Mit zunehmendem Alter verliert leider vieles an Reiz. Die Musik, Konzerte und natürlich auch Festivals. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich 1994 mit dem Rock am Ring mein erstes richtiges Open Air besucht habe und vollkommen ergriffen war. Damals spielten RADIOHEAD als Opener und die SMASHING PUMPKINS im Nachmittagprogramm. Mehr als zehn Jahre und an die dreißig Festivals später stellt sich eine gewisse Routine ein; die Bands wiederholen sich, Attraktionen wie Bungee-Springen gehören zum A&O jedes mittelgroßen Events, und selbst auf den ersten Blick verrückte Aktionen des Publikums kommen einem vor wie ein Déjà-vu. Zwar gibt es nach wie vor große Unterschiede zwischen der Attraktivität und dem Charme einzelner Festivals, aber überrascht wird man im Allgemeinen nur noch selten. Was liegt also näher, als den Horizont mal in eine ziemlich andere Richtung zu erweitern? Am besten in einen Bereich, mit dem man ansonsten so gut wie gar nichts zu tun hat! So entschlossen wir uns dazu, uns einen eigenen Eindruck vom M’era Luna-Festival zu machen, auf dem sich jedes Jahr Tausende Fans der düsteren Musik einfinden –gerade weil wir uns von blueprint fast überhaupt nicht für diese Sparte begeistern können. Wir wollten dabei antesten, ob die Stimmung auf einem Gothic-Festival anders ist als auf einem Alternative Festival, ob tatsächlich alle Leute schwarz gekleidet sind und die Stimmung eher trist oder munter ist. Ob es dort Vampire gibt, ob Katzen geschlachtet werden, und ob überall Grabsteine im Weg herum liegen.
So machten wir uns am Samstag bei gutem Wetter auf den Weg nach Hildesheim. Während Sandy, deren Wurzeln tatsächlich im Grenzwellen-Bereich liegen, bereits bei der ersten aufgeschnittenten Gothic-Braut am Bahnhof in Elze bereute, ihre Korsage und sonstige Utensilien im letzten Winkel des Schrankes gelassen zu haben, freute ich mich diebisch darauf, mit meinem orange-braun gestreiften Biene Maja-Oberteil von H&M ein wenig Farbe ins triste Dasein der Gothic-Anhänger zu bringen. Und tatsächlich fielen wir beide in unserem Normalo-Outfit in der riesigen Lack-und Lederfraktion auf wie zwei Paradiesvögel. Auf dem Festival-Gelände begegnete uns ein Meer aus Schwarz, das selbst jedes Metal-Festival toppt. Bei den übrigen ca. 5% gab es zum Schwarz noch Variationen in blau, violett oder pink, oder aber auch weiße Hochzeitskleider oder aufwändig genähte Kleider aus der viktorianischen Zeit – natürlich mit dem dazugehörigen Sonnenhütchen. Ansonsten fiel noch eine gewisse Uniformität der Kleidung ins Auge – wenn man schon wusste, dass Netzstrümpfe nicht nur von Frauen und auch nicht nur an den Beinen getragen werden, so sah man hier des öfteren auch mal Korsagen, Röcke und enge Lackhöschen bei den Männern. Auch nicht zu vergessen die Schuhe: während bei den Damen ein möglichst hohes Plateau als chic galt, war bei den Herren eher Massivität gefragt – je mehr Schnallen und Stahl, umso besser!
Entsprechend zum Styling gab es auf dem M’era Luna im Vergleich zu anderen Festivals auch wesentlich mehr Clothing- und Accesoires-Stände, wobei die Preise vermuten lassen, dass sich hier viel Geld umsetzen lässt. Und tatsächlich entdeckten wir auch einen Stand, wo Särge und Urnen verkauft wurden. Bis auf ein paar lustige Gimmicks , war’s das aber auch schon mit den Grufti-Klischees.
Natürlich hatte das Festival auch musikalisch etwas zu bieten, und für mich als ungeübten Hörer schien sich das Ganze auf vier Schubladen zu beschränken:
1.) EBM: Da die meisten elektronischen Bands im Hangar spielten, fühlte man sich hier insgesamt eher an die Mayday oder Love-Parade als an ein Festival erinnert. Die Halle glich einer Großraumdisco, die Bässe dröhnten aus den Boxen und getanzt wurde von verhalten bis ekstatisch.
Beispiel: COMBICHRIST, KIEW, FLESH FIELD
2.) Industrial: Zum Teil schwer von EBM abzugrenzen, aber wie der Name schon sagt, steht hier vorrangig das „mechanisch“ klingende an der Musik im Vordergrund. Beispiel: MOCICO, KIEW, SKINNY PUPPY
3.) Mittelalter-Folk: Antike Instrumente wie Dudelsack, Laute, Fiedel und diverse Flöten sorgten für eine ausgelassene Stimmung unter dem niederen Volk. Tatsächlich wurde viel geklatscht und mitgehüpft und es hatte eher die Stimmung eines Volksfests als eines Gothic-Festivals.
Beispiel: FAUN, SCHANDMAUL, SUBWAY TO SALLY
4.) SISTERS OF MERCY-Kopien: die klassische Gothic-Musik, bzw. das, was ich mir darunter vorstelle: Melodischer Metal mit einer gewissen Melancholie und tiefem Gesang – auch mit gewisser Ähnlichkeit zu TYPE O NEGATIVE.
Beispiel: THE 69 EYES, SCREAM SILENCE, LACUNA COIL
Fazit: Es gab auf jeden Fall ’ne Menge zu sehen, auch wenn mich die Musik musikalisch nicht sonderlich reizte. Das Durchschnittsalter war mit vielen Zuschauern um die dreißig bis vierzig Jahre wesentlich höher als auf den meisten anderen Festivals. Natürlich gab es auch hier eine Menge Teens, aber der ältere Teil überwiegte doch um einiges. Grund dafür mag die fehlende Weiterentwicklung des Festivals und der vertretenen Musikrichtung an und für sich sein. Denn während auf den übrigen Alternative-Festivals jährlich versucht wird, die derzeit angesagtesten Acts und neuesten Musikrichtungen zu versammeln, fällt bei den Dark Wave-Festivals auf, dass sich die Bands häufig wiederholen und auch neue Bands meist den anderen sehr ähneln. Neue Stile werden hier jedenfalls eher selten erforscht.
Das gemäßigtere Publikum führte angenehmerweise dazu, dass es auf dem Campingplatz recht ruhig blieb, und auch ansonsten schien die Stimmung trotz schlechten Wetters am zweiten Tag erstaunlich friedlich und fröhlich und keineswegs trist oder melancholisch. Ach ja, gelyncht wurden weder wir, noch irgendwelche Katzen – die einzigen geopferten Tiere landeten wohl auf dem Grill oder am Kebab-Spieß. Aber das findet man auf bunten Festivals schließlich auch!