Scheinbar mit prophetischer Vorahnung vertonten PROTOMARTYR im Sommer 2019 in einer umgebauten Kirche in New York Zukunftsvisionen mit unheilbringenden Krankheiten, die sich aktuell in Form der Corona-Krise mit starken Auswirkungen auf das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in den USA äußern. Im Juli 2020 erschien nun das fünfte Album der Detroiter, „Ultimate success today“, das irgendwo zwischen Post-Punk, Indie, Jazz und Noise seine eigene Nische findet und das musikalische Spektrum der Band sogar noch weiter absteckt. Dass die dazugehörige Tour aufgrund von COVID-19 abgesagt werden musste und die Band auch aus finanzieller Sicht vor großen Herausforderungen steht, erläuterte uns Sänger Joe Casey via Skype.
Unser besonderer Dank für die Entschlüsselung der leider sehr verzerrten Tonaufnahme gilt Karuna Khattar.
Im Rahmen der 2018 veröffentlichten Split-7“, auf der PROTOMARTYR und PREOCCUPATIONS sich gegenseitig covern, gab es ein Interview mit Dir und Matt (Sänger und Bassist von PREOCCUPATIONS), in dem es um das Ende der Rockmusik ging. Du sagtest, dass Rockmusik stirbt, weil sie nicht mehr gefährlich ist. Tatsächlich hat man das Gefühl, dass sie hierzulande ausstirbt. Wie sieht es in Amerika aus?
Die Musik verändert und entwickelt sich weiter. In den 60ern und 70ern haben die Leute gerne Bluegrass gehört, das müssen sie heute natürlich nicht mehr. Blues und Jazz hört man in der Schule, aber es ist halt keine Musik für Magazine, sondern eher etwas fürs Museum. So müssen sich die Kids halt etwas Neues suchen.
Warum ich dies frage: ich habe das Gefühl, dass ihr der Musik tatsächlich einen neuen Anstrich verpasst. PROTOMARTYR scheinen sich an den verschiedensten Stilen zu orientieren, schaffen somit etwas sehr Eigenständiges, und vielleicht ist dies ja auch die Lösung des Problems.
Für uns ist es schwierig, Einflüsse zu benennen, aber jede Innovation im Sound ist uns willkommen. Indem wir uns von bestehender Musik beeinflussen lassen und sie neu arrangieren, schaffen wir neue. Viele Bands wissen gar nicht, was für Sounds sie aus ihren Instrumenten herausholen können. Als wir angefangen haben, Musik zu machen, waren unsere Fähigkeiten auch noch sehr limitiert. Gerade dann ist es aber wichtig, viel Musik zu hören. Auch dadurch schafft man seinen eigenen Stil.
Ihr habt Eure Musik im Laufe der letzten zwölf Jahre kontinuierlich verändert. Ihr klingt zwar nicht mehr so laut wie zu Beginn, habt aber zugleich nichts an Energie eingebüßt.
Das stimmt. Das hat zwei Gründe: Zum einen war unser Sound früher lauter, zum anderen hatten wir weniger Zeit im Studio. Nun hört man auch, was ich singe. Außerdem glaube ich, dass es keine Frage des Alters ist, ob man ruhiger oder langsamer wird. Es geht mehr um den Sound und die Wertigkeit der Musik. Wir haben die Lautstärke und die Kraft noch immer in uns drin. Das hoffe ich jedenfalls.
Mit der Zeit hat sich auch Dein Gesang verändert. Während es früher eher ein Sprechgesang war, singst Du inzwischen mehr.
Ja, das stimmt. Man kann nicht immer gleich singen. Die Band hat sich weiterentwickelt, was schöne Musik betrifft. So bestand auch die Absicht, dass sich der Gesang verändert. Früher hat man manchmal kaum die Melodien erkannt, inzwischen muss ich da schon etwas bieten können.
Dein Gesang klingt manchmal fast wie ein eigenständiges Instrument.
Wahrscheinlich hängt es damit zusammen, dass sich unser Sound geändert hat. Wenn wir die Songs früher abgemischt haben, sollte das Schlagzeug lauter sein als der Bass und die Gitarre, während der Gesang im Hintergrund war. Ich mag es noch immer, wenn man den Gesang nicht alleine hört und er sich zum Beispiel in einer Gitarrenspur verliert.
Man hat, zumindest hierzulande, das Gefühl, dass das Publikum bei Euch schon etwas älter ist – ich schien bei Eurem Konzert im Knust mit 40+ fast im Durchschnitt zu liegen. Ist das überall so?
Ich habe das Gefühl, dass es zwischen Amerika und Europa einen kulturellen Unterschied gibt. In Amerika geht man so lange auf Konzerte, wie man auf die High School geht, danach scheint das Interesse an neuer Musik abzusterben. In Europa ist das anders. Wir machen uns natürlich Gedanken, ob die Musik spannend bleibt. Ich mag das Publikum aber nicht als alt bezeichnen, weil ich selbst auch nicht jünger bin. Wir versuchen einen Mix zu machen, der jeden Geschmack triff. Das betrifft sowohl die Musik als auch zum Beispiel unsere T-Shirts.
Ihr werdet ja auch gerne mit SHAME aus England verglichen und umgekehrt, obwohl die Briten viel jünger sind als ihr. Bei ihnen habe ich übrigens Ähnliches beobachtet – das Publikum war fast doppelt so alt wie die Band selbst.
Wir waren mit ihnen schon zusammen auf Tour. Tatsächlich ähnelt sich unser Publikum sehr, und ich habe darüber gescherzt, dass ich etwa so alt wie ihre Eltern sein müsste. Wir wurden schon häufiger mit ihnen verglichen, was ich bei dem Altersunterschied verblüffend finde. Vergleiche sind aber doof, wenn die Referenzband scheiße ist. Aber SHAME sind wirklich gut.
Sind sie das, was Ihr im Interview als GGGB bezeichnet habt?
Ja, genau. Good guys, good band!
In dem Gespräch mit Matt von den PREOCCUPATIONS ging es ja auch um die finanzielle Situation von Musikern und die meist falsche Wahrnehmung von Außenstehenden, die denken, dass man als Musiker automatisch reich sei. Ihr spracht darüber, dass die Einkünfte oftmals gerade dazu ausreichten, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Wie geht es Euch aktuell zu Zeiten von COVID-19?
Nicht gut! Das betrifft sowohl Künstler als auch Musiker. Wir haben aktuell weder irgendwelche Fördermittel, noch irgendein Einkommen. Die Tour war bereits gebucht und wird nun wohl auf 2021 verschoben werden. Momentan sind Streamingdienste wie Spotify nahezu die einzige Einnahmequelle. Normalerweise nimmt man auf einer Tour viel Geld über den Verkauf von T-Shirts ein, aber das bleibt aktuell entsprechend aus. Es fühlt sich ein bisschen so an, als ob man ein Album herausbringt und es sofort in den Müll schmeißt. Das ist frustrierend. Für kleine Bands, die nur hobbymäßig Musik machen und noch kleine Shows spielen können, und die richtig großen Bands ist es wahrscheinlich nicht so hart wie für mittelgroße Bands wie uns. Ich befürchte auch, dass das Tourbooking 2021 für uns recht schwierig werden wird, weil wir für die Veranstalter nicht so viele Gewinne einbringen wie größere Bands.
Von staatlicher Seite gibt es wahrscheinlich auch keine Unterstützung?
Nein, es sollte eine einmalige Zahlung von 1.200 Dollar geben, aber das war’s. Aber auch für Barkeeper und andere Jobs ist die Lage mit den geschlossenen Bars und Restaurants nicht besser. Im Grunde sind aber alle betroffen.
Passend zu der aktuellen Situation habt Ihr ja nicht erst auf „Ultimate success today“ bevorstehende Katastrophen schon mehrfach auf Euren Alben thematisiert. Fühlt sich das nun wie eine Art Prophezeiung an?
Ja, die Veröffentlichung von „Processed by the boys“ (erste Single des neuen Albums; Anm. d. Red.) fällt tatsächlich mit dem Beginn der Corona-Krise zusammen. Wir sprechen in dem Song zwar von einer Katastrophe, die sich ankündigt, aber in der Realität ist es nicht das Virus, das uns zerstört, sondern wie wir damit umgehen. Hinzu kommen falsche Entscheidungen in der Politik und dumme Polizisten. Das ist es, was wirklich weh tut.
Auf „Relatives in descent“ ging es thematisch um den Begriff der Wahrheit. Auch hier scheint es Parallelen zu den Fake News zu geben, die derzeit wieder sehr stark kursieren.
Das stimmt.
Musst Du Dich nun nach einem neuen Job umsehen, um den Lebensunterhalt zu finanzieren?
Das Problem ist, dass man aktuell kaum Jobs kriegt. Man kann froh sein, wenn man einen Job hat, den man derzeit ausüben kann. Nun öffnen Restaurants wieder, damit man überhaupt wieder Geld verdient, auch wenn es nur die Hälfte ist. Hauptsache, das System läuft wieder, wobei sich die Regierung keine Gedanken um die Corona-Folgen macht. Wir haben in den letzten Jahren immer darauf geachtet, dass wir die Bandkasse möglichst nicht anfassen. Wenn man mit der Band auf Tour ist, lebt man von den T-Shirt-Verkäufen. Aktuell versuchen wir, online T-Shirts und Platten zu verkaufen. Dabei möchte man das Geld, das man damit einnimmt, am liebsten für noch bedürftigere Personen und Institutionen spenden. Aber wir brauchen es, um unsere laufenden Kosten zu begleichen.
Klappt das denn?
Bisher haben wir das kaum genutzt, aber nun müssen wir die aktuellen Shirts online anpreisen. Es hilft uns ein wenig aus, aber man bemerkt auch, dass die Leute sich um dringendere Angelegenheiten kümmern müssen, als T-Shirts zu kaufen. Selbst wenn uns aber jemand supporten möchte, kauft er vielleicht ein oder zwei Shirts, aber keine zwanzig.
Lass uns über etwas positivere Dinge sprechen und auf die Musik zurückkommen. Du sagtest einmal, dass Du eigentlich nie den Plan gehabt hattest, Sänger einer Band zu werden. Wie blickst Du nun auf diese Entscheidung zurück? Hast Du sie jemals bereut?
Wenn ich es jemals bereut haben sollte, dann nur ein wenig. Am anstrengendsten an einer Band ist, dass sie all Deine Zeit und Energie raubt, wenn Du es damit ernst meinst. Man muss sich auf eine Sache fokussieren. Ich bereue zwar, dass ich als Musiker definitiv kein normales Leben führe, aber das war meine Entscheidung, und ich möchte dies auch nicht ändern.
Wenn ich richtig informiert bin, wohnt Ihr nicht mehr alle in Detroit. Wie läuft es dann bei Euch mit dem Songwriting ab? Schickt Ihr Euch MP3s hin und her?
Zuletzt lebten wir tatsächlich quer über die US verteilt an unterschiedlichen Orten. Gregs Freundin lebt in Chicago, dort haben wir auch unsere letzte Show vor der Corona-Krise gespielt. Wir haben zwar über die MP3-Idee gesprochen, aber ich finde es am einfachsten ist, Songs zu schreiben, wenn man zusammen abhängt und genügend Zeit hat. Ich mag auch nicht während einer Tour Songs schreiben. Wie soll das gehen? Man reißt dann im Hotelzimmer seine Amps auf? Das hat doch gar keinen Style!
Ein Freund von mir arbeitet als Illustrator und ist großer Fan von Eurem Artwork. Er sagte, dass man dort eine Art Corporate Identity erkennt, mit Postern, ohne Typo usw. Wer ist dafür verantwortlich?
Ich bin für das Artwork unserer Alben und Shirts verantwortlich, unser Drummer Alex mischt dabei ebenfalls mit. Ich war die treibende Kraft dahinter, weil ich kein musikalisches Talent habe. Als Sänger hat man die Musik zwar im Kopf, aber dort kann ich mich wirklich ausdrücken. Ich mache das wirklich gerne und verstehe auch nicht so ganz, warum anderen Bands das scheinbar egal ist. Zum Beispiel BLACK FLAG: sie hatten so eine tolle Ästhetik in ihrem Artwork, aber das letzte Albumcover ist das hässlichste Cover, das ich je gesehen habe. Ich finde, dass unsere schlichte visuelle Sprache gut zusammenpasst und dass sie auch die Musik belebt.
Du sagtest einmal, dass Du wegen des Schreibens zur Schule gegangen seist. Wie meintest Du das? Bezog sich das auf das Schreiben literarischer Texte oder Songtexte?
Meine Hauptfächer waren Englisch sowie Film & Video. In der High School war mein Traum tatsächlich, ein Songwriter zu werden. Das wollten aber alle, und irgendwann reichte es mir, Bücher zu lesen und Filme zu gucken. Ich habe letztlich keinen Abschluss gemacht. Manchmal fühlt es sich an, als ob die dortige Zeit vergeudet war, doch wenn dem so ist, dann war es meine eigene Schuld. Schriftsteller wollte ich aber nie werden.
Ich finde, dass Eure Musik durchaus mit einem Theaterstück vergleichbar ist, weil sie aus so vielen Teilen zusammengesetzt wurde und erst am Ende als gesamtes Werk vollendet wirkt.
Ich finde auch, dass unsere Musik visuell klingt. Mir ist es auch wichtig, dass wir für jedes Album einen Opener und einen abschließenden Song schreiben. Außerdem muss es dort bestimmte Wendungen und Verläufe geben. Man kann die Songs natürlich auch einzeln hören – „Worm in heaven“ haben wir als Single veröffentlicht, weil der Song so anders klingt als alles, was wir bisher veröffentlicht haben – aber erst als ganzes Album wirkt es für mich abgeschlossen. Wir sind übrigens alle Cineasten. Wenn es also einen Filmmacher gibt, der viel Budget hat: engagier uns bitte für den Soundtrack! Ich glaube, darauf hätten wir alle Lust!