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Reeperbahn-Festival 2006 (Hamburg)

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Köln hat die c/o-Pop, Berlin die Popkomm und manchmal auch die Love-Parade, und was haben wir? Nichts… Ha! Nicht mehr! Denn jetzt gibt es in Hamburg als erste größere Musikveranstaltung das Reeperbahn-Festival. Nicht draußen, sondern indoors, aber dafür auch gleich mehr als 200 Bands aus den diversesten Musikrichtungen auf über 20 Bühnen an drei Tagen. Das geht tatsächlich nur in St. Pauli, weil hier die Clubdichte ungefähr so hoch ist, wie auf dem Oktoberfest die Zahl der Festzelte. Na ja, nicht ganz, aber mit einer Fläche von 2,6 km² ist hier tatsächlich alles zu Fuß erreichbar. Oder man fährt halt eine Station mit der U3.
Das einzige Problem war die Qual der Wahl. Zwanzig Bühnen sind schon ’ne Menge, und insbesondere am Donnerstag und Freitag fiel uns manche Entscheidung nicht allzu leicht. Deshalb gibt es hier nur einen kleinen, selektiven und natürlich sehr subjektiven Eindruck von Olli und Jens.

Donnerstag, 21. September:
Ja, andere Festivals sind draußen, es gibt drei Bühnen, und los geht’s am Freitag, nicht aber hier in Hamburg – da ticken die Uhren anders, und man muss halt sehen, wie man als Berufstätiger am nächsten Morgen auf der Matte steht. Egal – bei uns allen machten TOMTE den Start, die das Festival auf dem Spielbudenplatz vor einer großen Menschenmenge eröffneten.
Aber irgendwie sind TOMTE auch nicht so der Hit heute. Diese Menschmassen, die vorbeiströmen und die geringe Lautstärke, da gehen viele der Melodien einfach unter. Scheiß auf Lautstärkebegrenzung! (ob)
Danach ARRESTED DEVELOPMENT, auf die ich mich schon seit langem gefreut hatte. Und ja, die KELLY FAMILY des HipHop erfüllte all meine Erwartungen. Los ging es mit mehreren Songs ihres Über-Albums „3 years, 5 months & 2 days in the life of…“ Das hat zwar schon mehr als zehn Jahre auf dem Buckel, aber ist so unglaublich zeitlos, dass es auch heute noch eine wahre Freude ist. Hit auf Hit, wobei die ganz großen Songs natürlich für das Ende der Show aufgehoben wurden. Aber auch die neuen Sachen fügten sich nahtlos ins Repertoire ein. Ein wahrhaft großer Auftritt und mein persönliches Highlight des Festivals. (jg)
AMUSEMENT PARKS ON FIRE wurden mir von allen Seiten empfohlen, also einfach mal ins Molotow. Mal wieder war Warten angesagt, und das schon um diese frühe Zeit. Und dann eine doch ziemliche Enttäuschung. Langweilige, ziemlich belanglose, aber dafür laute Band. (ob)
Zu BLUMFELD bin ich auch gegangen, weil ich mir mal die Fliegenden Bauten von innen ansehen wollte. Das Ganze stelle man sich wie ein großes Zirkuszelt vor, und auch die Getränkepreise waren ähnlich hoch. Die älteren Zuschauer saßen hinten an kleinen Tischchen, während ein paar jüngere Besucher direkt vor der Bühne standen. Wobei, jung? Durchschnittsalter war auch hier eher im Bereich von BLUMFELD, so dass selbst ich mich auf einem Konzert mal wieder jung fühlte. Zwar gefiel mir an BLUMFELD, dass sie, wie auch auf dem Immergut, wieder verstärkt auf die rockigeren Songs der Marke „L’état et moi“ zurückgriffen, aber nichtsdestotrotz sieht Jochen Distelmeyer immer mehr aus wie ein verbitterter Mann aus einer vorigen Generation. Gespenstisch fast. (jg)
Da ich zeitig aus dem Molotow verschwunden war, entdeckte ich TEITUR im Scope. Eigentlich wollte ich nur die FIGURINES sehen, aber dieser junge Mann mit seiner großartigen Backing-Band machte Spaß und spielte seichte Pop/Folk-Songs mit Rhodes-Untermalung. Highlight!
Ebenso die FIGURINES. Lieblingsband. Viele neue Songs und deutlich rockiger als noch auf ihren beiden Alben. Wäre doch nicht der Laden so uncharmant yuppiemäßig, hätte das echt mal wieder ein richtig gutes Konzert werden können.
Dann noch zu THE RAPTURE. Hype! Egal oder auch nicht. Die wohl uncoolste Band des Universums, was Posen angeht, nicht mal ironisch lustig. Und auch musikalisch nicht mein Fall. (ob)

Freitag, 22. September:
Tag zwei ging leider sehr verkorkst los. CLICKCLICKDECKER fingen eine Stunde später an, CHINKIKI mit einer halben. Ärgerlich ist dies vor allem, wenn man sich einen genauen Zeitplan zurechtgelegt hat.
CLICKCLICKDECKER a.k.a. Kevin Hamann, neuerdings mit Band und mit neuem Album unterwegs. Sichtlich nervös und nicht immer ganz rund. Und deutlich weniger elektronisch als auf CD. Live kann man die KETTCAR/ TOMTE-Vergleiche durchaus verstehen, auch wenn seine Stimme unverwechselbar bleibt.
Durch die Verspätung war es möglich, noch schnell einen Blick auf CHINKIKI und BOY OMEGA zu erhaschen, weiter weg und gleich wieder zurück, denn meine Helden heißen PALE, jedes Mal wieder und heute noch besser als sonst. Ich bleibe gerne, auch bei Verspätung. (ob)
Von CHINKIKI bekam ich leider nur einen Song mit, und um ehrlich zu sein, hatte ich sie von CD etwas abgedrehter in Erinnerung, dies erinnerte mich jedoch eher an die Vielzahl der Bands, die klingen wie THE BRAVERY, MOVING UNITS usw. Fresh, aber dennoch nicht neu.
Neu wollten BOY OMEGA auch gar nicht klingen, vielmehr orientieren sich die Schweden an Singer/Songwritern der letzten Jahrzehnte, gern auch im LoFi-Gewand. Dies war bisweilen sehr schön, mitunter jedoch auch ein wenig langatmig und für meinen persönlichen Geschmack etwas zu folkig. Schade, dass sie ihre Elektronik zu Hause gelassen hatten, und das wunderbare „Burn this flag“ von der kommenden EP „The grey rainbow“ den wenigen Zuschauern im Kaiserkeller somit leider verwährt blieb.
Bei HIDALGO aus Nürnberg muss ich leider feststellen, dass sie sich musikalisch immer mehr von mir und meinem Geschmack entfernen. Der Song „Rhubarb“ von ihrem Debüt-Album zählt nach wie vor noch zu meinen absoluten Hits, aber den neuen Sachen der Nürnberger kann ich nur wenig abgewinnen. Und meiner Meinung nach trifft auch der BLONDE REDHEAD-Vergleich kaum noch zu. Ich würde mich gern dagegen wehren, auch weil mir die Menschen dahinter sehr sympathisch sind, aber es klappt nicht. Schade! (jg)
Ich hatte es ihm versprochen, also hechte ich direkt nach PALE los zum Mandarin Kasino, um mir JUSTIN BALK mit seiner Band anzusehen. Komische Publikumsmischung, aber ein verdammt gutes Konzert. Auch wenn er nicht mehr der jüngste ist, dieses Rockstar-Image haftet ihm an, und die neuen Songs stehen den Hits meiner „Jugend“ in nichts nach. Im November gehts ins Studio One. Wiedersehen! (ob)
Entgegen meiner Pläne guckte ich mir TOMTE heute glatt ein zweites Mal an, ich erinnerte mich daran, wie mir „Eine sonnige Nacht“ vor sechs Jahren so wahnsinnig gut gefiel und die Band von vielen als billige TOCOTRONIC-Kopie verschmäht wurde. Nein, das sah ich damals ganz anders, und heute in vergleichsweise „kleiner“ Club-Atmosphäre (wobei das Übel & Gefährlich wahrlich nicht klein ist, aber im Vergleich zu den TOMTE-Festival-Gigs) kam bei mir ein wenig die Erinnerung zurück, und so gefielen sie mir auch viel besser als gestern draußen. Wenn Thees nur endlich aufhören würde, so zu singen wie Liam Gallagher – das hat er doch früher auch nicht gemacht. Nun ja…
Ich hatte für heute von deutschsprachiger Indie-Rock-Musik genug, und so zog es mich statt zu MUFF POTTER zu DENDEMANN, der nebenan in der Großen Freiheit performte. Und ja, es war eine richtige Entscheidung!
Auch wenn ich seine Solo-Sachen kaum kannte: die Stimmung war wieder fast so großartig wie gestern bei ARRESTED DEVELOPMENT. Mutiere ich jetzt etwa zum HipHopper? Nein, ich glaube nicht, aber ein wenig Abwechslung hat ja noch nie geschadet. Und so gab ich mir die bouncenden Kids, mit wippenden Armen, kombiniert mit fetten Beats und cleveren Rhymes aus der Kehle des EINS ZWO-Manns. Er hat aber auch eine cool angepisste Stimme und grenzt sich dabei entschlossen von jeglichen Ghetto-/Gangsta-Klischees ab. So soll deutscher HipHop sein! (jg)
TOCOTRONIC ist voll, da kommt keiner mehr rein. Schöne Scheiße! Aber gut, wäre ein nettes Gimmick gewesen, doch irgendwie so richtig Lust hatte ich nicht mehr auf die Tocos live, außer, sie würden vielleicht noch mal die Acht-Akkorde-Kracher aus den Anfangstagen spielen… Schweiß raus, Meute raus, Frischluft rein. MUFF POTTER. Auch nicht das erste Mal in diesem Jahr, aber leider das letzte Mal, denn die Jungs machen jetzt ihre neue Platte fertig. „Soll es das gewesen sein?“ Für dieses Jahr – ja. Angenehm voll. Gute Band. Teures, schales Bier. Noch mal bei DENDEMANN rein, bissl HipHop atmen, so ein Handtuch auf den Schultern wäre nicht schlecht… (ob)

Samstag, 23. September:
Der Samstag erschien fast allen Bekannten als schwächster Tag des Festivals, und so gab es auch endlich mal keine Probleme, sich sein Programm entspannt zusammenzustellen.
Ich begab mich zunächst auf eine kleine kulturelle Reise durch St. Pauli auf Pfaden der Beatles. Stefanie Hempel führte eine ca. 30köpfige Gruppe von jung bis alt an legendären Orten vorbei, und berichtete mit zahlreichen Anekdoten und einigen fetzigen Songs auf ihrer Ukulele von dem Aufstieg der Liverpooler zunächst in der Hansestadt und schließlich weltweit. Eine kurzweilige Tour, die vor dem Starclub endete und jedem Interessierten hiermit empfohlen sei.
Danach noch eine kurze Stipp-Visite auf der Flatstock Europe Poster-Convention, die natürlich nicht so kurz und kostengünstig endete wie erhofft. Wer auf Rock Poster Art steht, sollte mal hier (http://www.flatstock.com/) vorbeisurfen und ein wenig rumklicken. Aber Vorsicht – das Geld verschwindet dort schneller als im Casino! (jg)
Los gehen sollte es mit WILSON JR im Studio One. Doch Pustekuchen, die Band fällt aus. Dafür hab ich nun auf MODULOK verzichtet… Erstmal Jens suchen und ausheulen, dass Werder nicht gewonnen hat…
Auf dem Weg noch schnell ins Molotow, praktischerweise unter der Meanie Bar und ein paar Blicke auf FORTUNE DRIVE ergattert. Nett, so für lau.
Dann schnell ins Übel und Gefährlich/ Turmzimmer, TENFOLD LOADSTAR. Auch wenn es abgedroschen klingt: das ist genau die Musik, die ich von einer Frau mit Akustik-Gitarre erwarte. Ein wenig naiv, ein wenig Folk, halt einfach nett und ohne Kanten. Leider kaum Erinnerungswert.
Dann lieber ONE TWO im großen Saal. Instrumente tauschen und rocken. Interessante Songs und eine positive Überraschung. (ob)
EMIRSIAN sollten anschließend in der Meanie Bar spielen, dem kleinen gemütlichen Laden oberhalb des Molotows, aber da sie erst mit zwanzig Minuten Verspätung starteten, werden wir nie erfahren, ob es wirklich der HARMFUL-Sänger ist, der solo so charmant wie ELLIOTT SMITH bzw. NICK DRAKE klingt. Denn schließlich wollen TURBOSTAAT auch nicht darauf warten, dass sich blueprint herüber bequemt. Also, schnell ins Grünspan und noch die letzte halbe Stunde des Auftritts der vier Flensburger geguckt. Wow, das gefiel mir doch wesentlich besser als ihr letzter Gig in der Roten Flora. Neben ein paar alten Songs bereits viel neues Material, das ganz klar die Weiternetwicklung der Band widerspiegelt. Und ich meine Entwicklung! Keine Sorge, es geht weder in Richtung TOMTE/KETTCAR, noch Emo, noch Screamo – es sind einfach nur klasse Songs mit guten Ideen. Und dass mir hinterher auch keiner sagt, klar Major = weg von den Wurzeln. Denn TURBOSTAAT werden nach dem Ende von Schiffen Rec. bald den musikalischen Durchschnitt eines gewissen Majors um einiges erhöhen. (jg)
TURBOSTAAT waren super, doch dann waren vier Tage Live-Musik für mich vorbei. (ob)
Nach TURBOSTAAT sollte das Festival in der Prinzenbar bei SEIDENMATT beschaulich ausklingen, aber ganz so ruhig, wie ein paar daher gelaufene Teens nach dem ersten Song der Berliner wahrscheinlich annahmen, blieb es dann doch nicht. Zum Glück – die Mädels plus männlicher Begleitung waren hier auch wahrlich fehl am Platze!
Und was gibt es sonst zu SEIDENMATT zu sagen? Seb von KATE MOSH scheint jetzt offiziell dabei zu sein und zeigt, dass er auch singen (!) kann. Ziemlich gut sogar. Wie auch der gesamte Auftritt der Berliner, der ganz klar den weiteren Weg andeutete. Hier wird an den Songs gefeilt, ein Live-Cello in die Songs integriert, und man steht (im Gegensatz zu MOGWAI, deren letztes Konzert im Grünspan mich sehr enttäuschte) ganz bestimmt nicht auf der Stelle. Feiner Auftritt, Jungs.
Ende? Doch noch nicht. Zu guter letzt sahen wir uns noch in „Angies Nightclub“ um. Dort spielte ELIENA CUEVAS aus Venezuela, und bewegte sich mit ihrer Band irgendwo zwischen Jazz, Latin und NORAH JONES. Gestern im Schmidts Tivoli war ihre Europa-Premiere, und auch hier schien das Publikum etwas „gesetzter“ zu sein, so dass wir fast ein wenig aus der Reihe tanzten. Eine interessante, technisch sehr versierte Band, musikalisch mal was anderes, aber insgesamt noch nicht ganz meine Schublade. Aber gebt mir noch zehn Jahre, dann wird das so langsam was! (jg)

http://www.reeperbahnfestival.de