Kurz & schmerzlos (Januar – März 2011) – CD-Besprechungen in aller Kürze

Deutschland hat ein neues Trendwort: Moratorium. Es bezeichnet im Allgemeinen die Entscheidung, eine Handlung aufzuschieben oder vorübergehend auszusetzen. Bis vor kurzem fristete dieses Wort noch ein absolutes Schattendasein im deutschen Sprachgebrauch, bis sich ein Atomkraftwerk im japanischen Fukushima erdreistete, infolge eines Erdbebens außer Kontrolle zu geraten und eine erhebliche Menge radioaktiver Strahlung freizusetzen. Da war es dann selbst bei unserer Bundeskanzlerin Angie Merkel plötzlich vorbei mit dem unerschütterlichen Glauben an die Kerntechnologie. Erstaunlich, wie eine einzige Naturkatastrophe innerhalb weniger Tage das komplette Weltbild einer Person ändern kann, die während ihrer Studienzeit eine Diplomarbeit zum Forschungsthema „Statistische und Chemische Physik von Systemen der Isotopen- und Strahlenforschung“ verfasst hat, von 1994 bis 1998 das Amt der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit [sic!] bekleidete und noch vor wenigen Monaten mit ihrer Partei eine Laufzeitverlängerung für deutsche Kernkraftwerke durchgepeitscht hat…
Wie auch immer: So kam es, dass Frau Merkel am 14. März 2011 (rein zufällig also unmittelbar vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt) ein zunächst auf drei Monate befristetes Moratorium der Laufzeitverlängerung der deutschen Atomkraftwerke verkündete. Klingt doch super, oder?! Bedeutet aber letztendlich nichts anderes, als dass die Bundesregierung nun drei Monate Zeit hat um zu überlegen, wie man den Interessen der Atomindustrie auch in Zukunft gerecht werden kann, ohne es sich mit seiner ohnehin schon wegbröckelnden Wählerschaft endgültig zu verscherzen. Zudem ging dieser wahlkampftaktische Schachzug ziemlich in die Grütze, wie die Wahlergebnisse gezeigt haben. Lassen wir uns überraschen, ob unsere Bundes-Angie aus dieser Zwickmühle wieder rauskommt.

Apropos Zwickmühle: In selbiger sitzen wir gelegentlich, wenn wir Tonträger zugeschickt bekommen, deren ausführliche Besprechung uns aus irgendeinem Grunde nicht möglich ist bzw. nur begrenzt sinnvoll erscheint. Hierbei kann es sich beispielsweise um Alben handeln, deren Veröffentlichungstermin bereits mehrere Monate zurückliegt, um Demo- oder Promo-CDs, die in dieser Form niemals in den regulären Handel kommen, oder um Veröffentlichungen von Interpreten, die stilistisch nicht wirklich zu unserem Fanzine respektive Musikgeschmack passen. Für derartige Fälle haben wir unsere Rubrik „Kurz & schmerzlos“ eingeführt, in der wir diese Veröffentlichungen zumindest in Form einer Kurzreview würdigen. Viel Spaß dabei!

AKELA – „Orientation“ (Label: Midsummer Records, VÖ 14.01.2011)
(bc) Na, das geht ja schon mal ganz gut los hier. AKELA hauen mit „Orientation“ einen deftigen Post-Hardcore-Brocken raus, der diverse Ausflüge in Richtung Screamo, Noise oder Sludge wagt. Power und Emotionen gibt es hier zuhauf, chaotische Songstrukturen ebenso. Damit sind sie auf ihrem Label Midsummer Records zwischen Bands wie CALEYA und AN EARLY CASCADE bestens aufgehoben, und wer deren Platten mag, der liegt auch hier nicht verkehrt. (6)
http://www.myspace.com/akelanoise

DIE DROGEN – „Guten Tag“ (Label: Sonicsound Music, VÖ 04.03.2011)
(so) Es tut mir leid. Aber DIE DROGEN können bei mir auch mit Single Nr. 2, „Guten Tag“ nicht landen. Und das liegt nicht am langweiligen After-Party-Text oder der Schunkelpunk-Musik, geschweige denn an der langweiligen Aufmachung der CD. Nein, es liegt an allem zusammen. Wenn es einen Gott gibt, lässt er Single Nr. 3 bitte in einem anderen Briefkasten als dem meinigen landen. Danke. (2)
http://www.myspace.com/diedrogen

ELEPHANT PARTY – „Im Porzellanladen“ (Label: Plattenmonster, VÖ 18.03.2011)
(bc) Im Zeitalter der Globalisierung wachsen auch die Musikstile immer weiter zusammen. ELEPHANT PARTY sind ein gutes Beispiel dafür, denn sie vermengen in ihrem Sound Funk, HipHop, Reggae, Jazz und Pop. Das klingt zwar zunächst recht spannend, kann auf CD aber leider nicht immer überzeugen. Obwohl „Im Porzellanladen“ auf instrumentaler Ebene sehr ausgereift wirkt, stört mich immer wieder der (Sprech-)Gesang, der stellenweise einfach zu gezwungen rüberkommt. Wer sich daran jedoch nicht stört und kosmopolitischen Kaffeekränzchen nicht abgeneigt ist, der findet hier zweifelsohne ein sehr chilliges Album vor, das wohl am ehesten zwischen MUTABOR, DER FALL BÖSE, PHRASENMÄHER und JAZZKANTINE einzuordnen ist. (5)
http://www.myspace.com/elephantpartymusic

EVERLYN – „Anything but easy“ (Label: Finetunes)
(bc) EVERLYN kommen aus Madrid, klingen aber wie eine lupenreine Ami-Kapelle. Das Quintett spielt nämlich sehr US-typischen, poppigen Gute-Laune-Collegerock und besticht neben eingängigen Gitarrenmelodien vor allem durch eine sehr präsente Sängerin und eine satte Produktion. Vergleiche mit PARAMORE liegen auf der Hand, abgesehen davon, dass EVERLYN im Gegensatz zu diesen noch ein Stück reifer klingen und im Zweifelsfall eher die Ober- als die Unterstufe rocken. Ob die Halbwertzeit dieser 5-Track-EP, die als reines Digital-Release erscheint, allerdings über einen Sommer hinausgeht, darf bezweifelt werden. (6)
http://www.myspace.com/everlynband

FIRECRACKERS – „Studio 14 Recordings (Demo)“ (Label: Kill All Human Records)
(bc) Keine Ahnung, wo und wie der Lars von Kill All Human Records auf die FIRECRACKERS aus dem amerikanischen Baltimore aufmerksam geworden ist, aber er war von deren Demo „Studio 14 recordings“ auf Anhieb dermaßen begeistert, dass er die Band um Erlaubnis gebeten hat, die Aufnahmen in Deutschland veröffentlichen zu dürfen. Hierauf wird insgesamt sechsmal melodischer Drei-Akkorde-Midtempo-Power-Pop geboten, der besonders durch seinen bezaubernden Frauengesang besticht. Gerade bei dem Opener „Heart smash“ muss ich doch verdammt an den RACHEL GORDON-Song „Where are you tonight“ denken, und auch Ähnlichkeiten zu THE CHUBBIES und Einflüsse der RAMONES sind ebenfalls nicht von der Hand zu weisen. Dank Handclaps und einer etwas Lofi-mäßigen Aufnahme transportieren THE FIRECRACKERS in ihrer Musik zudem eine nette 60ies-Atmosphäre. Tolles Demo, ein richtiger Longplayer ist für Sommer 2011 angekündigt. (7)
http://www.myspace.com/thefirecrackersusa

JEAVESTONE – „1+1=OK“ (Label: Nordic Notes, VÖ 07.01.2011)
(jg) Verena hat mir am Wochenende ihre Lieblingsserie „Mighty boosh“ vorgestellt, die irgendwo zwischen Wayne´s World, Rocky Horror Picture Show und der Sesamstraße anzusiedeln ist. JEAVESTONE aus Finnland würden nicht nur optisch in diese Serie passen, sondern klingen auch sonst sehr theatralisch und wie eine bunte Mixtur aus QUEEN, IRON MAIDEN und alten GENESIS. Genau nicht mein Ding. (3)
http://www.myspace.com/jeavestone

NICOFFEINE – „Lighthealer stalking flashplayer“ (Label: Blunoise Records, VÖ 25.02.2011)
(jg) Ganz klar, Guido Lucas ist ein cooler Typ. Er hat mit bluNoise Records Bands wie BLACKMAIL und SCUMBUCKET entdeckt und damit sogar einen eigenen musikalischen Stil losgetreten, hat unzählige gute und schräge Bands produziert, favorisiert analoge Aufnahmen und ist auch vom Charakter nicht minder cool als Hans Meyer. Dass er auf bluNoise aber viele unhörbare Sachen veröffentlicht und dort nicht selten sogar mitspielt, muss man einfach mal feststellen… (2)
http://www.myspace.com/nicoffeinemusic

RIVAL SONS – s/t (Label: Earache Records, VÖ 09.01.2011)
(bc) Earache Records hat sich bislang überwiegend durch die Veröffentlichung zahlreicher Extreme Metal-Acts einen Namen gemacht. Mit den RIVAL SONS schlagen sie diesmal alledings in eine völlig andere Kerbe – auf dieser selbstbetitelten EP gibt es nämlich ziemlich bluesigen Hardrock zu hören. Stichwort: LED ZEPPELIN. Neben fetten Riff-Monstern tummelt sich mit „Sacred tongue“ auch eine Ballade zwischen den Stücken, wodurch sich die Kalifornier allerdings auch nicht gerade für den Rock´n´Roll-Innovations-Preis empfehlen können. Wer´s braucht… (4,5)
http://www.myspace.com/rivalsons

SLAG IN CULLET – „Splinter“ (Label: Revolver Distribution Services, VÖ 25.02.2011)
(jg) Wer heute noch Grunge hört oder, viel schlimmer, sogar macht, wird von den meisten musikinteressierten Leuten eher mitleidig belächelt oder als ewiggestrig wahrgenommen. Dass SLAG IN CULLET dies aber ziemlich gut und abwechslungsreich machen, werden wohl nur die unvoreingenommenen Hörer bemerken. Aber trotz der Qualität kann ich mich heute tatsächlich nur noch wenig für BUSH, SILVERCHAIR und andere begeistern. Tut mir leid, Jungs. (4,5)
http://www.myspace.com/slagincullet

SLATES – „Prairie fires“ (Vertrieb via Bandstand, VÖ 04.04.2011)
(bc) Achtung: Download only! Für mich als alten Computermuffel ist das ja nix, da drückst du einfach ein wenig auf der Maustaste rum, und schon hast du Musik auf dem Rechner, ohne irgendetwas real Existierendes in der Hand zu halten. Aber was willste machen, wenn es die Jugend von heute anscheinend nicht mehr gebacken bekommt, den Arsch vom Computer wegzubewegen und in den Plattenladen oder zu Saturn zu laufen. Aber kommen wir zu der Musik, die uns die kanadische Band SLATES auf ihrem zweiten Album „Prairie fires“ offenbaren: Melodisch-emotionaler Punkrock wird hier geboten, der stellenweise stark Richtung HOT WATER MUSIC tendiert, aber auch rockigeren und langsameren Stücken Platz bietet. Mit „Heart attack scare“, „DNR“ oder dem über sechsminütigen, atmosphärischen Titeltrack „Praire fires“ sind hier einige kleine Hymnen am Start, die ich bestimmt noch das eine oder andere Mal durch meine Ohrmuscheln jagen werde. Eine sehr gelungene Scheibe – sorry, ich meine natürlich Datenansammlung! (7)
http://www.myspace.com/slates780

Bernd Cramer

Konzert-Junkie & Vinyl-Liebhaber. Schreibt über Musik, ohne zu Architektur zu tanzen.