Gleich mal eins vorweg – das war eines dieser Konzerte, die einen total euphorisiert und völlig aufgewühlt zurücklassen. Zu schade nur, dass solche Konzerte irgendwie nicht greifbar sind. Schon kurz danach versucht man, sich akribisch all die kleinen Details ins Gedächtnis zu rufen, um dieses Ereignis irgendwie festzuhalten. Aber am Ende wird nur ein Eindruck bleiben. Nämlich, dass das hier ganz fantastisch war, während man bei anderen Konzerten mitunter schon mal vergisst, dass man überhaupt da war.
Bei BROKEN SOCIAL SCENE kann man ja nie ganz sicher sein, wer auf der Bühne stehen wird, was der Tatsache geschuldet ist, dass es sich hier um ein loses Kollektiv mit einer unüberschaubaren wechselnden Schar an Musikern handelt, die allesamt auch noch in anderen Bands spielen. Aber bevor ich dazu komme, müssen noch ein paar Worte über die Vorband verloren werden. Vorbands sind ja per se eine kritische Angelegenheit und oft unumgehbares Übel. THE MOST SERENE REPUBLIC sind jedoch bei Arts&Crafts – Qualitätsmerkmal genug – beheimatet und somit Labelkollegen von BROKEN SOCIAL SCENE. Das ließ hoffen, und in der Tat, man wurde nicht enttäuscht. Ganz im Gegenteil. Vergesst all die anderen Hype-Bands aus Kanada – die hier sind besser! Das Sextett mit Dame (an der Gitarre) um Rotschopf Adrian Jewett fackelt ein ganz großes Feuerwerk ab. Musikalisch in der Vielfältigkeit und Melodienseligkeit durchaus mit BROKEN SOCIAL SCENE und ARCADE FIRE zu vergleichen. Ein Album gibt es gerade mal, „Underwater cinematographer“, etwas früher in diesem Jahr erschienen. Auf der Bühne geht einiges. Adrian Jewett, an diesem Abend optisch in etwa ein BEATLE zu „Sgt. Pepper“-Zeiten, nur nicht ganz so bunt, verbiegt und verbeugt sich, stößt immer wieder mit seinen Mitmusikern zusammen, hat sichtlich Spaß und wird gesanglich recht wirkungsvoll von Emma Ditchburn unterstützt. Da wurde aber ganz fix in der Umbaupause der Merch-Stand aufgesucht und das Album gekauft. So schnell hat mich selten eine Band überzeugt!
Bei bester Laune fanden sich auch BROKEN SOCIAL SCENE. Zu Kevin Drew, Brendan Canning, Charles Spearin, Justin Peroff und Andrew Whiteman (APOSTLE OF HUSTLE), sozusagen dem Kern der Band, gesellten sich diesmal noch John Crossingham (RAISE THE FAWN), Ohad Benchetrit (DO MAKE SAY THINK) und Violinistin Julie Penner. Aushilfsweise an Posaune, Schlagwerk und Synthesizer waren auch wieder Teile von THE MOST SERENE REPUBLIC auf der Bühne. Das scheint irgendwie so üblich zu sein bei BROKEN SOCIAL SCENE, sämtliche verfügbare Musiker in die eigene Show mit einzubinden. Von den drei Damen, die auf „Broken social scene“ zu hören sind, hatte jedoch diesmal offenbar keine Zeit. Amy Millan, genauso wie Evan Cranley, die bei der letzten Tour dabei waren, sind zur Zeit mit ihrer Band STARS voll beschäftigt. FEIST scheint ebenfalls an ihrer Solokarriere zu werkeln. Und Emily Haines vertreibt sich ihre Zeit mit METRIC. Dafür gab es Lisa Lobsinger, ein noch weitgehend unbeschriebenes Blatt und erst seit kurzer Zeit bei BROKEN SOCIAL SCENE. Eine umwerfende Stimme! Und eine äußerst interessante Frisurenkonstruktion. Ob die dafür Hilfe braucht? Oder kriegt die das alleine so hin? Wie auch immer, je nach Bedarf schwebte (ohne Scheiß!) Lisa auf die Bühne und übte sich in aufgesetzter Unnahbarkeit. Wie NICO, bemerkte jemand in den Reihen neben mir. Das mit der Unnahbarkeit hat sie in letzter Konsequenz aber doch nicht durchgehalten. Bei der Zugabe kletterte sie von der Bühne hinab, um im Publikum zu tanzen. Wenn ich mal ehrlich bin, konnte Amy Millan da allerdings mehr überzeugen als female vocal part.
Es gab zu gleichen Teilen Songs vom Vorgänger „You forgot it in people“ und dem neuen selbstbetitelten Album, komplementiert durch den einen oder anderen Song von „Bee hives“. Die kleinen Indie-Hits „Almost crimes“ und „Cause=time“ waren dabei, genauso wie das atemlose „Anthems for a seventeen year old girl“ und das wunderbare „Shampoo suicide“. „Major label debut“ gab es in der schnellen Version, wie sie auch auf der Bonus-CD der Limited Edition zu finden ist. Das wahnwitzige „Superconnected“ wurde dagegen runtergeschraubt. Man erwartete letztlich die ganze Zeit den Ausbruch – der kam aber nicht. Eigentlich fehlte nur noch „It’s all gonna break“. Dafür gab es aber eine nicht vorgesehene Extra-Zugabe. Es wurde Tee getrunken und gerne auch barfuss oder bestrumpft gespielt. Tja, mit so vielen Freunden um einen herum, fühlt man sich wohl wie zu Hause. Kevin Drew, den ich nach meinem ersten BROKEN SOCIAL SCENE-Konzert als etwas publikumsscheuen, schüchternen Musiker, der sich in der Rolle des Frontmannes scheinbar nicht sonderlich wohl fühlte, in Erinnerung behalten hatte, war in regelrechter Plauderlaune und scherzte immer wieder mit dem Publikum rum. Sehr entzückend! Und mein Gott, kann der Mann singen! Das Publikum zeigte sich begeistert. Die Band, glaube ich, war es auch. Schon erstaunlich, wie perfekt und intensiv auch die Live-Umsetzung bei denen funktioniert. Und wer hier behauptet, das wäre Frauenmusik, hat nur noch nicht richtig hingehört!
Das war jetzt jedenfalls das dritte Mal (wenn man das Immergut-Festival 2004 nicht mitrechnet), dass ich BROKEN SOCIAL SCENE live gesehen habe. Und jedes Mal das gleiche Szenario: Dauergrinsen im Gesicht und anfallartige Freudenausbrüche noch 24 Stunden später. Das ist wie verliebt sein – kann einen schon mal in den Wahnsinn treiben. Man kennt ja so einen Abnutzungseffekt bei anderen Bands. SIGUR ROS zum Beispiel. Wenn man die zum ersten Mal sieht, kommt das einer quasi-religiösen Erfahrung nahe. Beim zweiten Mal hat man sich irgendwie schon dran gewöhnt. Trifft für BROKEN SOCIAL SCENE aber so gar nicht zu!
Ach und übrigens, wenn alles klappt, gibt es hier demnächst ein Interview mit BROKEN SOCIAL SCENE und auch mit THE MOST SERENE REPUBLIC zu lesen!