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LAMBERT – Stay in the dark

Dass die den Promo-CDs beiliegenden Infoschreiben gerne auch als „Beipackzettel“ bezeichnet werden, passt in mehrfacher Hinsicht. Sie liefern dem Rezensenten nützliche Informationen zur Künstlerbiographie, zum Aufnahmeprozess und gelegentlich auch zur Motivation des Künstlers. Sie erklären also, was man auf der CD hört – soweit Erklärungsbedarf besteht. Weil es sich bei Infoschreiben aber oftmals um vollkommen übertriebene, wenn nicht gar utopische Lobhudeleien handelt, wandern sie nicht selten ungeachtet in den Papierkorb – ein Schicksal, von dem ja auch medizinische Beipackzettel selten verschont bleiben.
Im besten Falle bewirken die musikalischen Infozettel aber auch, dass man ein Album nach der Lektüre des selbigen mit anderen Ohren hört. Was mir zuletzt zweimal passiert ist, interessanterweise beide Male mit neoklassischen Alben. Im ersten Fall ging es um NILS FRAHMs aktuelles „Solo“-Album, das auf dem weltgrößten Klavier eingespielt wurde. Hier wollte NILS FRAHM vor allem den Klang und den gewaltigen Resonanzraum des Klaviers ausloten, weshalb die spielerischen Besonderheiten etwas in den Hintergrund rückten.
Im zweiten Fall ging es um das aktuelle Album des Pianisten LAMBERT, der zuletzt nicht nur wegen seiner markanten Maske für Aufsehen sorgte, sondern vor allem aufgrund spannender Neuinterpretationen von Bands wie TOCOTRONIC, PHOENIX, BOY, BEATSTEAKS, DIE STERNE, DEICHKIND und DAVID BOWIE. Auf „Stay in the dark“ gibt es hingegen keine Reworks von genrefremden Künstlern, sondern ausschließlich eigene Stücke. Und die sind leicht zugänglich, wenig sperrig und reihen sich eher unauffällig ein bei der stetig wachsenden Liste an Pianisten der Sparte „Modern Classic“. Das Infosheet informierte jedoch gerade noch rechtzeitig vor dieser Rezension, dass LAMBERT (weil er künstlerisch natürlich so gefragt ist) nur nachts zum Arbeiten an eigenen Stücken kam und wegen der besonderen Stimmung schließlich nur noch beim Schein der Straßenlaterne komponierte. Klingt romantisch? Tatsächlich klingt „Stay in the dark“ ausgesprochen weich, ja fast zärtlich. Als ob die Töne weichgezeichnet worden wären. Vielleicht sollte man dieses Album also ausschließlich nachts hören, möglicherweise gibt es ja auch den Begriff „Nachtmilde“?
Zufälligerweise fuhr ich genau gestern nach Mitternacht über die Reeperbahn und hörte dabei MARTIN KOHLSTEDTs Album „Tag“ (kein Witz!), das einen nicht weniger starken Effekt der Beruhigung auslöst, was inmitten der feiernden Kieztouristen umso stärker wirkt. Und zugleich zeigte es mir auf, was mir bei „Stay in the dark“ fehlt: eine gewisse spielerische Raffinesse, ein individueller Wiedererkennungswert, zumindest aber markante Melodien, die auffallen und hängenbleiben.