Man mag darüber diskutieren, wer der beste Sänger war, der im DESCENDENTS Schwesterverein ALL je das Mikrofon in die Hand nehmen durfte… Aber bitte nicht mit mir. In meinen Augen waren es weder Dave Smalley noch Chad Price, die ALL zu einer außergewöhnlichen Band machten, sondern Scott und sein heiserer Hang zu merkwürdiger, oft verjazzter Melodieführung. So betrachte ich die Alben „Allroy’s revenge“ und „Allroy saves“ bis heute als Meilensteine des modernen Punkrock, und selbst das etwas verfahrene „Percolator“ zählt zu den besseren Alben im Katalog der Band. Was aber trieb Scott Reynolds, nachdem er ALL 1992 verlassen hatte? GOODBYE HARRY und THE PAVERS, Scotts Folgebands, veröffentlichten zwischen 1995 und 2003 insgesamt acht Alben, das neue Projekt hört auf den kuscheligen Namen BONESAW ROMANCE. Überblick verloren?
Deshalb bringt die Boss Tuneage Recording Company ja auch diese schicke, kleine Werkschau heraus. Der ironische Titel: „Livin’ the dream“. Ein wenig schade, das darf man gleich mal vorweg schicken, ist an dieser Compilation lediglich, dass die einzelnen Songs sich nicht den jeweiligen Bands ihres Hauptprotagonisten zuordnen lassen. Gelegentlich, jedoch nicht immer, hilft der Blick ins umfangreiche Booklet, in welchem Mr. Reynolds immerhin zu jedem Stück und dessen Lyrics eine feine Anekdote bereit hält. Und wer den Sänger ohnehin schon immer für einen großen Sympathieträger mit scharfem Humor hielt, darf bestätigend nicken, wenn es z.B. in den Linernotes zu „Scary eyes“ heißt: „If you ever get in a fight with my wife, don’t look into her eyes! You have been warned!” Musikalisch, das war nicht anders zu erwarten, gibt es vor allem gut durchgebratenen Old-School-Punk. Wer die DESCENDENTS oder eben ALL mochte, mag auch GOODBYE HARRY und die PAVERS. Punk(t). Scott Reynolds´ positives Verhältnis zu angeschrägten Pop-Melodien macht einfache Songs wie „Deer street“ oder „Until forever“ zu funkelnden Juwelen, gerne mal mit Hang zum Country & Western oder Rock’n’Roll der Swinging 60s. Ganze 22 Traumsongs aus verschiedenen musikalischen Phasen gibt es zu hören und neu zu entdecken. Das Erstaunlichste: es gibt in diesen Liedern keinen echten Bruch zu hören, alles wirkt wie aus einem Guss. Der ALL-Klassiker „Frog“ wird von Reynolds feinfühlig und humorvoll am Piano intoniert (und punktet zudem mit urkomischen Linernotes) und gewinnt durch diese Reduktion sogar noch, und auch der CHUCK BERRY-Hit „Maybelline“ erfährt eine knackige und rumpelnde Frischzellenkur. Wenn das Album mit dem Hotel-Lounge-Jazz „Silver moon“ endet, gibt es nur zwei Dinge zu tun: neues Bier aufreißen, Repeat-Taste drücken.