Zugegeben, der Begriff „Indoor Komfort-Festival“ lässt viele überzeugte Festival-Gänger abschätzig die Nase rümpfen. Zur romantisierten Idealvorstellung eines typischen Rock-Festival gehören nun mal windschiefe Igluzelte, bergeweise preisgünstiges Dosenbier, das stundenlange Herumlungern auf dem Campingplatz sowie schlammige Festival-Wiesen. Der Rolling Stone Weekender hingegen ist das genaue Gegenteil davon. Man wohnt mit einer größenmäßig klar abgegrenzten Anzahl von Leuten in komfortablen Appartements, Bungalows oder Hotelzimmern, schlendert in wenigen Minuten direkt zu den Bühnen, und verbindet das Ganze im Idealfall noch mit einem Besuch im Erlebnis-Schwimmbad oder einem ausgedehnten Spaziergang am Ostseestrand. Ganz zu schweigen davon, dass man für solch ein Wochenende natürlich auch das nötige Kleingeld benötigt. Ich selber war zunächst auch unschlüssig, als mir ein Bekannter angeboten hat, sich relativ kurzfristig seiner RSW-Reisegruppe anzuschließen, denn auch das diesjährige Line-Up entsprach nicht unbedingt meinem üblichen Beuteschema. Doch im Endeffekt gaben meine Neugier auf die Veranstaltung sowie die Tatsache, dass es mit MADNESS einen Headliner gab, der bis dato ganz weit oben auf meiner persönlichen „Must see“-Liste stand, den Ausschlag dafür, nach kurzer Bedenkzeit zuzusagen.
Wenige Wochen später war es schließlich so weit, und wir erreichten nach kurzweiligen anderthalb Stunden Fahrtzeit die Ferienanlage Weißenhäuser Strand. Nachdem der Bungalow bezogen war, ging es sogleich auf Erkundungstour: In einer Art kleiner Ladenpassage gab es neben diversen Restaurants und Bistros diverse Platten- und Posterstände, außerdem ging es von dort zu den insgesamt vier Bühnen, auf denen in den kommenden zwei Tagen das Musikprogramm stattfinden sollte. Den Festivalauftakt auf der großen Zeltbühne bestritten BIRTH OF JOY, die mit ihren Psychedelic-Rock sicherlich zu den musikalisch härteren Bands des Wochenendes gehörten, vom Publikum aber sehr positiv aufgenommen wurden. Die Niederländer wirkten so, als wären sie selber ein wenig von der Resonanz überrascht, hatten sich den Beifall aber durch ihren leidenschaftlichen Auftritt mehr als verdient. Einen Pizzeria-Besuch später stand dann der Auftritt von JOCHEN DISTELMAYER im so genannten Baltic Saal auf unserem Programm. Im Vorfeld wurde bereits spekuliert, ob der ehemalige BLUMFELD-Frontmann bei diesem seine eigenen Lieder spielen würde oder auf Repertoire seiner im letzten Jahr erschienenen Coversong-Compilation zurückgreifen würde. Zu meinem persönlichen Bedauern war Letzteres der Fall, allerdings kam das zahlreich anwesende Publikum zwischen den Liedern in den Genuss des unverwechselbaren Distelmeyerschen Humors, so dass auch dieser Auftritt als Highlight bezeichnet werden kann.
Auf GANG OF FOUR war ich im Vorwege sehr gespannt, gelten die Briten doch immerhin als Vorreiter des Post-Punks. Doch umso enttäuschender gestaltete sich im Endeffekt deren Auftritt auf der Hauptbühne. Nachdem die Umbaupause bereits eine halbe Stunde länger als geplant ausfiel, wirkte die Band bereits bei ihrem Intro wie völlig von der Rolle. So machte sich bereits nach wenigen Minuten bei dem viel zu laut abgemischten Klang-Brei Unruhe im Publikum breit und zahlreiche Besucher verließen enttäuscht das Zelt. Wir schlossen uns den Abwanderungswilligen an, was einerseits schade war, da ich Klassiker wie „Damaged goods“ gerne mal live gesehen hätte. Andererseits war der Zeitplan durch die Verzögerung eng gesteckt, und wir hatten in Anbetracht des bisher Dargebotenen keine Lust, die nächste Stunde einem enttäuschenden Auftritt beizuwohnen. Als nächstes stand ein Abstecher zu FORTUNA EHRENFELD auf dem Programm. Einerseits, um sich einen Eindruck von den Livequalitäten der Band zu verschaffen, die ich letztens beim „Fest van Cleef“ leider verpasst hatte. Zum anderen aber auch, um mir mit dem Witthüs eine weitere Festival-Bühne in Augenschein zu nehmen. Um es kurz zu machen: Weder die Atmosphäre des für Live-Konzerte eher ungünstig geschnittenen Saales, noch der Auftritt konnten mich überzeugen. Gefiel mir die Platte „Hey Sexy“ beim flüchtigen Reinhören noch ziemlich gut, wirkte das Ganze live auf mich dann doch zu künstlerisch-verkrampft. So nahmen wir die Textzeile „Ich will heut auf alle Fälle so schnell wie möglich wieder weg“ aus dem Opener „Matrosen“ wörtlich und verabschiedeten uns nach kurzer Zeit wieder. Einen versöhnlichen Tagesausklang bescherte uns freundlicherweise GLEN HANSARD. Kann ich dieser Art von Songwriter-Folk normalerweise auch nicht allzu viel abgewinnen, schafften es der irische Musiker und seine Band, mich vom ersten Song an voll in ihren Bann zu ziehen. Man hört den Liedern einfach an, wie unglaublich viel Herzblut in ihnen steckt. Insofern ging es an diesem Abend mit einem sehr wohligen Gefühl ins Bett.
Da das Live-Programm am Samstag erst am Nachmittag losging, blieb genügend Zeit, sich den Annehmlichkeiten des Rolling Stone Weekenders zu widmen. So ging es zunächst ins Erlebnis-Schwimmbad und anschließend wurde am Strand ein wenig Frischluft getankt. Wer der Literatur zugeneigt ist, hatte zudem die Möglichkeiten, ab Mittag Lesungen von Robert Forster, Nicholas Müller und Jochen Distelmeyer beizuwohnen. Das offizielle Musikprogramm begann an diesem Tag mit ST. BEAUFORT auf der kleinen „Alm Stage“, die mit ihrem intimen Charme und der warmen Blockhaus-Atmosphäre wie geschaffen für das internationale Folk-Trio war. Die aus Deutschland, Chile und den USA stammenden Musiker wechselten nicht nur ständig die Instrumente durch, sondern sammelten mit ihrer natürlichen Art tonnenweise Sympathiepunkte beim Publikum.
Der schlechteste Witz des Tages wurde bereits morgens beim Frühstück verbraten. Person A: „Heute spielt DIE REGIERUNG im Baltic Saal!“ Darauf Person B: „Echt jetzt? Mit Angela Merkel an der Lead-Gitarre, oder was?“. Hahaha, was haben wir gelacht. Umso bedauerlicher, dass ich aufgrund des eng gesteckten Zeitplans nur wenige Lieder der Hamburger Schule-Absolventen sehen konnte. Dennoch schön, Songs wie „Es hat keinen Namen“ oder „Ein Idiot mehr“ mal live gesehen zu haben. Eine weitere Besonderheit des Rolling Stone Weekenders ist das sogenannte „Wohnzimmerkonzert“. Hierbei handelt es sich um einen exklusiven Auftritt in einem der Unterkünfte, der aufgrund der sehr begrenzten Platzkapazitäten nicht öffentlich zugänglich ist. Die Tickets hierfür werden ausschließlich verlost, wobei ich bis heute jedoch nicht weiß, wo man sich für diese Verlosung hätte bewerben können. War im Endeffekt aber auch egal, denn für einen erfahrener Party-Crasher ist es natürlich kein Problem, sich trotzdem hier einzuschleichen. So spielte der Hamburger Singer/Songwriter JOHN ALLEN in einem Bungalow vor ca. 25 Leuten, während ein großer Topf Glühwein auf dem Herd vor sich hinköchelte und bereits vorweihnachtliche Stimmung verbreitete. Über JOHN ALLEN selber schrieb unser Schreiber Otti einmal sinngemäß, dass er trotz der Melancholie seiner Lieder so viel Fröhlichkeit ausstrahle, dass niemals schlechte Stimmung aufkommt, mögen die Themen auch noch so schwer und persönlich sein. Das trifft den Nagel ziemlich auf den Kopf, und entsprechend elektrisiert wurde sein Auftritt vom Publikum aufgenommen.
FRISKAR VILJOR sind zwar mittlerweile eine feste Größe im Indie-Folk-Sektor, bisher hatte ich sie jedoch noch nie live gesehen. Und obwohl ich dieser Art von Musik nicht allzu viel abgewinnen kann, gefiel mir der Auftritt der Schweden auf der Zeltbühne ausgesprochen gut. Gute Arrangements und eine sympathische Ausstrahlung zählen auf jeden Fall zu den ganz großen Stärken der Band, die entsprechend abgefeiert und zu der einen oder anderen Zugabe genötigt wurden. Als nächstes hatten wir eigentlich den Auftritt von ISOLATION BERLIN eingeplant, doch wie zu befürchten war, hatten noch zahlreiche andere Festivalbesucher denselben Plan. Wer nicht mindestens eine halbe Stunde vor Konzertbeginn vor dem Einlass zur Alm Stage ausharrte, musste leider draußen bleiben. Weshalb eine in den letzten Jahren so sehr gehypte Band ausgerechnet in der kleinsten Location des Festivals spielen sollte, bleibt wohl ein gut gehütetes Geheimnis der Veranstalter. Als Alternative statten wir KEVIN MORBY auf der Baltic Stage einen Besuch ab, der zumindest zu Beginn zu überzeugen wusste. Schöner Indierock, der in einem Lied sogar ein wenig an den Bubblegum-Punk der RAMONES erinnerte. Doch leider ließ der Spannungsbogen nach einigen Liedern stark nach, und der Texaner verlor sich zusehends in unspektakulären Folk- und Americana-Stücken. Dann lieber noch mal für ein Stündchen zurück in den Bungalow, um sich auf den darauf folgenden Festival-Höhepunkt einzustimmen…
So sehr ich mich im Vorfeld auf den Auftritt von MADNESS gefreut hatte, so sehr hielt sich zugleich meine Erwartungshaltung in Grenzen. Wie für viele andere auch war das erste Album der Engländer eine Offenbarung für mich und trug entscheidend für meine Liebe zur Ska-Musik bei. Doch spätestens seit der „Rise and fall“-LP war der 2Tone-Sound weitestgehend Geschichte, und sie waren endgültig in der Pop-Musik angelangt. Die Frage war also nicht nur, wie viel Energie die Herrschaften noch auf der Bühne entfachen können, sondern auch, auf welche Phase ihrer Bandgeschichte sie den Fokus bei der Songauswahl richten würden. Doch spätestens als zum Auftakt die ersten Töne von „One step beyond“ ertönten, waren alle Befürchtungen verflogen. Natürlich fand auch ihr größter Hit „Our house“ den Weg ins Programm, doch ungeachtet dessen bleiben zumindest meinerseits eigentlich keine Wünsche offen. „Baggy trousers“, „My girl“, „House of fun“, „Wings of a dove“, „It must be love“… Dazu präsentierten sich die Truppe um den charismatischen Frontmann Suggs in absoluter Spiellaune, und als schließlich auch noch der Zugabe-Doppler „Madness“ und „Nightboat to Cairo“ erklang, kannte die Euphorie keine Grenzen mehr.
Am Abreisetag machte sich eine gewisse Katerstimmung breit. Zum einen machte sich der nicht unerhebliche Alkoholkonsum des Vorabends bemerkbar, zum anderen herrschte aber auch Traurigkeit darüber, dass das Festival bereits vorüber war. Vielleicht macht gerade das den Hauptunterschied gegenüber „normalen“ Festivals aus: Aufgrund der komfortablen Gesamtumstände fühlt sich der Rolling Stone Weekender eher wie ein Kurzurlaub mit Musikuntermalung an, bei dem es kaum zu körperlichen Abnutzungserscheinungen kommt. Seniorengerecht sozusagen. So weit ist es bei mir zwar noch nicht, doch eine derartige Veranstaltung auch noch in 30 Jahren zu besuchen, kann ich mir durchaus vorstellen.