Reeperbahn-Festival bedeutet Stress. Nicht nur an den vier aufeinanderfolgenden Tagen im September, an denen das Festival stattfindet, sondern auch im Vorfeld. Vor allem natürlich für die Booker, Veranstalter und Organisatoren. So erzählte mir Mario Stresow (Booker bei FKP Scorpio und im Molotow Club) bereits am frühen ersten Abend, dass er wegen der anstrengenden Vorbereitung schon jetzt ziemlich k.o. sei. Aber zugleich war er auch voller Erwartungen, da im Molotow fast alle Bands spielen sollten, die man sich dort gewünscht habe. Konkret bedeutet dies: 63 Bands und neun Aftershow-Parties innerhalb von vier Tagen. Puh! Für Außenstehende zur Erklärung: im Molotow Club gibt es insgesamt vier Floors, die bespielt werden. Das eigentliche Molotow (der „Club“), dann die kleine Draußenbühne im Hinterhof (der „Backyard“), die Bühne im zweiten Stock (die „Sky Bar“) und die minikleine Bühne im Keller (der „Karatekeller“). Aber auch für den interessierten Konzertgänger gibt es einige Vorarbeit zu leisten. In meinem Fall muss man sich rechtzeitig um die Akkreditierung kümmern, einen Vorbericht verfassen und, die größte Aufgabe, an die 400 Bands durchhören, um die Geheimtipps nicht zu verpassen. Das ist durchaus zeitraubend und ermüdend, aber die vorherige Selektion führt auch dazu, dass man vier Tage lang gezielt zu den spannendsten Konzerten gehen und neue Bands entdecken kann, oftmals noch auf ganz kleinen Bühnen. Und in diesem Jahr waren einige gute Acts dabei. Aber lest selbst!
Als Opening Act hatten wir uns DEER ANNA ausgesucht, eine junge Hamburgerin, die Anfang des Jahres ihre erste EP veröffentlich hat und bei der das Debütalbum noch bevorsteht. Aber fehlende Popularität bedeutet beim Reeperbahn-Festival keineswegs, dass man keine Zuschauer vor sich hat. Ob sich DEER ANNA bereits als Geheimtipp herumgesprochen hat, ob es sich bei den Zuschauern auch um Freunde und Bekannte handelte, ob man es mit Laufkundschaft zu tun hatte oder sich das Publikum bereits vorab durch die zahlreichen Bands geklickt hat – man weiß es nicht. Aber die Resonanz war großartig, obwohl man der jungen Anna mit dem sanften Timbre und den schönen Melodien die Nervosität durchaus anmerken konnte. Vielleicht kam aber auch gerade diese Verletzlichkeit besonders gut an, da sie die Melancholie in ihren Songs noch unterstreicht.
Bevor es auf derselben Bühne weiterging noch ein kleiner Snack am asiatischen Streetfood-Stand, wo es Curry-Rotis mit Mango und Chili Chutney gab, eine Art sri-lankinische Maultasche. Sehr zu empfehlen!
Gestärkt sahen wir uns anschließend BDRMM aus Nordengland an, die mit einer Mischung aus Shoegaze, Space-Rock, Psychedelic und wildem Geschrammel auf sich aufmerksam machen konnten. Besonders gut kam der laute Beginn, der ohne Anzählen und auf den Punkt funktionierte. Ein kleiner Schreckmoment, mit dem man das Publikum direkt aus seinem Ruhemoment in ein Konzert hineinkatapultierte. Die Briten kamen gut an, Shoegaze hat in Hamburg ja nach wie vor eine große Anhängerschaft, wenngleich es für meinen Geschmack etwas zu viel durchgehender Hall auf dem Gesang war.
Im Anschluss schnell rüber zu MANDO DIAO, die ein kurzes Akustik-Set am N-JOY-Bus abhalten sollten. Doch was war das? Die Reeperbahn polizeilich voll abgesperrt, Tausende Menschen versammelten sich vor einer extra für den Gig aufgebauten Bühne. Erinnerungen an den Auftritt der SMASHING PUMPKINS anno 1998 wurden wach, die an gleicher Stelle vor Tausenden Zuschauern spielten. Doch nach und nach wunderten wir uns über das junge Alter des erwartungsvollen Publikums, bis uns schließlich klar wurde, dass es sich um einen Secret Gig von KRAFTKLUB, zusammen mit Bill Kaulitz handelte. Oha! Also schleunigst ein paar Hundert Meter weiter, wo für die großen MANDO DIAO überraschend wenig los war. Umso intimer die Atmosphäre, als die Schweden in Zweierbesetzung ein wahnsinnig gutes unverstärktes Set zum 20jährigen Jubiläum ihres Debütalbums gaben, darunter natürlich auch ihr Evergreen „Dance with somebody“.
Wer MANDO DIAO sagt, muss natürlich auch Molotow sagen, denn dort hatten sie anno 2004 ihren ersten Auftritt in Deutschland. Und wer schon mal auf dem Reeperbahn-Festival war, wird wissen, dass der legendäre Kiezclub an diesen vier Tagen schwerer zu besuchen ist als Nordkorea. Denn: wer einmal drin ist, bleibt drin. Der Grund dafür sind die oben bereits erwähnten vier Floors und die gute Bandauswahl. Aber in diesem Jahr klappte der Einlass überraschend gut und ohne zweistündige Warteschlangen. Manchmal hat das coronabedingte Desinteresse ehemaliger Konzertgänger eben auch seine Vorteile. Wobei das Molotow keineswegs leer, sondern meist sogar ziemlich gut gefüllt war. So zum Beispiel auch bei STONE, einer jungen postpunkigen Band aus Liverpool. Wenig überraschend lockten sie mit ihrem ungestümen Sound wie auch zuletzt SHAME, FONTAINES D.C. und YARD ACT ein Publikum an, das im Schnitt fast doppelt so alt ist wie sie. Was für eine Energie auf der Bühne, die mit einem bandinternen Jägermeister-Absacker anlässlich des 25. Geburtstags ihres Gitarristen endete.
Wesentlich ruhiger ging es anschließend im Häkken weiter, wo der Londoner Multiinstrumentalist OSCAR LANG zu einer Dreiviertelstunde Indiepoprock einlud. Optisch hätte der unscheinbare Hüne in seinem Pullunder und Schlabberjeans genauso gut zur KELLY FAMILY gepasst, aber musikalisch lieferte er zusammen mit seiner Band wahre Songperlen ab, die irgendwo zwischen BECK und MAC DEMARCO einzusortieren sind. Dazu gab er den unterhaltsamsten Entertainer ab – in diesem Kopf scheint es an Flausen und guten Ideen nicht zu mangeln.
Eine vollkommen andere Stimmung begegnete uns danach im Headcrash, wobei LUCAS BIRD stilistisch gar nicht allzu weit von OSCAR LANG entfernt waren, mich am meisten jedoch an BEN FOLDS FIVE und BOY PABLO erinnerten. Ein kleiner Unterschied war musikalisch jedoch auszumachen, der immer mal wieder durchblitzte: die jazzige Schule, die die drei MusikerInnen höchstwahrscheinlich zusammengeführt hat und die bei den folgenden HYPHEN DASH noch mehr in den Vordergrund trat (HYPHEN DASH bestehen zu 2/3 aus denselben Musikern wie LUCAS BIRD). Der Grund für die besondere Atmosphäre an diesem Abend war aber ein trauriger, politischer: der Krieg in der Ukraine. Beide Bands stammen nämlich aus Kiew und hatten eine 27stündige Zugreise hinter sich. Doch die Stimmung war keineswegs traurig oder melancholisch, sondern vielmehr aufmunternd und sich gegenseitig Mut zusprechend. Denn im Publikum waren ebenfalls viele UkrainerInnen anwesend, und so forderten die Musiker immer wieder zum Zusammenhalt gegen die russische Invasion auf, berichteten davon, dass nach wie vor Bomben fallen, man alles Geld sammele, um die ukrainische Armee zu unterstützen und sein Land nicht an Putin aufgeben wolle. Ein etwas ungewöhnlicher, aber umso beeindruckenderer Abschluss des ersten Tages.
Da unser erster Festivaltag ausschließlich der Musik gewidmet war, begannen wir den Donnerstag mit dem Gallery Hopping. Schließlich hat das Reeperbahn-Festival noch mehr zu bieten als Musik. Bei dieser zweistündigen Tour leitete uns Rena Wiekhorst (Freunde der Kunsthalle e.V.) voller Engagement durch die Galerien der Hamburger Neustadt. Es ging los bei Ralf Krüger (Feinkunst Krüger), der als Mitinitiator von Flatstock Europe, der größten Gigposter-Ausstellung Europas, gilt, die alljährlich auf dem Reeperbahn-Festival stattfindet. Damit habe er inzwischen zwar nichts mehr zu tun („Wenn man immer nur dasselbe macht, wird es langweilig“), dafür konnte man aber in seiner Galerie Keramiken von Isabell Kamp, Kunst mit griechischem Bezug von Penny Monogiou sowie Bilder und abstrakte Formen von Sylvie Ringer begutachten. Der rote Faden zwischen den drei Künstlerinnen wurde dadurch geschaffen, dass man den Boden in der Galerie mit sechs Tonnen Schiefersteinen als verbindendes Element auslegte. Was für ein Idealismus!
Weiter ging es durch die Galerie Gudberg Nerger mit filigranen Arbeiten von Svenja Maaß, die Kunst mit Musik verbindet und unter anderem ein Kunstbuch im LP-Format veröffentlicht hat. Es folgte der Besuch eines bewohnten Künstlerateliers in der Ruine eines ehemaligen jüdischen Tempelbaus. Hier konnte man quasi live in den Entstehungsprozess von Kunst eintauchen und nebenbei eine wahnsinnig stilvoll eingerichtete Künstlerwohnung begutachten. Eine Wohnung voller Inspirationen, nach denen die Artdirektoren von IKEA und Co wahrscheinlich lechzen würden. Zum Abschluss der Tour statteten wir der Golden Hands Gallery noch einen kurzen Besuch ab, deren Aufgabe es ist, Street Art und Graffiti Kunst auszustellen. Eine moderne Galerie, bei der uns die Infos zu den aktuellen Künstlern heute leider nur von einer jungen Kunststudentin vom Blatt vorgelesen wurden. Insgesamt war das Gallery Hopping aber eine mehr als lohnenswerte Tour, die wir allen BesucherInnen des Reeperbahn-Festivals sehr ans Herz legen möchten, die sich für aufstrebende KünstlerInnen interessieren, die noch nicht den Weg in die großen Museen gefunden haben.
Wie geht es weiter nach so viel Kunst? Vielleicht mit einer Lesung samt Interview mit dem alten Reimemonster FERRIS MC, der kürzlich seine Autobiographie mit dem bezeichnenden Titel „FERRIS – Ich habe alles außer Kontrolle“ veröffentlicht hat. Wobei der Begriff „Autobiographie“ nicht ganz zutrifft, vielmehr hatte man das Gefühl, dass Ferris der Inhalt seines Buches noch ziemlich unbekannt war. Er habe die Texte heute Morgen noch notdürftig zusammengeklebt, und entsprechend gestaltete sich auch die Lesung in der St. Pauli-Kirche. „Ach ja, die nächste Geschichte ist lustig“ kündigte er eine Passage an, in der er beschreibt, wie er als Kind einem Suizid durch einen Sprung vom Hochhaus in seinem damaligen Vorort-Ghetto in Bremen-Tenever beiwohnte. Nach einer halben Stunde gab Ferris zu, dass er selbst noch nie auf einer Lesung war, sich nun langsam aber „warmgetalked“ habe. „Ich dachte immer, dass Lesungen langweilig und etwas für feine Leute sind. Und dann auch noch in einer Kirche!“ Die zwischenzeitlichen Lacher hatte er auf seiner Seite, wenngleich seine Biographie alles andere als lustig war und er überraschend offen von dem nach wie vor schwierigen Verhältnis zu seiner Mutter sprach. Persönliche Einblicke, respektvoll von Alexandra Antwi-Boasiako moderiert und mit entsprechendem Applaus honoriert.
Den Rest des Abends verbrachten wir im Molotow und besuchten dabei alle vier Stages. Den Start machten TEMPS CALME im sehr kleinen Karatekeller. Ich weiß nicht, wie viele Leute in diesen Raum passen, geschätzt maximal 50. Die waren aber auch anwesend und sahen einen musikalisch sehr versierten Auftritt der drei Franzosen, die sich irgendwo zwischen den Eckpunkten Indie, Krautrock, Jazz, und Elektronik bewegten und mich dabei ein wenig an BLONDE REDHEAD und THE ALBUM LEAF erinnerten. Tolle Band!
Im Backyard, der Hinterhof-Outdoor-Bühne des Molotows, waren danach HIGHSCHOOL zu sehen, die jüngst von Melbourne nach London gezogen sind und Fans von THE CURE und JOY DIVISION sofort auf ihrer Seite hatten. Wenn nur ihr Sänger in seinem Muskelshirt mit Zigarette und Bierflasche nicht so schrecklich herumgepost hätte.
Richtig heiß und laut wurde es anschließend bei DITZ aus Brighton, die die Skybar in eine Sauna mit ordentlich Dezibel verwandelten. Wütende Texte in Kombination mit einem Trecker-Bass, dazu kreischende Gitarren und wilde Drums – METZ, NEUROSIS und IDLES lassen grüßen!
Eine Bühne fehlte noch – der eigentlich Molotow Club mit OPUS KINK, ebenfalls aus Brighton. In der britischen Presse vom NME und Co bereits in den höchsten Tönen gelobt, und das vollkommen zurecht. Eine wilde Mischung aus TOM WAITS, ROCKET FROM THE CRYPT und 31 KNOTS. Punk in Kombination mit Bläsern und Shanty-Romantik. Ich hätte all ihr Merch aufgekauft, aber leider war davon am letzten Tag ihrer Tour nichts mehr vorhanden. Schade.
Tag 3. Gestern um 3 Uhr im Bett, heute um 12 Uhr schon wieder am Start. So langsam spürten wir das Festival und vielleicht auch ein wenig den Alkohol in unseren Knochen. Aber was will man machen, wenn der erste gute Act bereits um 12 Uhr spielt. Und wahrlich sollte sich DIAPHANIE lohnen! Die Kanadierin wurde von zwei akustischen Gitarren im Stil der KINGS OF CONVENIENCE begleitet und hatte die bezauberndste Stimme, die ich seit Jahren gehört habe. Hier hörte man die vorhandene Gesangsausbildung heraus, ohne dass sie auch nur im Ansatz zur Schau gestellt wurde. Stattdessen gewährte sie Einblicke in ihre Gefühlswelt, sprach über ihre in der Corona-Zeit neu entdeckte Sexualität und verdrückte ein paar Tränen, als sie einen Song einem verstorbenen Freund widmete. So darf ein dritter Festivaltag gerne beginnen.
Da wir aber uns aber Hals über Kopf aus dem Bett ins Clubhaus St. Pauli gestürzt hatten, musste nach dem Konzert erst einmal ein kräftiger Kaffee und ein ordentliches Frühstück her. Ich hätte dies wahrscheinlich nicht erwähnt, wenn uns der Kiezbäcker in der Silbersackstraße nicht so sehr überzeugt hätte. Ein unscheinbares Café mit tollem Essen, guten Preisen und gutgelauntem Personal, das hier teilweise bereits seit mehr als 30 Jahren zusammenarbeitet. Wir sollten auch noch auf die sauberste Toilette auf dem Kiez hinweisen, merkte der Besitzer an.
Nach dem Frühstück landeten wir wieder im Backyard des Molotows, um alte Bekannte, unter anderem auch Arne von Nois-o-lution Records zu treffen. Ach, irgendwie sind Leute mit musikalischem Bezug oft sehr tiefenentspannte Menschen, und ein Wiedersehen nach Jahren fühlt sich an, als ob gar nicht so viel Zeit dazwiwschen gelegen hätte.
Im Hintergrund lief dazu im Rahmen von „Sounds Australia“ ruhiger Indiefolk von HAZLETT und aufmunternde Musik von GREATEST HITS, die müde Geister schnell wieder auf Vordermann brachte. KINGSWOOD aus Melbourne ließen mit ihrem straighten Rock an den BLACK REBEL MOTORCYCLE CLUB denken, oder wie heißt noch diese andere aufstrebende Band aus Australien mit ihrer lauten Interpretation des Rock & Roll? AC/DC oder so ähnlich.
Weiter ging es auf der Bühne am Spielbudenplatz mit ganz zarten Klängen aus der Schweiz. Zu zweit traten MEIMUNA auf, nur Gesang und Akustikgitarre. Dazu passen französischsprachige Lyrics natürlich ganz hervorragend, Tagträume inklusive.
Aus Zürich kamen DISTRICT FIVE, die im Anschluss daran eine schräge Mischung aus Jazz, Math Rock und Experimental darboten. Keine leichte Kost, die aber sogar auf dieser frei zugänglichen Bühne für großen Beifall sorgte. Sage doch noch einer, Jazz sei nur etwas für Nerds!
Von BATBAIT, ebenfalls aus Zürich, bekamen wir nur noch ein paar Klänge mit und mussten automatisch an JETTES denken, die zwei Jahre zuvor an selber Stelle auftraten und den Neunziger Grunge in die Neuzeit transportierten. Old School is the new School.
Wir hätten für den Abend zwar noch weitere Pläne gehabt, zum Beispiel die modernen klassischen Klänge der Cellistin DOBRAWA CZOCHER in der St. Pauli-Kirche und den WEEZER-artigen College Rock von KIWI JR. um kurz nach Mitternacht, doch wir mussten heute leider früher als geplant die Segel streichen um noch genügend Kraft für den letzten Tag zu haben.
Tag 4 startete wettertechnisch nicht so verheißungsvoll wie die vorherigen sonnigen Spätherbsttage, aber als wir uns vorm Imperial Theater trafen, um Jan Müllers Podcast „Reflektor“ live zu sehen, war der Regen schon fast wieder vorbei. Wer Reflektor noch nicht kennt: in seinem Podcast interviewt der Bassist von TOCOTRONIC seit 2019 regelmäßige Kolleginnen und Kollegen aus den Bereichen Musik, Literatur und Kunst und geht dabei meist tief auf ihr gesamtes Werk ein, was im Rückblick oft für so manchen Aha-Moment sorgt. Heute war CHARLOTTE BRANDI seine Gesprächspartnerin, die ihr aktuelles Solo-Album bewusst ohne männliche Unterstützung produziert hat. Ihr Resultat? Es fehlte eine spannende flirty Stimmung, dafür aber konnte sie alle Dinge verwirklichen, die ihr vorschwebten. Außerdem ging es in dem Gespräch um ihre Kindheit in der Hausbesetzer-Szene als Tochter der Musiker von COCHISE, um ihre vorherige Band ME AND MY DRUMMER mit ihrem damaligen Partner Matze Pröllochs und ihre ungewöhnliche Vorliebe für Schwerter. Selbst, wenn man durch das Gespräch Einblicke in ihr Leben und die Gedankenwelt von CHARLOTTE BRANDI bekam, hatte man das Gefühl, dass die beiden Interview-Partner nicht so wirklich warm miteinander wurden, was in vorherigen Reflektor-Folgen oft anders war. Aber es mag auch sein, dass die Tatsache, dass diese Folge erstmals live und vor Publikum produziert wurde, zu einer spürbaren Nervosität führten, die den Zugang zueinander ein wenig erschwerte. Selbst wenn Charlotte am Ende des Gesprächs gestand, sich sehr geehrt zu fühlen, an dem Reflektor-Podcast, den sie selbst sehr schätzt, teilgenommen zu haben.
Musikalisch ging es danach ziemlich böse weiter. HEAVE BLOOD & DIE kommen aus dem hohen Norwegen und haben ihre Instrumente mindestens so tief gestimmt wie ihre Fjorde. Zu Beginn nur zu viert aktiv und mehr im Sludge Metal verhaftet, haben sie ihre Band inzwischen um zwei Personen erweitert und mehr in die „Post“-Richtung verändert (Post-Metal und Post-Punk, sogar ein wenig Post-Rock). Das hatte etwas von NEUROSIS und ISIS, aber es folgten auch düstere an JOY DIVISION und PREOCCUPATIONS erinnernde Parts. Überraschenderweise konnte man die Band trotz ihrer Lautstärke gut ohne Ohrstöpsel ertragen, was sicherlich an ihrem dunklen Sound lag.
Danach zwängten wir uns ins Molotow, aber im Gegensatz zu den letzten Tagen hatte man heute nicht viele Optionen, was die Floor-Wechsel betraf. Im Karatekeller spielten DIE WÄNDE gefühlt in einer Sauna, während der Zugang zur Sky Bar zu OUM SHATT bereits wegen Überfüllung gesperrt war. Also schauten wir im Backyard bei einer Band namens STEINTOR HERRENCHOR vorbei, die eine recht eigenwillige Mischung aus 80s Synthpop und New Wave machte und mit Gesang kombinierte, den man sich genauso gut in einer Deutschpunk-Band vorstellen könnte. Vielleicht am ehesten was für Freunde von BETTEROV und DRANGSAL.
So langsam neigte sich das Reeperbahn-Festival dem Ende entgegen, und da wir den Abend im Michel abschließen wollten, legten wir noch einen Zwischenstopp im Uwe bei FREEKIND. ein. Zwei Musikerinnen aus Slowenien (Schlagzeug) und Kroatien (Piano und Gesang), die sich stilistisch nicht so recht entscheiden konnten und munter zwischen HipHop der Marke KATE TEMPEST und R’n’B à la AMILLI hin und her wechselten. Beides durchaus gekonnt, aber so richtig begeistern konnten wir uns nicht für FREEKIND.
Also auf zu CHARLIE CUNNINGHAM, und der Michel war als letzte Station durchaus gut gefüllt. Vielleicht hatten viele Festivalbesucher dieselbe Idee wie wir, da das riesige Kirchenschiff mit seiner festlichen Beleuchtung schon von seiner Optik immer wieder zu einem Besuch einlädt. Das ergänzte sich perfekt mit den Akustikgitarren und dem warmen Gesang des Singer/Songwriters. Gut möglich, dass wir die Reichweite des Briten unterschätzt hatten, der zwar schon mehrmals beim Reeperbahn-Festival aufgetreten ist, aber mittlerweile schon einen Major-Deal bei BMG klarmachen konnte. Ein würdiger Abschluss eines wirklich abwechslungsreichen Festivals, das in diesem Jahr (wahrscheinlich Corona-bedingt) nicht ganz so voll war wie in den Jahren zuvor, was man als Besucher aber durchaus positiv empfand.
Dass die Sorge der fehlenden KonzertgängerInnen durchaus berechtigt war, konnte man übrigens ein paar Tage nach dem Festival an der Corona-Warn-App erkennen, wo zahlreiche Warnmeldungen bei uns eingingen. Erfreulicherweise blieb uns aber trotz körperlicher Nähe zu den anderen Gästen eine zweite Infektion erspart.