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Foto: Michael Bomke

100 KILO HERZ – „Im Punkbereich sollte es genug Freiheiten geben, auch mit anderen Stilen zu kuscheln“

So eine Corona-Pandemie macht irgendwie ganz schön träge. Beispielsweise liegt mir bereits seit vielen Wochen ein Review-Exemplar des neuen 100 KILO HERZ-Albums vor, welches ich auch bereits in zahlreichen Hördurchgängen auf Herz und Nieren geprüft und letztendlich für gut befunden habe. Im Zuge dessen habe ich mir damals vorgenommen, ein Interview mit den Jungs zu führen, die Umsetzung aber angesichts der Tatsache, dass der Veröffentlichungstermin des Tonträgers noch relativ lange hin ist, immer weiter vor mir hergeschoben. Und ehe man sich versieht, ist es bereits Ende Juli und bis zum Release-Date sind es nur noch gerade einmal zweieinhalb Wochen! Doch auf 100 KILO HERZ ist glücklicherweise Verlass: Sänger Rodi und Gitarrist Marco nahmen sich der Interviewanfrage umgehend an und es dauerte keine 72 Stunden, bis die Antwortmail auch schon in meinem Postfach zappelte. Also lest euch mal durch, was diese sympathische Band zu sagen hat, besorgt euch das neue Album und besucht eines ihrer demnächst hoffentlich wieder regelmäßig stattfindenden Konzerte. Auf geht’s!

Am 07. August erscheint euer zweiter Longplayer. Verratet unseren Lesern doch bitte schon einmal, was sie auf “Stadt Land Flucht” erwartet und inwiefern sich das neue Werk von eurem Debüt-Album unterscheidet…
Marco: Wir haben uns dieses Mal bewusst für einen Produzenten entschieden. Und mit Kurt Ebelhäuser, der bereits mit PASCOW, den DONOTS oder ADAM ANGST zusammengearbeitet hat, hat das Album einen deutlich mehrschichtigeren Aufbau als der erste Longplayer. Die Songs sind abwechslungsreicher, sowohl textlich als auch musikalisch.
Rodi: Wenn ich den Hauptunterschied mit einem Wort beschreiben müsste, würde ich sagen, dass das neue Album erwachsener ist. Im ersten Album haben wir vor allem Geschichten aus unserer Vergangenheit aufgearbeitet, Dinge die mehr als zehn Jahre zurückliegen. Jetzt sind wir mehr in der Gegenwart. Egal ob politische oder zwischenmenschliche Themen, beides ist ein bisschen weitergedacht, und wir versuchen, einen Blick auf ein größeres Bild und gewisse Muster zu werfen. Das spiegelt sich auch in der Musik wider.

Mindestens einer der drei Titel-Begriffe „Stadt“, „Land“ oder „Flucht“ spiegelt sich meiner Meinung nach in irgendeiner Form in nahezu jedem der auf dem Album enthaltenen Lieder wider. Das Wort „Stadt“ ist alleine in jedem zweiten Songtext enthalten, und den Begriff „Land“ könnte man stellvertretend auf die Nationalismus-kritischen Inhalte beziehen, die sich in Liedern wie „Drei Jahre ausgebrannt“, „Drei vor Fünf vor Zwölf“ oder „Scheren fressen“ finden. Der Begriff „Flucht“ könnte wiederum für diese gewisse Rastlosigkeit stehen, die sich in vielen eurer Texte widerspiegelt und die meistens in irgendeiner Form von Flucht endet: Sei es vor Nazis, vor der Tristesse, die einen umgibt oder im Endeffekt vielleicht sogar vor sich selbst. Selbst ein Lied wie „Tresenfrist“, das sich kritisch mit dem Thema Alkoholkonsum auseinander setzt, könnte man in diesem Kontext sehen, da für viele der Rausch ebenfalls eine Flucht aus der Realität darstellt. Könnte man „Stadt Land Flucht“ insofern als eine Art Konzept-Album verstehen, oder hat sich diese Themenkonstellation eher zufällig so ergeben?
Rodi: Das hat sich schon zufällig ergeben, zumal der Titel auch nach dem Album entstanden ist. Wenn es sich für dich so anfühlt, dass er das Album im Ganzen erfasst, dann ist das natürlich erstmal ein Kompliment für Claas, der die Idee eingebracht hat. Wir beobachten einfach die Dörfer und Städte, vor allem die, aus denen wir kommen, das Land, in dem wir leben, die Welt, in der wir sind und die Dinge, die überall dort passieren. Natürlich haben wir darauf geachtet, dass das Album insgesamt eine Runde Sache ist, aber für ein „richtiges“ Konzeptalbum wären zumindest meine Ansprüche anders. Die Alben, die bisher entstanden sind, sind eher Kurzgeschichten-Sammlungen, ein Konzeptalbum wäre äquivalent zu einem Roman. Das braucht wesentlich mehr Vorbereitung und könnte nicht in einem Jahr entstehen, in dem wir parallel knapp sechzig Konzerte spielen.

Den nachhaltigsten Eindruck hat der letzte Song des Albums namens „Wenn es brennt“ bei mir hinterlassen. Hierin zeichnet ihr ein ebenso finsteres wie bedrückendes Szenario, in dem ein totalitäres Regime schlagartig die Kontrolle übernimmt und es nun darum geht, sich als politischer Gegner dieses Regimes in Sicherheit zu bringen. Dieses vermeintlich abstrakte Bild wirkt insofern erschreckend aktuell, da in den letzten Monaten immer mehr Informationen über rechtsextreme Netzwerke und sogenannte Prepper-Gruppen an die Öffentlichkeit gelangt sind, die sich auf genau solch einen „Tag X“ vorbereiten und teilweise nicht nur Feindeslisten mit vermeintlichen politischen Gegnern führen, sondern in einigen Fällen konkret Waffen, Munition und sogar Leichensäcke gehortet haben. Wie viel Fiktion und wie viel Realität steckt in diesem Text?
Rodi: Zu dem Text haben natürlich verschiedene Faktoren geführt. Es ist so, dass der legale Zweig der rechten Ideologie mittlerweile in Parlamenten sitzt, während sich Neonazis organisieren und wieder vermehrt morden. Das ist eine Entwicklung, die uns allen Angst macht, und in dem Lied ist diese Entwicklung konsequent zu Ende gedacht. Denn wenn Faschisten in Machtpositionen sind, dann sterben Menschen. Außerdem ging es auch darum, so ein Szenario in das Land, in dem wir leben, zu verlagern. Viele Menschen sind einfach nicht empathisch genug zu verstehen, aus welchen Gründen Menschen flüchten (und es gibt unglaublich viele Gründe dafür). Am Ende ist der Text eine fiktionale Dystopie, und unsere große Hoffnung ist, dass sie nie Realität wird.

Ich war, ehrlich gesagt, etwas überrascht, als ich gelesen habe, dass Pino von der Grevenbroicher Pop-Punk-Combo PLANLOS in dem Stück „Scheren fressen“ als Gast mitsingt. Ich dachte eigentlich, die hätten sich bereits vor vielen Jahren aufgelöst. Wie kam diese Konstellation zustande?
Marco: Ich kenne PLANLOS seit 2006 und habe mit ihnen in Dessau schon das ein oder andere Konzert veranstaltet. Die daraus entstandene freundschaftliche Beziehung besteht bis heute, und nach der Reunion von PLANLOS war es für mich nur eine logische Konsequenz, Pino zu fragen, ob er Lust darauf hat, bei unserem Album mitzuwirken. Ich bin mega stolz darauf. Jetzt heißt es noch Daumen drücken, dass die gemeinsame Tour im Herbst stattfinden kann.

Ihr selbst habt euch musikalisch ja voll und ganz dem Ska-Punk verschrieben. Andererseits habt ihr euch als Band jedoch nach einem MUFF POTTER-Song benannt, zollt in eurer aktuellen Vorab-Single (zumindest indirekt) der Hamburger Punk-Legende …BUT ALIVE Tribut und erwähnt in einem eurer Texte auch noch explizit Marcus Wiebusch, was alles in allem auf breiter gefächerte Einflüsse schließen lässt, als sich letztendlich in eurem Sound widerspiegeln. Wie festgelegt seid ihr als Band auf einen bestimmten Stil? Ist es ein bandinternes Thema, auch mal verstärkt andere Einflüsse wie beispielsweise Indie-Rock in euren Sound mit einfließen zu lassen, oder zieht ihr diesbezüglich eher eine Grenze zwischen dem, was ihr privat hört und dem, was in das etablierte 100 KILO HERZ-Konzept passt?
Rodi: Ich würde sagen, wir haben noch gar kein etabliertes Konzept, und wir haben uns auch nicht bewusst dem Ska-Punk verschrieben. Halt einfach Punkrock, aber mit Bläsern dazu. Zumindest theoretisch sollte es im Punk-Bereich genug Freiheiten geben, auch mit anderen Stilen zu kuscheln. Wenn wir die Einflüsse aller sechs Bandmitglieder reinnehmen würden, dann hätten wir eine Indie-Pop-Deutschpunk-70er-Rock-Skatecore-Melange, mit Bluegrass-Einflüssen, Steelguitar-Solos, Bläsern und in jedem zweiten Song einen Rap-Gastpart. Ich glaube, es ist okay, dass ein paar Einflüsse nicht mit drinstecken. Am Ende sind wir nie mit einem bestimmten Plan an die Band gegangen. Wir haben uns getroffen, angefangen, zusammen Musik zu machen, und das, was wir jetzt haben, ist am Ende herausgekommen. Wir sind überhaupt nicht festgelegt, wir machen einfach das, womit wir uns am wohlsten fühlen.

Zur Veröffentlichung eures Albums habt ihr, der aktuellen Corona-Situation zum Trotz, zwei Release-Konzerte mit jeweils 250 Zuschauern auf der Parkbühne in Leipzig organisiert. Die Frage, wie derartige Veranstaltungen unter Berücksichtigung notwendiger Hygiene-Regelungen umgesetzt werden können, beschäftigt ja derzeit viele Veranstalter… Könnt ihr schon verraten, wie die organisatorische Umsetzung eurer Shows konkret aussehen wird?
Marco: Wir haben selbst auch lange überlegt, ob das alles funktioniert und wie sinnvoll es ist. Uns fehlen die Konzerte auch immens, und wir sind froh, dass wir mit MAWI einen örtlichen Veranstalter im Boot haben, der diesbezüglich gut aufgestellt ist. Sie kamen mit dem Konzept für die Parkbühne auf uns zu, und es klingt für uns alles stimmig. Natürlich wird es ein bestuhltes Konzert sein. Sobald Menschen ihre Plätze verlassen, sind sie an die Mund- Nasenschutz-Pflicht gebunden. Aber es wird eine Bar geben, und wir haben natürlich auch einen Stand. Außerdem haben wir mit LULU UND DIE EINHORNFARM und Thorsten Nagelschmidt von MUFF POTTER schöne spezielle Gäste dabei. Wir freuen uns auf die beiden Konzerte.

Insgesamt scheint es für euch derzeit trotz aller widrigen Umstände ganz gut zu laufen: Die beiden erwähnten Release-Konzerte sind quasi ausverkauft, der Vorverkauf für die neue Platte läuft offenbar ebenfalls sehr gut an (eine limitierte Version in goldenem Vinyl war innerhalb von nur einem Wochenende ausverkauft). Angenommen, es kommt zu keinem erneuten Corona-Lockdown, und die Veranstaltungs-Situation normalisiert sich langsam wieder – was erhofft ihr euch als Band von den kommenden Monaten, und welche Ziele habt ihr euch gesteckt?
Rodi: Erstmal gesund bleiben, das ist das Wichtigste aktuell. Für die Band können wir gar nichts sagen, da kann sich täglich etwas ändern. Wir leben gerade in einer Pandemie, das sollten wir nicht vergessen. Wir sind in der glücklichen Situation, dass keiner von uns finanziell auf die Band angewiesen ist. Das sieht bei vielen Menschen in der Musikbranche, vor allem in der Livemusik-Branche ganz anders aus. Wir können und wollen keine Pläne machen und lassen uns einfach davon überraschen, was da kommt.

Bernd Cramer

Konzert-Junkie & Vinyl-Liebhaber. Schreibt über Musik, ohne zu Architektur zu tanzen.