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MARTIN KOHLSTEDT – Strom

Als ich vor zwei Jahren mit einer Freundin nachts über die Reeperbahn fuhr, war die Situation etwas surreal. Draußen die bunten Lichter und das Partyvolk, drinnen im Auto hörten wir MARTIN KOHLSTEDT. Meine Begleitung kannte den Pianisten nicht, war von seiner ruhigen Musik aber angetan. Ich setzte die Frau vor dem Molotow ab, während ich in diesem Moment dankbar war, im Auto zu bleiben und nicht aussteigen und mitfeiern zu müssen.
Vor einem Monat, kurz vor Weihnachten, war ich mit derselben Frau im Großen Saal der Elbphilharmonie. Es spielte MARTIN KOHLSTEDT. Das Konzert war natürlich ausverkauft, das Publikum bunt durchmischt. Neben ein paar Fans bestand das Publikum zu einem großen Teil aus Elbphilharmonie-Touristen, Klassikfans und sonstigen zufälligen Gästen. In der Regel erkennt man diese Nicht-Fans daran, dass sich der Saal im Laufe des Abends langsam leert. Doch bei MARTIN KOHLSTEDT blieben fast alle Besucher bis zum Ende. Das ist umso überraschender, weil der gebürtige Thüringer neben klassischen Parts immer wieder elektronische Momente in seine Musik mit einbaut, die von der Lautstärke mit einem Clubbesuch mithalten können. Doch dem introvertierten Musiker gelang es, die 2.000 Besucher für sich zu vereinnahmen und sein Konzert endete mit Standing Ovations. Nach dem Auftritt fragte ich MARTIN KOHSTEDT, ob er nervös war. Er antwortete, dass seine größte Sorge gewesen sei, dass er das Publikum nicht erreiche. Doch er sei überrascht gewesen, wie intim und privat die Stimmung trotz der Größe des Saals gewesen sei. Auch im Freundeskreis sprachen anschließend nicht wenige vom Konzerthighlight des Jahres.
Die besondere Atmosphäre von der nächtlichen Autofahrt über den Kiez und dem Konzert in der Elbphilharmonie konnte Kohlstedts drittes Album bei mir zu Beginn nicht entfachen. Dabei unterscheidet sich „Strom“ nicht grundlegend von den vorherigen Alben „Tag“ und „Nacht“. Auch hier ist die Grundstimmung ruhig und verhalten, eher dunkel als hell. Die Aufnahmen sind gerade zu Beginn des Albums so leise, dass man jeden Tastenanschlag vernimmt. Zugleich setzt Kohlstedt verstärkt auf elektronische Elemente, die er jedoch so gut integriert, dass das Album zu keinem Zeitpunkt ins Experimentelle abdriftet. Dafür unterstützt es die jeweilige Atmosphäre: in den kühlen Momenten klingt die Musik fast arktisch („Nao“), an dramatischer Stelle wird parallel zum Piano eine wahre Wall of Sound aufgetürmt („Tar“), während man in „Cha“ den akustisch erzeugten Wind förmlich auf der Haut spürt. Hier ähnelt die Musik schon fast einem Soundtrack, den man sich gut zu Landschaftsaufnahmen über Island vorstellen könnte.
Zum Ende bleibt festzustellen, dass MARTIN KOHLSTEDT mit „Strom“ wieder ein tolles und vielseitiges Album gelungen ist. In welchen Momenten das Album seine magische Wirkung vollends entfaltet, wird sich sicherlich noch zeigen.