Ich bin ja selbst Schuld.
Habe ich mich doch freiwillig für die JOCHEN DISTELMEYER-Rezension gemeldet!
Dem Helden vergangener Tage. Dem Idol bis mindestens 1999, als Mastermind der Hamburger Band BLUMFELD. Danach habe ich wie viele andere auch: gekündigt. Dafür wurden andere Hörer gewonnen. Die alternden und neuen Fans trafen sich dann 2014 bei der „25 Jahre L`Etat Et Moi“-Tour. Die einen skandierten „Jetset“, die anderen „Apfelmann“.
2009 erschien JOCHEN DISTELMEYERS erstes Soloalbum „Heavy“.
JOCHEN DISTELMEYER schreibt zu diesem Album auf seiner Homepage, dass er mit Liedern wie „Einfach so“, „Bleiben oder gehen“, „Hiob“ oder „Nur mit Dir“ „den Zusammenhang zwischen den WTC-Attentaten vom 11. September, einem Trauma, das in Serie ging, der globalen Finanzkrise und dem Auflösen tradierter Wertvorstellungen beschreiben“ wollte. Sorry, da kann ich nur kapitulieren. Ich raffe es nicht, kann den Zusammenhang zwischen Musik, Text und Bedeutung nicht herstellen.
Nun also das neue Soloalbum „Songs from the bottom Vol.1“, erschienen bei Four Music. Das Akustik-Coveralbum mit zwölf englischsprachigen Liedern über Liebe und Vergänglichkeit hört sich gut an. Vor allem, weil Jochens markante Stimme immer noch Jochens markante Stimme ist. Die Songauswahl ist auf ihre Weise sperrig: von LANA DEL REYS „Video Games“, über PETE SEEGERS „Turnturnturn“ bis zu RADIOHEADS „Pyramid song“. Das Ganze auf Deutsch wäre hier und da wieder die seit „Heavy“ bekannte distelmeyersche Variation von Post-Punk in leichter Sprache (auch Schlager genannt). Aber nicht immer. Zum Beispiel das Cover des Clubhits „I could be the one“ von AVICII VS. NICKY ROMERO. Hier treffen Popkulturen aufeinander, die komplexer sind als „Schlagermusik“. Der Text des Originals ist, frei übersetzt, gar nicht so deep: „Ich könnte die eine sein, die dir das Gefühl gibt. Ich könnte die eine sein, die dich befreit“. Im Original und auch in JOCHEN DISTELMEYERS Cover werden diese Zeilen geschätzte 32x wiederholt. Aber bereits das Original des schwedischen DJs, so offenbart es sich in der audiovisuellen Umsetzung des offiziellen Musikvideos, kokettiert mit haufenweise Ironie. JOCHEN DISTELMEYER verleiht dem Song mit seinen eigenen stilistischen Mitteln die nötige Schwere und auch Traurigkeit. Mit komplexitätsverdrängendem Schlager hat das nichts zu tun.
JOCHEN DISTELMEYER ist wieder zu einem der interessantesten deutschen Künstler geworden – genreübergreifend, wenn man auch sein Romandebüt „OTIS“ im Rowohlt-Verlag berücksichtigt. Es soll Menschen geben, die sich zum „OTISrezitieren“ treffen. Dabei ist der Spannungsbogen in dem Moment am höchsten, in dem der Protagonist einen Bus auf dem Weg zum Flughafen verpasst (!). Live-Interpretationen während der Lesereise waren angeblich der Grund für das vorliegende Album.
Wer Lust auf untypische Akustik-Interpretationen hat (zum Teil aus der BRAVO-HITS Kategorie), dem wird „Songs of the bottom Vol.1“ sehr gut gefallen. BLUMFELD-Fans, die vor Jahren gekündigt haben, werden zum erneuten Vorstellungsgespräch geladen.