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Kurz & schmerzlos (Juli- September 2023) – CD-Besprechungen in aller Kürze

Ich habe jetzt Katzen. Also, beziehungsweise Kater. Gleich zwei. Sie sind ganz schön verrückt, und ihre Charaktere unterscheiden sich ziemlich. Der eine ist eher scheu, und ich freue mich immer besonders, wenn er seinen Weg zu mir findet. Aber er ist auch ganz schön frech und streitet sich oft mit seinem Bruder. Der andere ist sehr neugierig und auch deutlich zutraulicher. Ich hätte auch die Chance gehabt, zwei Kater zu nehmen, die quasi reine Schnurrmaschinen waren. Aber ich als Sonderpädagoge suche ja immer ein bisschen die Herausforderung. Warum ich das erzähle? Zum einen, weil die beiden mein Leben ganz schön verändern, zum anderen, weil ich finde, dass unsere Rubrik kurz & schmerzlos ganz gut dazu passt. Auch hier begegnen wir den unterschiedlichsten Charakteren, der Musik in all ihren Ausprägungen, manche fordert uns heraus und manche ist uns zu einfach oder seicht. Und es gibt sogar die, die dein Leben verändert. Vielleicht findet auch ihr nicht nur Spaß an diesem Vergleich, sondern auch an den Rezensionen in aller Kürze. Versucht es einfach mal!

AMC TRIO – Following the light (Label: Leopard, VÖ: 25.08.2023)
(jg) Hier ein Jazz-Trio (Klavier, Bass, Drums), das man problemlos in jeder edlen Hotelbar spielen lassen könnte. Wobei „Trio“ beim aktuellen Album eigentlich gar nicht zutrifft, werden die drei Slowaken auf „Following the light“ doch fast durchgehend von Bläsern und Gitarre begleitet, was dem klassischen Sound des Trios doch eine merkliche andere Stilistik verleiht. Der Hotelbar-Hinweis drückt gleichzeitig die Zugänglichkeit des AMC TRIOs aus, was für Jazz-Laien sicherlich angenehm, für ausgewiesene Jazz-Freunde aber manchmal auch ein wenig eintönig sein könnte. Die besten Songs auf diesem Album sind „Dawn Chorus“, in dem Bass und Piano sich die Bälle gekonnt zuspielen, und der Titelsong, der auch gut in einem James Bond-Streifen funktionieren würde. Durch den (dezent) einfließenden osteuropäischen Flair fühle ich mich auch ein wenig an das tolle OPEN SOURCE TRIO erinnert.
https://www.amctrio.sk/

AN EAGLE IN YOUR MIND – Intersection (Label: Green Piste Records, VÖ: 28.04.2023)
(jg) Es mag ja sein, dass das Info es ganz präzise umschreibt, wenn es über dieses Duo aus Frankreich sagt, dass es „den Klang der Folk-Gitarre mit einem indischen Harmonium, analogen Percussions, vibrierenden Drones sowie einer wunderschönen Stimme verbindet.“ Das lockt allerdings auf die falsche Fährte.
Denn mit World Music oder Ähnlichem haben die beiden rein gar nichts zu tun. Stattdessen erinnert mich die Musik vielmehr an die belgische Trip-Hop-Band HOOVERPHONIC, das britische Duo MOLOKO oder sogar an MAZZY STAR, eine der ersten Bands des gerade wieder aufstrebenden Dreampops. Und tatsächlich klingt die Musik von AN EAGLE IN YOUR MIND ziemlich verträumt. Mit der wunderschönen Stimme hat das Info aber auf jeden Fall Recht!
https://aneagleinyourmind.bandcamp.com/

BABY FIRE – A year of grace (Label: Coeur sur toi, VÖ: 13.10.2023)
(bc) Bereits letztes Jahr waren BABY FIRE schon mal in unserer “Kurz & schmerzlos”-Rubrik vertreten, nun liegt mit „A year of grace“ eine weitere EP der Belgierinnen vor mir. Stilistisch bleibt sich das Frauen-Trio treu und fährt düster-schleppendes Art-Rock Geschütz auf, wobei es sich bei drei der insgesamt fünf Tracks um Remixe bereits erschienener Songs handelt und hier dementsprechend auch eine Club-Note mitschwingt.
https://www.facebook.com/babyfirebrussels

BABY ROSE – Through and through (Label: Secretly Canadian, VÖ: 28.04.2023)
(so) Ja, ich frage mich häufiger, wie so manches Album seinen Weg in meinen Haushalt findet. Das gilt absolut auch für BABY ROSEs „Through and through“. Es mag sein, dass sich hier „Musik für die ziellosen und gebrochenen Herzen“ findet, wie die Presseinfo fröhlich behauptet. Aber ich muss wieder einmal sagen, R&B und Funk sind einfach zwei Musikstile, die sich nie in mein gebrochenes Herz spielen können werden, es sei denn, sie werden von PRINCE intoniert. Tut mir leid, aber ich skippe hier einen Song nach dem anderen der Grammy-nominierten Sängerin. Ich wünsche all denen, die diese Art der Musik mögen, dass „Through and through“ sie in ihrem Heilungsprozess unterstützen kann und wird und drücke mal eben auf Stopp.
https://babyrose.bandcamp.com

BERLIN DISKRET – Erinnere dich (Label: Flight 13 Records, VÖ: 18.08.2023)
(bc) Mal wieder eine Band mit Berlin im Namen. Und tatsächlich tragen BERLIN DISKRET die Hauptstadt nicht nur in ihrem Namen, sondern kommen auch tatsächlich von dort, was sich unter anderem auch in den Texten von Songs wie „Gott der Straße“ oder „Du bist es doch selber“ widerspiegelt. „Erinnere dich“ ist das dritte Album der Band und bietet typischen End-Siebziger-Schrammelpunk mit Frauengesang und deutlichem NDW-Einschlag zu hören. Nette Ergänzung zu Bands wie HANS-A-PLAST, HEIMATGLÜCK oder auch ACHT EIMER HÜHNERHERZEN.
https://berlindiskret.bandcamp.com

CALEB NICHOLS – Let’s look back (Label: Kill Rock Stars, VÖ 13.10.2023)
(bc) Eigenartige Mischung – einerseits offenbart dieses Album klare BEATLES-Harmonien, zugleich wird hier aber auch dem Indie der 2000er gehuldigt (das Infoschreiben wirft unter anderem Namen wie DECEMBERISTS oder BELLE & SEBASTIAN in den Ring). Dennoch klingt “Let’s look back” nicht nur wie aus einem Guss und macht darüber hinaus auch noch richtig Spaß, denn CALEB NICHOLS verfügt sowohl über eine tolle Stimme, als auch über ein gutes Händchen fürs Songwriting. Independent-Pop der unbeschwerten Art.
https://calebnichols.bandcamp.com/

CHRISTINA MARTIN – Storm (Label: Come Undone Records, VÖ: 01.09.2023)
(jg) Auf dem Reeperbahn-Festival habe ich ja erstmals THE PRETENDERS live gesehen und war durchweg positiv überrascht. Nicht nur 80s Pop, auch eine Menge überzeugender New Wave/Indierock mit einer nach wie vor sehr jugendlichen Stimme der 72jährigen Chrissie Hynde. Warum ich dies alles erzähle? Weil mich auch die Kanadierin CHRISTINA MARTIN an THE PRETENDERS erinnert – allerdings nicht im Guten. Einschläfernder Poprock, dem das Info zudem noch die Genres Folk und Americana und einen Vergleich mit SHARON VAN ETTEN anheftet. Da hilft am Ende auch die durchaus gute Stimme der Dame nicht weiter.
https://christinamartin.bandcamp.com

DIE GRIFFINS – Keine Lösung (Label: Affenhaus, VÖ: 28.04.2023)
(so) Na ja… schlecht ist das wirklich nicht, macht Spaß und ist auch textlich wirklich okay. Dennoch: DIE GRIFFINS klingen einfach zu sehr nach so vielen anderen Bands (diese allerdings sind auch ziemlich gut!), als dass ich das Gefühl habe, „Keine Lösung“ unbedingt hören zu müssen. Das ist netter Ska-Punk, mit einer Stimme, die immer wieder an BELA B. erinnert, aber es ist eben netter Ska-Punk, der an BELA B. erinnert und damit ist eigentlich auch schon alles gesagt. Was DIE GRIFFINS aber doch noch besonders macht, ist die Bandzusammenstellung, denn die Bandmitglieder kommen aus ganz Deutschland – und sogar aus Togo und haben sich zusammengefunden, um nun, nach vielen Jahren des Probens, eben dieses Album rauszuhauen.
https://www.facebook.com/DieGriffins/

FIEH – III (Label: Jansen Records, VÖ: 15.09.2023)
(jg) Bei der norwegischen Retro-(oder Future?)Soul-Band FIEH hat sich nicht viel geändert. Warum auch, haben sie doch bereits auf ihrem Debüt mit dem relaxten Hit „Glu“ ihren Signature-Sound, wie es so schön heißt, gefunden. Wobei sie, rückblickend betrachtet, auf ihrem zweiten Album „In the sun in the rain“ ein wenig die ursprüngliche Unbeschwertheit zugunsten von akademischer Verkopftheit verloren hatten. Doch auf ihrem dritten Album spielen sie wieder ganz unbeschwert, vielleicht auch etwas abgeklärter auf. Wer also mit dem guten alten Soul der Sixties etwas anfangen kann und auch nichts gegen ein wenig Pop/R’n’B der Marke TLC einzuwenden hat, darf sich den Namen FIEH gerne mal merken – soweit er nicht schon bekannt ist.
https://fieh.bandcamp.com

GIDON CARMEL – The story of goabi (Label: Recordjet, VÖ 17.03.2023)
(jg) Der in Israel geborene und aktuell in Berlin lebende Produzent und Multiinstrumentalist Gidon Carmel hat bereits eine beeindruckende musikalische Vita hinter sich. Er war als Livedrummer mit zahlreichen Bands unterwegs, half ihnen im Studio aus, war Hausschlagzeuger im Berliner Hyatt Hotel und arbeitete an der Entwicklung der Musiksoftware Ableton mit. Und dennoch ist er außerhalb der Szene kaum jemandem bekannt. Das soll sich nun ändern, und so entwickelte er dieses Konzeptalbum, das im Grunde ein Sampler diverser Berliner Künstler ist, mit denen er in der Vergangenheit zusammengearbeitet hat und sie nun auch für „The story of goabi“ produzierte. Unter anderem sind so namhafte Bands wie CHILDREN, AMISTAT und ALBERTA CROSS mit dabei, das Ganze hat aber einen kleinen Haken. Die Auswahl der Künstler ist zwar vielseitig (Rockmusik, Pop, Singer/Songwriter, HipHop, Folk, Gothic Rock, Modern Classic) allerdings fehlt dem Ganzen ein klarer roter Faden. So wirkt das Album eher wie ein Bewerbungsschreiben von Carmel als wie eine durchdachte musikalische Zusammenstellung.
https://www.facebook.com/gidicarmel

GREY PARIS – Lee waves (Label: Springstoff, VÖ: 04.08.2023)
(jg) Vier Songs klingen ja eher nach einer EP als nach einem Album. Doch das Trio GREY PARIS präsentiert auf „Lee waves“ vier Tracks mit einer Gesamtspielzeit von über einer halben Stunde. Prog-Rock, Rock-Oper, Art-Rock? Mitnichten. Die drei Berliner sind wohl eher in der Sparte Modern Jazz einzuordnen, irgendwo im Umfeld von Bands wie GRANDBROTHERS und GLASS MUSEUM, die sich ebenfalls anschicken, eine eingängige Mischung aus Jazz, Elektro und Ambient zu kreieren. Das begeistert sogar Leute wie meine Schwester, die mit den einzelnen genannten Sparten nur wenig anfangen können. Wobei es GREY PARIS gelingt, die einzelnen Stücke eine ziemlich Wandlung von einem zum anderen Stil vollziehen zu lassen, was auch die ungewöhnlichen Songlängen erklärt. Das Gute daran: die Gratwanderung gelingt ausgezeichnet, die Stücke bleiben abwechslungsreich und unterhaltsam. Bisher haben es die Drei aus Hamburger Sicht nur bis nach Lüneburg geschafft. Vielleicht 2024 auch mal aufs Elbjazz oder Überjazz in die Hansestadt an der Elbe?
https://greyparis.bandcamp.com/

JOHNNY NOTEBOOK Johnny Notebook and the 28th century (Label: Sounds of Subterrania, VÖ: 20.01.2023)
(jg) Erst kürzlich fragte ich mich, was eigentlich aus DEAN DIRG, dem Prototyp aller Punkrockbands, geworden ist. Ganz klar ist das nicht, aber meine Recherchen ergaben, dass man seit 2019 nicht mehr wirklich aktiv ist. JOHNNY NOTEBOOK belegen jedoch, dass das nicht stimmt. Denn das Synth-Punk-Duo aus Wuppertal und Madrid besteht zur Hälfte aus Restbeständen DEAN DIRGs, außerdem gibt es noch zahlreiche weitere Nachkömmlinge. Und selbst wenn JOHNNY NOTEBOOK mit ihrem Roland TR505 Rhythm Composer und einem 80er Synthesizer von Korg nur noch wenig mit der Instrumentierung einer klassischen Punkband zu tun haben, so ist ihr Songwriting doch sehr ähnlich gestrickt: kurz, knackig und auf den Punkt. Zehn Songs in 20 Minuten, Einflüsse sicherlich auch von DEVO und den frühen ROBOCOP KRAUS. Für Langeweile sind jedenfalls die anderen zuständig.
https://johnnynotebook.bandcamp.com

KEFEIDER – Non tutte le ciambelle escono col buco (Label: Sparty Lyd, VÖ: 05.05.2023)
(so) Okay, ich gebe offen zu, ich habe nicht die geringste Ahnung, wie diese CD mich erreichen konnte. „Non tutte le ciambelle escono col buco“ bietet so ziemlich genau das, was mein Musikgeschmack nicht ist. Wie jemand darauf kommt, das wirklich als „Indie-Pop-Rock“ zu bezeichnen – ich habe keine Ahnung… Für mich ist das, was der Norweger Vetle Løvgaard alias KEFEIDER macht, einfach nur seichte Begleitmusik für irgendein Berliner In-Café. Es wabert, es kriecht und es ist künstelt vor sich hin. Für mich ist da klar: Nein. Das brauche ich nicht. Aber bestimmt irgendwer anders.
https://kefeider.bandcamp.com/album/non-tutte-le-ciambelle-escono-col-buco

KIRA SKOV – My heart is a mountain (Label: Stunt Records, VÖ: 19.05.2023)
(so) KIRA SKOV aus Dänemark hat eine Stimme, die dich sofort an sich reißt und mit Haut und Haaren verschluckt. Zwischen Diva und Vamp, zwischen Hymne und Requiem singt sie ihre Songs, und hier meint Singen nicht nur intonieren, sondern auch interpretieren und mit tiefstem Gefühl versehen. Es bedarf keiner großartigen Tricks und Kniffe, keiner orchestralen Begleitung. Am stärksten ist „My heart is a mountain“, wenn KIRA SKOV einfach ihrer Stimme Raum und Spiel lässt. Sie nutzt den Hintergrund nur als Verstärkung dessen, was eh schon an der Oberfläche erkennbar ist und uns die Hand entgegenstreckt. Denn im Wasser sehen wir unser Spiegelbild, fühlen wir die Texte noch ein bisschen tiefer, da sie das gesamte Spektrum menschlichen Lebens abdecken. Da greift man gerne zu.
https://kiraskov.bandcamp.com/album/my-heart-is-a-mountain

LACODA – Fear no ghost (Label: Motor Entertainment, VÖ: 28.07.2023)
(so) Netter Pop. Kann ich das einfach so stehen lassen, und alle sind zufrieden? Wahrscheinlich nicht. LACODA bieten aber genau das: Netten Pop. Mal süß träufelnd, dann wieder tänzelnd-rhythmisch und die Jugend auf die Tanzfläche lockend. Mich bekommen LACODA damit leider nicht hinter meinem, natürlich kalten, Ofen hervorgelockt. Dafür ist mir das viel zu geradlinig, auch wenn es der Band immer wieder gelingt, auch interessante Versatzstücke zu verarbeiten, so bleibt es doch – mit Ausnahme von „Damsels in distress“ – bei ziemlich gut gemachter Hintergrundmusik, die niemanden allzu sehr stört und so eben weiter vor sich hin träufeln kann. Keine Frage, dass „Fear no ghost“ das Zeug zum Erfolg hat. Nur nicht bei mir.
https://lacoda.bandcamp.com

LAUSCH Love & order (Label: Noise Appeal Records, VÖ: 02.06.2023)
(jg) Ihr vermisst die guten alten Zeiten vor Twitter, TikTok und Co, als Ihr in Baggy Pants und im Holzfällerhemd auf dem Hamburger Berg ein süßes Girlie mit Arschgeweih auf einen Mexikaner einladen und hoffentlich abschleppen konntet? Die Band LAUSCH ganz sicherlich auch, und so vereinen sie Einflüsse von MUSE, INCUBUS, ALICE IN CHAINS und THE MARS VOLTA zu einem fett produzierten Mix aus 90s Rock, Nu Metal, Alternative und etwas Prog. Viel Pathos, nicht nur in der Musik, sondern auch in den Texten, wie bereits der Albumtitel andeutet. Gefühl und Härte müssen nicht im Widerspruch zueinander stehen. „We‘ve been away for centuries. I hope you love me anyway“, heißt es im Opener „Private science fiction“. Ich weiß ja nicht so recht.
https://lausch.bandcamp.com/

LIV WARFIELD – The Edge (Label: Leopard, VÖ: 15.09.2023)
(jg) Der Opener ließ mich noch an die schlimmsten Zeiten des Crossover denken, doch bereits im zweiten Song wird klar, wohin die Reise von LIV WARFIELD eigentlich geht. Hier funkt und groovt es ganz ordentlich, wer da nicht automatisch mitwippt, ist entweder taub oder nicht allzu musikbegeistert. Wen wundert es, war die Sängerin mit der souligen Stimme in der Vergangenheit doch Teil von PRINCEs THE NEW POWER GENERATION. Hinzu kommen auf diesem Album noch Einflüsse aus den Sparten Afrobeats (gut), Pop (naja) und Melodic Rock (hüstel…). So schwankt das Album von Song zu Song ständig zwischen den verschiedenen Stilen und somit leider auch zwischen den Attributen mitreißend und einschläfernd.
https://livwarfieldofficial.com/

MARRIAGE MATERIAL – Enchantment under the sea (Label: Leopard, VÖ: 07.07.2023)
(jg) Wenn Musik allzu abwechslungsreich klingt, wird nicht selten das Kaleidoskop zur Umschreibung herbeizitiert, wie auch im beiliegenden Bandinfo. Doch der Vergleich passt bei MARRIAGE MATERIAL tatsächlich ziemlich gut, da sie mal an die Timm Thaler Hörspiel-Serie von Ariola aus den Achtzigern erinnern, während man im folgenden Stück schon den Gameboy in der Hand zu halten meint. Mal sphärisch entrückt und verträumt, mal nerdy wie MR. BUNGLE oder WEEN, mal wie Garten-Party, mal wie Math Rock. Wenn bloß die progrockartigen Gitarrensoli nicht wären… Aber alle Geschmäcker kann man bekanntlich ja nie zufrieden stellen. Das Wichtigste an dieser Band kurz zusammengefasst: Hier hat definitiv jemand Spaß am Musizieren – je eigenwilliger und einzigartiger, umso besser!
https://marriagematerial.de/

PLATTENBAU – Net Prophet (Label: Dedstrange, VÖ: 08.09.2003)
(so) Hui, das ist verstörend. Der Opener von „Net Prophet“ – „Lichtenberg Monologue“ – klingt so dystopisch, als wäre er der Matrix entsprungen. PLATTENBAU machen dann aber mit wirklich kaltem Coldwave weiter, der mal an ALIEN SEX FIEND, dann wieder an PSYCHIC TV oder auch mal THE CULT, immer aber an düstere 80er Jahre Gothic-Clubs erinnert, in denen es zwei Schritte vor und zwei zurück heißt. Wir stehen am Rande des Abgrunds der menschlichen Rasse, das Klima sowie die Menschen drehen durch, und PLATTENBAU liefern den perfekten Soundtrack dafür.
https://plattenbau.bandcamp.com

SAM BURTON – Dear departed (Label: Partisan, VÖ: 14.07.2023)
(so) Vom Staub der langen Straße belegter Folk klingt uns auf „Dear departed“ entgegen, zurückhaltend und intensiv vorgetragen von SAM BURTON aus Utah, der möglicherweise in seiner Jugend (oder auch noch heute?) ein bisschen viel NICK DRAKE, ROY ORBISON oder auch LEONARD COHEN gehört hat. Denn all diese Einflüsse haben das getan, wofür sie da sind, sie sind in das Album eingeflossen und unschwer erkennbar. Die tragische Ebene eines NICK DRAKE, das Hymnische eines LEONARD COHEN, aber auch der folkig-countryeske Hauch eines ROY ORBISON lassen sich erspüren und erhören. Von Zeit zu Zeit wird ein bisschen zu tief in die Streicherkiste gegriffen, aber das passt andererseits auch wieder ganz gut ins Gesamtbild. SAM BURTON ist ein interessantes, weil anderes, Folk-Country-Album gelungen.
https://samburton.bandcamp.com/album/dear-departed

SCOTT HEPPLE AND THE SUN BAND – Ashes to flowers (Eigenvertrieb, VÖ: 22.09.2023)
(bc) Es ist schon irgendwie eine Art stilistischer Spagat, den SCOTT HEPPLE AND THE SUN BAND hier hinlegen, denn die Formation aus Newcastle zählt NEIL YOUNG ebenso zu ihren Einflüssen wie THE BEATLES und BLACK SABBATH. Auf jeden Fall klingt „Ashes to flowers“ schwer nach Psychedelic Rock, etwas Pop und generell den 60er und 70er Jahren. Aufgenommen wurde das Album übrigens von niemand Geringerem als Duncan Lloyd, der vor allem als kreativer Kopf von MAXIMO PARK bekannt ist.
https://scottheppleandthesunband.bandcamp.com

TAYFUN GUTTSTADT – Tarapzade (Label: Good & Lovely Records, VÖ: 08.09.2023)
(jg) Nicht erst auf dem diesjährigen Reeperbahn-Festival hat man gesehen, dass ein aktueller musikalischer Trend in Richtung World Music geht (LA NEFERA, LIRAZ, ALTIN GÜN, ESFAND, ETRAN DE L’AIR, …). Auf diesem Album verbindet der Wahlberliner TAYFIN GUTTSTADT die orientalische Musik seiner Heimat mit westeuropäischen Trap- und HipHop-Beats, oder anders ausgedrückt, Tradition mit der Moderne. Die Verbindung dieser beiden Gegensätze gelingt dem ausgebildeten Musiker bereits auf seinem Debütalbum ausgesprochen gut, selbst wenn er meinen persönlichen Geschmack damit nicht trifft.
https://www.tayfunguttstadt.com/

THE MOTH – Frost (Label: Exile On Mainstream, VÖ: 22.09.2023)
(jg) Die Selbstbeschreibung „KIM WILDE meets BOLT THROWER“ ist natürlich grandios. Selbst wenn KIM WILDE überhaupt nicht stimmt und THE MOTH in ihren melodischsten Momenten maximal an MOTÖRHEAD oder die frühen SCUMBUCKET erinnern, als letztere noch keinen BEATLES-artigen Pop machten. Hauptsächlich sind die drei HamburgerInnen wohl doch im spröden Thrash-/Sludge-Metal zu Hause, und dass es hier nicht gerade seicht zugeht, drückt auch der raue Albumtitel „Frost“ aus. Ihr erstes Album auf Exile On Mainstream (nach drei vorherigen Alben auf This Charming Man) wurde in gerade einmal 24 Stunden live eingespielt und abgemischt, was man der etwas rumpeligen Produktion doch anhört. Passt zu THE MOTH aber wahrscheinlich letztendlich eh am besten.
https://the-moth.bandcamp.com/

THE POISON ARROWS Crime and soda (Label: Solid Brass Records, VÖ: 16.06.2023)
(jg) Musik zwischen Dischord Records, Postcore, Touch And Go, altem Indierock und Noise ist genau meine Baustelle. Auch THE POISON ARROWS bewegen sich inmitten dieser Eckpfeiler und verstehen einen gekonnten Spannungsaufbau. Was mir hier aber leider fehlt, ist eine gute Auflösung. Ein harmonischer Teil, in dem die Sonne aufgeht oder auch eine brachiale Explosion, in der das Publikum grölend hochspringt. Ganz so, wie es Bands wie MEDICATIONS oder VAN URST perfekt beherrschen. Ein bisschen schade ist das schon, immerhin handelt es sich bei „Crime and soda“ um ihr fünftes Album, und auch die vorherigen Bands lesen sich alles andere als schlecht (ATOMBOMBPOCKETKNIFE, DON CABALLERO).
https://thepoisonarrows.bandcamp.com

Simon-Dominik Otte

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