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COTOBA - photo by: Jens Gerdes

Reeperbahn-Festival 2023 (Hamburg)

Vier Tage Reeperbahn-Festival liegen hinter uns – und einige Wochen Vorbereitung. Wir haben in mehr als 400 Bands reingehört, die in den letzten Tagen an die 50 verschiedene Locations rund um den Kiez bespielt haben. Die Füße sind wundgelaufen, die Ohren piepen und wir liegen erschöpft auf dem Bett. Heute Abend hätte es in Hamburg optional noch die 11Freunde Lesereise oder ein Konzert von 65DAYSOFSTATIC gegeben. Prinzipiell zwei gute Veranstaltungen, aber heute geht wirklich nicht mehr viel.
Also machen wir uns an die Zusammenfassung der letzten vier Tage. Welche Bands galt es zu entdecken, was haben wir verpasst? Was hätte man sich sparen können, und was waren unsere absoluten Highlights? Hier unser Fazit.

DIE HIGHLIGHTS:

EGYPTIAN BLUE – photo by: Jens Gerdes

Meine größte Neuentdeckung auf dem diesjährigen Reeperbahn-Festival waren EGYPTIAN BLUE aus Brighton. Sie spielten zu später Stunde in der Nacht von Freitag auf Samstag im Backyard des Molotow. Allzu viele Leute dürften sie vor dem Gig noch nicht gekannt haben, schließlich haben die Jungs ihr Debütalbum noch gar nicht veröffentlicht. Doch das hielt die anwesenden Zuschauer nicht allzu lange davon ab, ihr Tanzbein zu schwingen. Allzu einladend waren die schneidenden Gitarrenriffs und die dynamischen Drums, die sich irgendwo in der Schnittmenge der alten FOALS, THE LOUNGE SOCIETY, FONTAINES D.C. und RADIO 4 bewegen. Als ich nach ihrem Konzert im verschwitztem Shirt nach Merchandise fragte, sagte Sänger und Gitarrist Andy Buss zu mir, dass es sich bei einem Flug aus England nicht gelohnt hätte, dies mitzuschleppen. Man könne das im Oktober erscheinende Album aber bereits vorbestellen. Schon erledigt!

ANNAHSTASIA – photo by: Jens Gerdes

Nicht weniger eindrücklich, aber musikalisch vollkommen anders war der Auftritt von ANNAHSTASIA im Imperial Theater. Auch wenn es hier stilistisch ebenfalls um Soul/R’n’B ging, ist die Singer/Songwriterin mit dem sanften Timbre und dem leisen Gitarrenspiel nicht mit der Poptrulla aus den Charts zu verwechseln. Sehr reduziert und gefühlvoll gestaltet sich ihre Musik, ganz so als ob man die Ohren von innen mit einer Feder streicheln würde. Dabei beeindruckte die Singer/Songwriterin aus L.A. schon optisch, bevor die ersten Töne überhaupt erklangen. Klobige Schnürstiefel kombiniert mit einem bestickten Rock, ein Nadelstreifen-Jackett mit weißen Spitzenstrümpfe – Grenzen dienen dazu, überschritten zu werden. Übrigens wollten ihre Eltern sie gerne als Anwältin oder Ärztin sehen. Gut, dass dieser Plan nicht aufging.

DEATHCRASH – photo by: Jens Gerdes

Ein weiteres Highlight: DEATHCRASH aus London. Die zugleich den Beweis antraten, dass Musik gar nicht neu erfunden werden muss. Man nehme einfach das Beste von Bands wie MOGWAI und GIARDINI DI MIRÒ, kombiniere dies mit MOTORPSYCHO in ihren Anfangstagen, als die Norweger noch mehr im Indiefolk verwurzelt waren und mit Laut-/Leise-Effekten anstatt mit ausgetüfteltem Prog-Rock arbeiteten. Wer mit Lo-Fi etwas anfangen kann, ist bei DEATHCRASH auf jeden Fall genau richtig. Bei den lauten Parts wechselte der Gesang übrigens vom Gitarristen zum Schlagzeuger, der lieber schrie als sang. Ging an diesem Abend vollkommen auf!

DEADLETTER – photo by: Jens Gerdes

Direkt im Anschluss daran mit DEADLETTER eine weitere Neuentdeckung in der Sky Bar, ebenfalls aus London. Man mag ja durchaus feststellen, dass Postpunk wieder groß im Kommen ist, sich inzwischen vielleicht schon selbst überholt hat, aber wenn man solch energische Jungspunde wie DEADLETTER vor sich hat, die JOY DIVISION mit ROCKET FROM THE CRYPT kombinieren, fünf Jungs im Unterhemd, ein Mädel mit Saxophon und Temperaturen wie in einer finnischen Sauna, ist einem das völlig egal. Vor einem Jahr entdeckten wir im Molotow OPUS KINK und waren ganz begeistert. In dieselbe Sparte fallen auch DEADLETTER. Zuletzt durften sie die großen PLACEBO supporten. Wenn sie denen mal nicht die Show gestohlen haben…   

ICHIKO AOBA – photo by: Björn Buddenbohm

Ein Geheimtipp der besonderen Art dürfte sicherlich ICHIKO AOBA gewesen sein, deren Musik sich für westliche Hörgewohnheiten grundlegend unterscheidet. Auf ihren Alben erbaut die Multiinstrumentalistin eine ganze Klanglandschaft, aber da sie im Gruenspan alleine auftrat, gab es heute nur ihre elfenhafte Stimme in Kombination mit einer Akustikgitarre oder einem Keyboard zu hören. Doch ICHIKO AOBA zupft nicht nur ein wenig an ihrer Gitarre herum, sie hat jahrelang klassischen Gitarrenunterricht genossen und kombiniert dabei in ihrer Musik so viele verschiedene Stile, dass es die reinste Freude ist. Im drittletzten Stück, dem zwölfminütigen „Kikaijikake no uchuu“, kam ihre gesamte Virtuosität zum Vorschein, und das Publikum quittierte dies mit minutenlangem Applaus. Nicht ohne Grund räumte die Japanerin auch den diesjährigen „Anchor Award“ ab. 

BIG SPECIAL – photo by: Jens Gerdes

Ganz ohne Gitarre geht es aber auch, wie BIG SPECIAL im Karatekeller bewiesen. Sie selbst bezeichnen ihre Musik als Mischung aus Punk und HipHop, aber auch Folk und Blues. An anderer Stelle wurden die beiden Briten mit TOM WAITS und SLEAFORD MODS verglichen, was sie selbst als Ehre empfanden. Während Callum Moloney das Schlagzeug, Elektro-Pads und Samples bediente, wechselte Joe Hicklin seinen Gesang stilistisch zwischen Spoken Words, Fußballgesängen, Raps und kirchenchorartigem Barriton. Ihr Auftritt auf dem Reeperbahn-Festival war ihr erster Gig in Deutschland – im engen Karatekeller war die Stimmung natürlich großartig. Sie selbst sprachen anschließend von einem Auftritt „in einer Dose mit hübschen, verschwitzten Sardinen. Diesen Gig werden wir nie vergessen!“ Geht uns genauso!

LOUPE – photo by: Jens Gerdes

Zu guter Letzt müssen wir noch auf LOUPE aus Amsterdam hinweisen. Genaugenommen handelt es sich bei den Niederländerinnen gar nicht mehr um Newcomer, schließlich traten sie bereits 2017 auf dem Reeperbahn-Festival auf – damals allerdings noch unter dem Namen DAKOTA und mit einer anderen Sängerin. Inzwischen haben sie als LOUPE ihr Debütalbum veröffentlicht, bis kurz vor der Tour erneut ihre Sängerin ausstieg. Doch auch diesmal haben sie einen Ersatz finden können, und erfreulicherweise ähnelt sich der Gesang frappierend. 2023 durften sie auf dem Reeperbahn-Festival gleich zweimal auftreten – nachmittags im Molotow Backyard, abends im Headcrash. Wir entschieden uns für den Nachmittagsgig, und bereits hier war die Stimmung fantastisch. Wer die Band noch nicht kennt: melodischer Indie im Stil von WARPAINT und FOALS, sommerlich leicht und verträumt, aber keineswegs belanglos. Schaut sie Euch an!

AUCH GUT:

… war zum Beispiel CAM KAHIN, der das Festival auf der fritz kola-Bühne eröffnete. Er spielte später noch zweimal im Molotow (einmal Backyard, einmal Sky Bar), wo er mit einer Schnittmenge aus MUSE, VIAGRA BOYS, den lauten NIRVANA und LA DISPUTE durchaus gut aufgehoben gewesen sein dürfte. Kleiner Fun Fact am Rande: Im Publikum haben wir die Hamburger Musikerin DEAR ANNA gesehen, die auf selbiger Bühne vor einem Jahr das Reeperbahnfestival eröffnete. Diesmal als Zuschauerin.

Außerdem mochten wir MICHIGANDER, der den Indierock zwar nicht neu erfindet, mit seinen melodischen Songs aber durchaus bereichert. Ein bisschen TOKYO POLICE CLUB habe ich hier herausgehört, außerdem etwas WOMBATS und TWO DOOR CINEMA CLUB. Dazu eine Stimme wie von John Bramwell – was braucht es mehr?

ALOIS – photo by: Jens Gerdes

Auf der Spielbude XL haben uns gleich zwei Bands ziemlich gefallen. Zum einen ALOIS aus Zürich, deren Bandname zwar an klassische Volksmusik aus den Alpen denken lassen mag, die musikalisch aber herrlichen 70s Funk mit Retrotouch vermitteln konnten. Das klang sommerlich leicht und tanzbar – wer PARCELS mag, sollte auch mal ALOIS checken! Die andere gute Band kam aus dem fernen Südkorea und nennt sich COTOBA. Stilistisch boten sie musikalisch anspruchsvollen Math Rock, der aber durch zugänglichen Emopop aufgelockert wurde. Dazu wurde mächtig herumgepost – aber eher mit einem Augenzwinkern als voller bitterem Ernst. Kam nicht nur bei uns gut an!

GIRL SCOUT – photo by: Jens Gerdes

Zwei weitere nette Bands, die wir hier nicht unerwähnt lassen wollen, sind BLUSH ALWAYS aus Leipzig und GIRL SCOUT. Erstere haben just ihr Debütalbum veröffentlicht, letztere stammen aus Stockholm und bringen es bislang erst auf diverse Singles und eine EP. Musikalisch scheinen aber beide im guten alten Indierock der 2000er verhaftet zu sein, mit ein paar WEEZER-artigen Einflüssen. Steht uns hier etwa ein kleines College-Rock-Revival bevor? We’ll see!!

MADDIE ZAHM – photo by: Jens Gerdes

Wer auf schöne Stimmen steht, sollte sich auch mal mit MADDIE ZAHM befassen, die es nach ihrer Kindheit in Idaho nach Los Angeles verschlagen hat. Zuvor hat sie sich im Country versucht, als der Erfolg ausblieb, switchte sie in Richtung Singer/Songwriterin um. Für meinen persönlichen Geschmack zwar etwas zu poppig, aber ihre kräftige Stimme ist schon beeindruckend. Eine ebenfalls sehr markante Stimme begegnete uns am Donnerstag Abend im Imperial Theater mit KARA JACKSON. Was sich an diesem Abend als rauchige Stimme mit Akustikgitarre präsentierte, offeriert auf den Debütalbum auch songwriterisch die ganz große Schule zwischen Kammerpop, Dark Noir, Folk und dem Gespür für gute Melodien. Tipp!

Kurz vor Ende des Festivals entdeckten wir im Kaiserkeller neben der Großen Freiheit noch BARTEES STRANGE, der, so könnte ich es mir jedenfalls gut vorstellen, seine Wurzeln im R’n’B und Soul haben dürfte, mit der Zeit aber festgestellt hat, dass er auch mit original Blues und impulsiven Rock etwas anfangen kann und das Publikum an diesem Abend sofort in seinen Bann zog. Man, war die Stimmung hier gut. Bis er in einem Song plötzlich unter Beweis stellte, dass er genauso gut rappen kann. Inzwischen habe ich noch in Erfahrung gebracht, dass er auch schon in einer Post-Hardcore-Band gespielt hat. Ich glaube mittlerweile, dass der Brite einfach jeden Stil bedienen kann, auf den er gerade Lust hat.

NU GENEA – photo by: Jens Gerdes

Zu guter Letzt möchten wir noch auf zwei Bands hinweisen, die jeweils als letzter Act erst weit nach Mitternacht auftreten durften und die wir deshalb aus Erschöpfungsgründen nur für ein paar Songs gucken konnten: BALA DESEJO haben in Brasilien schon diverse Preise abgeräumt und brachten die Avantgarde-Musik der 70er erfolgreich von Südamerika zu uns. Ähnlich gelang es auch NU GENEA, das Feeling in Neapel vor rund 50 Jahren in die Gegenwart nach Hamburg zu transportieren. Disco, Funk, Italopop und Folk – alles mit dabei bei diesem achtköpfigen Ensemble. Gute Stimmung inklusive!

KUNST:

Auch wenn unser Fokus in diesem Jahr ganz klar auf der Musik lag, gab es auf dem Reeperbahn-Festival auch wieder zahlreiche gute Talkrunden, Podcasts, Filme und Kunstaktivitäten zu sehen. Toll fanden wir zum Beispiel den Kunst-Imbiss, eine Art Imbissbude für Kultur. Hier wurden in einem engen Imbisswagen kleine Kunstwerke von bis zu hundert verschiedenen Künstlern und Künstlerinnen ausgestellt. Aus einem Menü konnte man auswählen, welche Kunstwerke in einem Setzkasten präsentiert werden sollten und welche nicht. Diese Selektion stellte zugleich recht simpel dar, vor welchen Problemen NachwuchskünstlerInnen stehen, wenn sie in Galerien ausstellen wollen.

„Rote Karte, tot.“ – inspired by: Reiner Rümke

Besonders erwähnenswert empfanden wir außerdem die Homeless Gallery, eine gemeinsame Kunstaktion der Hamburger Kunsthalle und des Straßenmagazins „Hinz & Kunzt“ unter Zuhilfenahme von Künstlicher Intelligenz. Anlässlich des 30. Geburtstag von Hinz&Kunzt wurden in Zusammenarbeit Kunstwerke geschaffen, die die individuellen Lebensgeschichten der Obdachlosen darstellen und in Kunst übersetzen. Straßenverkäufer Rainer erzählte uns zu seinem Bild, auf dem ein Skelett mit einer roten Karte in der Hand zu sehen ist. Der Totenkopf solle den FC St. Pauli darstellen, von dem er seit Jahrzehnten Fan ist, die rote Karte gelte den Politikern, die zu wenig für Obdachlose tun.
Insgesamt 30 Kunstwerke wurden so geschaffen, die am 22. November 2023 in einer wohltätigen Auktion versteigert werden sollen. Mehr Informationen erhaltet Ihr unter: https://homeless-gallery.com

LEGENDEN:

THE PRETENDERS standen gar nicht auf unserer Liste der absoluten Must-Sees des diesjährigen Reeperbahn-Festivals, aber manchmal entscheidet auch der Lageplan darüber, wen man als nächstes sieht. Ich muss sogar gestehen, nicht viel mehr Songs als ihre größten Hits “Don’t get me wrong“ und „I’ll stand by you“ zu kennen. Doch wir wurden positiv überrascht. Zum einen bewegten sich THE PRETENDERS stilistisch viel mehr im New Wave und Rock’n’Roll als in der populären 80er-Sparte, in der wir sie vermuteten. Zum anderen hat Chrissie Hynde noch heute eine unglaublich gute Stimme, die vielmehr wie die einer Zwanzigjährigen klang als wie die der Ü70-Generation, der sie mittlerweile ja schon angehört. Definitiv eine unserer Überraschungen des diesjährigen Festivals.

Auch BILLY BRAGG hatten wir beide noch nie live gesehen, selbst wenn der britische Folkrocker eine nicht selten genutzte Referenz bei Blueprint darstellt. Dass der Mann etwas zu sagen hat, sich für die Working Class und Unterprivilegierten einsetzt und sonstige soziale Missstände anprangert, war uns schon vorher klar. Dass sich ein Konzertabend von BILLY BRAGG aber zu gleichen Teilen in Gespräche, Entertainment und Live-Songs aufteilt, war dann doch ein wenig überraschend. In den Ankündigungen zu den diesjährigen Reeperbahn-Festival-Artists tauchte immer wieder der Begriff „Empowerment“ auf. Wer aber wissen möchte, wie dieser Begriff überzeugend mit Inhalt gefüllt wird, sollte definitiv mal bei BILLY BRAGG vorbeischauen!

BLOOD RED SHOES – photo by: Lidija Delovska

Ja, auch die BLOOD RED SHOES kann man inzwischen schon bei den „Legenden“ einsortieren, immerhin liegt ihre Bandgründung mittlerweile schon fast 20 Jahre zurück. Ihre größte Karriere hatten sie Ende der 2000er mit Hits wie „I wish I was someone better“ und „You bring me down“. Man hat eigentlich auch gar nicht den Eindruck, dass Laura-Mary Carter und Steven Ansell irgendwie gealtert sind. Und trotzdem beschlich uns das ungute Gefühl, dass ihr auf einen bombastischen Sound setzende Alternative Rock inzwischen ein wenig antiquiert wirkt. Gut möglich, dass die Lautstärke im großen Gruenspan entscheidend dazu beitrug. Die Location war aber keinesfalls falsch gebucht – wir tippen auf eine nahezu volle Auslastung. Doch irgendwie wollte sich die Begeisterung von 2007, als sie zusammen mit THE WOMBATS noch im Molotow spielten, heute nicht bei uns einstellen.

Wen wir (vor allem im Nachhinein) noch gerne gesehen hätten, wären THE HIVES. Auch hier sorgten wir uns darum, dass sich die Begeisterung von früher nicht mehr einstellen könnte. Was war das damals aber auch bitte für ein Programm, als sie anno 2000 zusammen mit THE (INTERNATIONAL) NOISE CONSPIRACY und MONSTER im alten, engen Molotowkeller auftraten? Doch die Freunde, die in diesem Jahr dabei waren, zeigten sich alle ziemlich begeistert. Die Schweden sollen noch immer rocken wie damals, und Pelle wie ein Rohrspatz über die aktuellen Strategien der Musikindustrie schimpfen. Schade, klingt unterhaltsam!

LEIDER VERPASST:

… haben wir außerdem noch einige weitere Bands, die wir gerne gesehen hätten. Aber bei mehr als 400 Bands an vier Tagen lässt sich dies leider nicht vermeiden. Hier eine kleine Übersicht über weitere spannende Acts:

THIS IS THE KIT aka Kate Stables spielte leider gleichzeitig mit THE PRETENDERS und BARTEES STRANGE im Michel. Eine ungewöhnliche Location für eine vergleichsweise unbekannte Singer/Songwriterin aus England, die manchmal solo und manchmal mit Backing Band auftritt. Insbesondere mit Begleitband gefällt mir Kate ziemlich gut, weil das Songwriting hier noch ausgefeilter ist als solo.

Ebenfalls gerne gesehen hätten wir TERRY UYURAK, einen inuitischen Singer/Songwriter, der sich jenseits des Polarkreises das Gitarrespielen selbst beigebracht hat und nun mit warmer Stimme und folkiger Instrumentierung sein Publikum verzaubert. In seinen Videos saust er mit Huskies durch Schneelandschaften oder klimpert bei Kerzenschein im Norwegerpulli auf seiner Akustischen. Wem dabei nicht automatisch das Herz aufgeht und Erinnerungen an Bands wie SIGUR RÓS und MÚM in den Sinn kommen, kann auch ED SHEERAN hören…

Spannend gewesen wären sicherlich auch THE VICES aus Groningen, die sich vor vier Jahren zusammengetan haben, wie eine Reinkarnation der STROKES klingen und an anderer Stelle an FRANZ FERDINAND erinnern. Nicht die schlechtesten Voraussetzungen, um auch in Hamburg das Publikum in Tanzlaune zu versetzen. Von den VICES wird man sicherlich auch in der Zukunft noch mehr hören.  

Vorgeschwärmt wurde uns auch von der iranisch-israelischen Sängerin LIRAZ, die im Mojo die Einflüsse persischer Popmusik mit 70s Psychedelic vermischte und zugleich eine wichtige Ikone im Aufbegehren der iranischen Frauen gegen das Mullah-Regime darstellt.  

Zu guter Letzt hätten wir gerne noch kurz bei den CIRCA WAVES vorbeigeschaut, deren Debütalbum vor acht Jahren in der britischen Presse in den höchsten Tönen gelobt wurde. Was bei britischen Bands zwar nicht ungewöhnlich ist, aber auch der Erfolg gab ihnen Recht – alle fünf bisher veröffentlichten Alben landeten in den UK Charts mindestens auf Platz 15. Zwar erhielt das letzte Album hierzulande recht vernichtende Kritiken (zu überschwänglich, belanglos, mainstreamig, von den Großen kopiert), aber fehlende Eingängigkeit und Tanzbarkeit kann man den Liverpoolern definitiv nicht vorwerfen. Doch leider mussten ihre drei Konzerte recht kurzfristig abgesagt werden – Sänger krank.

NICHT SO DOLLE:

Voller Erwartungen gingen wir am Donnerstag weit nach Mitternacht zu VANITY MIRROR in die Nochtwache und verpassten dafür bewusst die letzte Bahn. Doch was sich im Vorfeld wie eine Fortsetzung der besten Phase der BEATLES anhörte, wirkte live fast wie eine Parodie derselben. Auch optisch sah das Ganze mehr nach Schlagermove als nach einer ernsthaften Band aus. Dass das Schlagzeug zudem nicht knackig auf den Punkt und die Gitarre auch nur mäßig gestimmt war, ließ weniger an die Fab Four als an eine mittelmäßige Coverband der Liverpooler denken. Schade.  

ELLEVATOR – photo by: Jens Gerdes

Auch nicht wirklich bei uns punkten konnten ELLEVATOR aus Ontario, Kanada. Selbst wenn die formvollendete Vokuhila-Frisur des Gitarristen, der perfekt gestutzte Schnuri ihres Keyboarder/Bassisten und die Axl Rose-artige Mähne der Sängerin bereits große Erwartungen bei uns weckten, plätscherte ihr glatter 80s-Dreampop doch recht unaufgeregt durch unsere Ohren.

Ach ja, da es in diesem Jahr keinen Print-Zeitplan mehr gab, hörte ich auch bei der App/Homepage des Reeperbahn-Festivals so manche kritische Anregung. Die Locations auf dem Timetable ziemlich unsortiert (eine räumliche oder alphabetische Sortierung wäre sicherlich sinnvoll gewesen), zudem musste man auf dem Zeitplan viel herumscrollen, bis man endlich beim aktuellen Zeitpunkt war. Für „neue Acts“ durfte man sich bis zum Ende der Bandliste vortasten (umgekehrt wäre sicherlich sinnvoller gewesen), zudem schien die App nicht ganz fehlerfrei zu laufen, so dass ab und an ein Neustart erforderlich war. Aber immerhin funktionierte die Info über die Auslastung der Clubs insgesamt doch ganz gut, zudem war das Heiligengeistfeld (aka „Festival Village“) von der Raumaufteilung wesentlich besser und schlüssiger gestaltet als in den Jahren davor. Außerdem fanden wir gut, dass der größte Teil des Festival Villages und der Spielbudenplatz auch für festivalinteressierte Menschen ohne Eintrittskarte offenstand. Das bescherte den dort auftretenden Bands wesentlich mehr Publikum und entsprechend eine bessere Stimmung. Auch an der Orga und dem Service-Personal hörte ich keinerlei Beanstandungen. Insofern überwiegt am Ende doch ganz klar die Vorfreude auf das Reeperbahn-Festival 2024. Falls Ihr bisher noch nicht dabei wart: kommt vorbei – es lohnt sich!