Es gibt Leute, die genau so aussehen wie sie heißen. Ich verfüge über feinsinnige Rezeptoren für Michaels, Dennise, Ankes, Dianas und Karins. Nur wenige Auserwählte verfügen über dieses magische Talent, so anscheinend auch der Kassierer am Eingang des Hafenklangs. Er brauchte nur zwei Versuche, um mich als Steffen zu entlarven. Damn! Das hat dir der Teufel gesagt. Baff betrat ich den Laden, in dem es an diesem Abend zum ungewöhnlichen Kontrastprogramm kam. Experiementeller Emo-Frickelkram aus Chicago meets norddeutschen Screamo. Schöne Kombination. Aber ich war da wegen des Frickelkrams. Genauer, ich war da wegen Tim Kinsella. Tim Kinsella verlieh Anfang der 90er sein räudiges Organ der einflussreichen Band CAP `N JAZZ, als Emo noch nicht, wie alles auf dieser Welt, pervertiert und ausgeschlachtet wurde, und tümpelte seitdem mit sieben weiteren Bands durch undurchsichtige Gefilde schräger Musik, von denen die Band JOAN OF ARC noch die eingängiste sei, so dachte ich. Heute Abend war Tim zunächst Trommel-Peter für das Projekt LOVE OF EVERYTHING, bei dem Bobby Burg (auch Bassist bei JOAN OF ARC) kleine Ideen auf der Gitarre in ein Loopgerät spielt, übereinanderlegt und dazu herrlich befreit und schief komischen Kram singt. Geschmackssache. Ich so: „Yeah“ – Jens so: „Hm, ich geh doch erstmal wieder nach hinten.“ So wie Jens dachten noch ein paar Leute mehr.
Doch wirklich anstrengend wurde es dann erst mit JOAN OF ARC. Abgefahren, aber anstrengend. Tim Kinsellas unwiderstehliches Gejaule hat mir zwar Kopfgänsehaut verpasst, und es blitzten durchaus kurze Momente auf, in denen man sich mal an so etwas wie einer Meldodie oder Songstruktur festhalten konnte, doch nur um dann wieder in ein dissonantes, instrumentales Mathrock-Wirrwarr abzutauchen, das den Auftritt dominierte. „Ja, jetzt so bleiben – ah, schade!“ Wie schlechter Sex. Das Gitarrenspiel von Victor Villarreal und Tim Kinsella waren trotzdem echte Hinhörer. Sie können ja auch, wenn sie nur wollen. Hier der Beweis: http://vimeo.com/3494411 . Sie wollten nur nicht.
ESCAPADO, die sich seit größerem Personalwechsel mittlerweile selbst covern, wirkten danach für viele wohl wie ein Befreiungsschlag. Endlich schön einfache Metalriffs im Kreis. Dazu eine selbstlose Aufopferung der Stimmenbänder vom neuen „Sänger“. Wahnsinn! Dass der nach einer Woche Tour überhaupt noch einen Pieps machen konnte – Playback? Warum gibts eigentlich die Mini Playback Show nicht mehr? Nirgendwo sonst wurden Musiker so herrlich von Kindern in ihren Klischees bloßgestellt. Die Mini Playback Show mit ESCAPADO. Marijke Amado sucht mit ihnen die Garderobe aus. Schwarzes Band-Shirt, karriertes Emohemd, große Naturvolk-Ohrlöcher und dann ab durch die Zaubertür auf die Bühne zum Posen. Süße Idee. Im Original ist mir das trotz des spürbar hingebungsvollen Herzblutes aber alles zu dick aufgetragen, zu glatt, zu abgedroschen, zu sehr Metal, zu wenig Punk. Ich vermisse VOM SEGELN! Bin dann lieber zum Merchtisch für eine Kaufberatung zweier genießbarerer JOAN OF ARC-Einschlafkassetten. Bobby Burg zeigte auf zwei. Der Drummer zeigte auf zwei andere. Letztendlich eh wurst, denn wohl jede Veröffentlichung von Tim Kinsella ist eine interessante kleine Reise durch andersartige Musik. Mal unerträglich, mal wunderschön, mal geradezu abenteuerlich – im Kassettenrekorder am Bett sicherlich ebenbürtig jeder Masters-Kassette oder Alf, Folge 9. Gute Nacht!