Splits and Crashes in einer Seele
Seite A: „Real doll factory“, 4:03 Min., geschrieben von XIU XIU
Seite B: „The honour of the season“, 4:25 Min., produziert und geschrieben von LAWRENCE ENGLISH
Seite A: Pochend nähert sich Etwas. Kaltes Krachen von Metall hallt auf der Eins der Takte. Schreiendes Rufen beschwert sich „I don’t care…” von paranoid, verwirrend bis zerstörend. Weiße kraftvolle Geräusche überströmen ein Tonflirren und -gleiten über mehrere Frequenzlagen. Nach der Hälfte des Stücks ertönt ein wankendes und stehendes Dröhnen wie von Maschinen, dem ein Piepen eines Warnsignal eines sich rückwärts schiebenden Gefährts beigesetzt ist. Die eisernen Pforten der Fabrik ragen in den offenen Tag hinein. Eine Minute vor Ende gurgelt und murmelt etwas Tiefes, dann lauteres Rauschen, alles wackelt im Motor, dann aus.
Hier zeigt XIU XIU sich nicht von der traurig säuselnden Seite, die mich sonst so sehr an ihn erinnert. Er artikuliert eine ungute Stimmung (weitaus schwerer als nur eine melancholische) in diesem Stück und bringt sie zu einer Anklage.
In diesem Einstückwerk vereint sich Abbildendes, Aussagendes und Ausdrucksintensives, was sich „konkret” im Text niederschlägt. Er ist monologisch und direkt durch eine Ich- und Du-Ansprache in männlicher Stimmlage vertont und verrauscht. Das Schräge der beißenden Stimme unterliegt, sie ist nicht fähig, sich durchzusetzen.
Seite B: Ohne Intro, nahezu im Gesamtklang kalt auf die erste Eins erscheint das Ambiente. Warmer Bass liegt unter eher grellen und kalten, orgel- und chorartigen Synths. Der Klang ebbt ab, bleibt als raues Rauschen, Etwas Orgelartiges beginnt wieder mit bösem, verzerrtem Gitarrenartigem, das mit Soul und Disharmonie Brüchiges hineinzurufen versucht. Es bleibt ein stehender und wabernder Unter- und Hintergrund. Echo-Halliges des Gitarrenartigen aus dem Verstärker pocht und zerrt etwas nach, zappt aus. Das Warme und Grelle, in gebrochenen Akkorden hin- und herzoomend, noch da, überbleibt als ein Wieder-Da in einem dichteren Raum allein für die 14 Sekunden Ausgang, der von einem kathedralischen Summen begleitet wird.
LAWRENCE ENGLISH legt hier traurig anmutig Bildendes und Interpretationsoffenes als ein Moment in einer Situation nieder, die eine Weile einer Jahreszeit überdauern kann. Das Geschlecht der musikalisch unterschwellig tüftelnden Person bleibt in der Musik unbekannt.
A + B: Und um nicht die Spanne des Spagats zu betonen, sondern um seine Spannkraft zu sammeln, finde ich den gemeinsamen Nenner zunächst in der Genre-Kategorisierung. Beide verorte ich als Electro, Elektronik, Minimal und Experimentell. Sie erscheinen auf dieser 7” Split abstrakt, artifiziell und künstlerisch (als Gegensatz zu Pop/Mainstream/Radiomusik). Beide Stücke sind vollends stimmungsgeladen. Sie halten sich fern von großen Melodien oder bedeutenden Verschiebungen der Harmonie, das minimalst melodiöse und rhythmische Kreisen um das tonale und rauschende Zentrum ist hierbei das ausschlaggebende Moment.
Betrachte ich beide Seiten in einer Synthese, identifiziere ich die Stimme als zentrales, als bestimmendes, somit vordergründiges Element. Dadurch erscheint mir „The honour of the season“ als Intro oder als Ausklang für „Real doll factory“, womit ich keines der beiden unterordne, sondern lediglich ihre Gemeinsamkeit zu betonen versuche. Außerdem ist die Anzahl der Instrumentalisten oder Künstler nicht ersichtlich.
Alles in allem dringt die Split vor bis an meinen Seelenboden, dessen Tiefe ein Leben lang ist, und vollzieht frei Hand einen Longitudinalsplit: Eine Längsöffnung deiner seelischen Narbe von Splits und Crashes.