Streicher und Sounds aus alten analogen Synthesizern benutzt. Dazu kommen relativ zahme E-Gitarren- und Basssounds, jede Menge perkussive Elemente und Geräusche. Das Ganze wird von technisch perfektem, facettenreichem Gesang begleitet, der, häufig mit QUEEN-artigen Chören und Gesangsharmonien hinterlegt, butterweich durch die Ohren fließt und ein warmes Gefühl in der Magengegend hervorruft. Und tatsächlich, die angekündigten verwunschenen Melodien ziehen sich wie ein roter Faden durch das Album, versetzen den Hörer in diese schaurig-schöne Stimmung, die sonst nur bei TIM BURTON Filmen aufkommt: Leise fallender Schnee in einer viel zu bunten amerikanischen Vorstadt, nächtlich tanzende Skelettpuppen, verrückte Apparate zur Herstellung von Schokolade oder Drei-Gänge-Menü-Kaugummi, schiefe kleine Holzhäuser und Winona Ryder in schwarzen Kleidern am Dachbodenfenster eines unheimlichen Spukhauses. Das erinnert hier und da an OPETH („Damnation“), PATRICK WOLF und irgendwie auch COCO ROSIE. Und viele Dinge dazwischen. Ganz genau kann das wohl auch der erfahrenste Kritiker nicht sagen. Was ich aber sagen kann ist, dass SYCAMORE AGE es trotz ihrer vielen Einflüsse geschafft haben, erstaunlich homogen und eingängig schön zu klingen. Das fühlt sich am Ende eher wie ein Filmsoundtrack und nicht wie ein Krautrock- oder Folkalbum an. Vor allem, weil auf dem Album keine emotionalen Höhepunkte zu erkennen sind und sowohl auf prägnante Refrains als auch auf etablierte Songstrukturen verzichtet wird. Ungeachtet all der überraschend positiven Eindrücke kann ich mir, obwohl „Sycamore age“ ein schönes, gut durchdachtes, technisch perfekt aufgenommenes Album ist, nicht vorstellen, wer sich so etwas zu Hause anhört. Es fällt bei mir durch jegliches Raster. Seltsam.

P.S.: Sollte auf diesem Album eine elektrische Zahnbürste zum Einsatz gekommen sein, habe ich sie nicht gehört.