Jedes Jahr macht Ostern bei mir einen entschiedenen Schritt mehr in die Richtung der Festivitäten, die man als Atheist eigentlich nicht braucht und die einem – ähnlich wie Weihnachten – ziemlich sinnentrückt vorkommen und als ein Vorwand missbraucht werden, sich mit nervigen Familienmitgliedern herumzutreiben, alle zwei Stunden Essen in sich hineinzuschaufeln und der dadurch ins Stocken kommenden Verdauung mit ein paar Kräuterschnäpsen nachzuhelfen. Auch dieses Jahr zog sich meine Schneise wieder in ländliche Heimatgefilde, wohl wissend, dass man diese feierlichen Anhaltspunkte eigentlich schon aus dem Grund nicht mag, weil man so etwas wie eine Anwesenheitspflicht zu Hause hat. Nichtsdestotrotz fährt man heim und sucht nach dem von Muttern versteckten Osterkörbchen, welches sie aufgrund körperlicher Einschränkungen nicht mehr im Garten versteckt, sondern in Reichweite im Wohnzimmer und dessen Inhalt nicht mehr wie früher ein paar angemalte hart gekochte Eier waren, sondern Bodylotion, eine Tagescreme und eine riesige quietschpinke Pralinenpackung in Form eines Eis. Zwischendurch gibt es dann kurze Gespräche, in denen sich die Eltern versichern, dass man das Leben relativ im Griff hat, und nebenbei dröhnt der Fernseher und zeigt eine 3D-freie Version von "Avatar".
Im Zug zurück quer durch die Republik nach Hamburg sitze ich im Abteil mit vier anderen Menschen, alle mit Rucksack und einem kleinen, verräterischen Beutelchen, aus dem hin und wieder verstohlen Schokoladenprodukte gehascht werden und die vermutlich alle dasselbe Schicksal mit mir teilen: immerhin gibt es als Entschädigung Schokolade. In dem Sinne: die Kurzreviews.
A DREADFUL VISION – "Slave of the modern age" (Label: District 763 Records, VÖ: 16.12.2011)
(bc) Bereits nach zehn Sekunden des ersten Liedes weiß ich genau, dass A DREADFUL VISION und ich zumindest in diesem Leben keine Freunde mehr werden. Die Band aus dem Erfurter Raum walzt mit ihrem Deathcore/Metalcore so ziemlich alles nieder, was sich ihr in den Weg stellt. Während der Sänger sich beinahe ins Delirium keift, jagt der Drummer eine Blastbeat-Salve nach der nächsten raus, und Gitarrensaite möchte ich bei dieser Formation lieber auch nicht sein. Der Nächste, bitte! (3)
http://www.myspace.com/adreadfulvision
BROTHER SUN, SISTER MOON – s/t (Label: Denovali Records, VÖ: 16.03.2012)
(bc) Hinter diesem Projekt verbergen sich Alicia Merz (aka BIRDS OF PASSAGE) und Gareth Munday (ROOF LIGHT). Und was bei einer derartigen Kollaboration herauskommt, kann sich der fachkundige Musikkenner an einer Hand abzählen: Experimentelle Ambient-Pop-Soundscapes mit einem surrealen, in den Hintergrund gedrängten Gesang treffen auf TripHop-Beats und eigenwillige Elektro-Effekthaschereien. Einige wenige werde diese Platte lieben, die breite Masse dagegen macht angesichts dieser Klänge wohl eher ein langes Gesicht und dicke Backen. Eine typische Denovali-Platte halt. (4)
http://www.myspace.com/brothersunsistermoon
CONDRE SCR – "You are genius” (Label: Oxide Tones, VÖ: 24.02.2012)
(jf) Netter, aber harmloser Post-Rock. Da es diese Bands leider wie Sand am Meer gibt und anschwellende Gitarren à la MONO und scheue Harmonien à la EXPLOSIONS IN THE SKY eben doch nur à la MONO und EXPLOSIONS IN THE SKY sind und somit nicht wirklich innovativ (außer es sind MONO oder EXPLOSIONS IN THE SKY selbst), lehne ich mich etwas enttäuscht zurück und hoffe, dass CONDRE SCR bald ihre eigene Richtung finden und nicht wie viele andere Bands im Post-Rock-Bermuda-Dreieck verloren gehen. (5)
http://www.myspace.com/condrescr
DEL MOE – "Die high butterfly” (Label: Finest Noise Records, VÖ: 30.01.2012)
(cm) Manchmal bewegen sich DEL MOE in QUEENS OF THE STONE AGE-mäßigen Roborock-Gefilden, in anderen Momenten erinnern rußige Bollernummern an Neunzigerbands wie TAR, und ein Song wie "Blow" würde vermutlich auch in einer Kneipe in Alabama akzeptiert. Gelegentlich (aber für mich zu selten) bricht die Band ein wenig aus ihrem Schema aus (der fast doomige Beginn von "Beggin´ for the moe" oder die Lemmy-Hommage im Gesang von "Knew your name"). Nicht unsympathisch, live bestimmt mitreißend, aber mir im Moment zu unspektakulär. (6)
http://www.myspace.com/delmoe
EXILIA – "Decode" (Label: Golden Core, VÖ: 30.03.2012)
(mn) Die Italiener haben eine unverkennbare Ähnlichkeit zu den GUANO APES. Wäre das früher ein spannendes Duell gewesen, steckt Sängerin Masha Sandra Nasic heute locker in die Tasche. Eingängige Melodien in den Strophen und ein Dampfhammer in den Refrains – die Songs gehen direkt ins Ohr und machen Spaß. Aber wirklich neu oder innovativ ist "Decode" nicht. Verstaubt also nicht im Plattenschrank, ist aber auch kein Muss. (6)
http://www.myspace.com/exilia
FAITHLESS – "Passing the baton (live in Brixton)" (Label: Nates Tunes, VÖ: 30.03.2012)
(bc) Die britischen Dance-Trip-Hopper FAITHLESS spielten am 08. April 2011 in Brixton ihr letztes Konzert, welches nun, ziemlich genau ein Jahr danach, als CD/DVD-Kombination erschienen ist. Ich persönlich konnte dem Sound der Band nie besonders viel abgewinnen, wobei ich allerdings auch zugeben muss, dass mir bisher eigentlich nur ihre beiden großen Hits "Insomnia" und "God is a DJ" bekannt waren, die hier selbstverständlich ebenfalls vertreten sind. Die übrigen Lieder plätschern dagegen relativ unbeachtet an mir vorbei. Für Fans der Band ist "Passing the baton" aber mit Sicherheit eine schöne Erinnerung. (4)
http://www.myspace.com/faithless
FLASHING RONES – s/t” (Label: Eigenregie, VÖ: out now)
(jg) Auf die Frage, ob sie uns ihr Album zuschicken sollten, lehnte ich dezent ab, mit dem Hinweis, dass Blues Rock nicht so ganz unser Metier ist. Ihr Debütalbum hatte ich ein paar Tage später trotzdem im Briefkasten, und was soll ich sagen? Die FLASHING RONES aus Tuttlingen machen das, was sie machen, richtig gut. Ein feiner, etwas heiserer Gesang, eine tighte Rhythmusgruppe und gute Gitarristen. Das groovt und erinnert in den guten Momenten sogar ein wenig an MOTHER TONGUE. Auch wenn sie nicht meinen Geschmack treffen – das können andere weniger! (6)
http://www.myspace.com/flashingrones
HAFERFLOCKEN SWINGERS – "Midnight boogie" (Label: Frankie Boy Records, VÖ: 24.03.2012)
(bc) Das Wolverine-Sublabel Frankie Boy Records hat sich in den letzten Jahren als Qualitäts-Label in Sachen (Neo-)Swing einen Namen gemacht. Folglich sind hier auch die HAFERFLOCKEN SWINGERS bestens aufgehoben, die keineswegs so übel klingen, wie es ihr Bandname vermuten lässt. Im Gegenteil: "Midnight boogie" verquirlt auf äußerst lässige Weise Swing mit Country, Jazz und 50er Jahre-Rock´n´Roll und macht richtig viel Spaß! Anspieltipp: "Double locked" mit seinem leichten Tarantino-Flair und der lässigen Mariachi-Trompete. (6,5)
http://www.myspace.com/leshaferflockenswingers
LAMERA – "Mechanically separated" (Label: Transhumanz Records, VÖ: out now)
(bc) Und schon wieder eine Deathcore-Scheibe, scheint ja in letzter Zeit schwer angesagt zu sein. Ich persönlich kann dieser Mischung aus Hardcore, Metalcore und Death Metal nicht allzu viel abgewinnen, aber dennoch muss ich LAMERA attestieren, dass sie ihre Sache auf "Mechanically separated" sehr ordentlich machen. Bei aller streckenweise auftretender Brachialität kommen Melodien und gedrosselte Parts in ihren Stücken nicht zu kurz, so dass das Gesamtmischverhältnis zwischen Atempause und Abrissbirne stimmt. Dennoch dürfte diese Band wohl eher Metal Hammer- als Blueprint-Leser ansprechen. (5)
http://www.myspace.com/lameraband
LENTO – "Live recording 8-10-11" (Label: Denovali Records, VÖ: 23.03.2012)
(it) Der Livesound des Albums steht LENTO gut zu Gesicht: die Gitarren klingen dreckiger, das komplexe und teils etwas verkopft wirkende Songwriting mit den vielen sich abwechselnden Parts wirkt geschlossener und an die gewaltige Energie von "Icon" reicht es mühelos heran. Die irgendwo zwischen OMEGA MASSIF und den frühen CULT OF LUNA sich bewegenden Italiener packen allerdings fünf Tracks von dem im letzten Jahr erschienenen "Icon" auf das ohnehin nur neun Stücke umfassende Live-Album. Wer jene Platte bereits besitzt, für den lohnt sich diese Veröffentlichung daher nur bedingt. Das ist ein großer Wermutstropfen für eine gelungene, aber etwas unnötige Scheibe. (6)
http://www.myspace.com/lento
LO FAT ORCHESTRA – "The second word is love” (Label: Sounds of Subterrania, VÖ: 30.03.2012)
(jf) LO FAT ORCHESTRA kommen fast genauso unbeeindruckt daher wie einst THE STROKES und beeindrucken damit umso mehr. Wenn eine Band sich vornimmt, nicht beeindrucken zu wollen und einfach das zu machen, was ihr gefällt, dann ist das um einiges authentischer. Und genau das hört man diesem Album an – Spaß und Authentizität, verzerrte Stimmen, dröhnende Synthesizer. Die Energie, die nicht in die kargen (aber dennoch originellen) Texte gesteckt wurde, findet man im schnörkeligen Gedröhne der übrigen Instrumente wieder. Welch angenehmer Spaß! (7)
http://www.myspace.com/lofatorchestra
PETRELS – "Haeligewielle" (Label: Denovali Records, VÖ: 10.02.2012)
(bc) Achtung: Menschen, die die Charaktereigenschaft "Ungeduld" ihr Eigen nennen, sollten tunlichst die Finger von dieser Veröffentlichung lassen! Denn wer darauf wartet, dass auf dem 50minütigen Solo-Werk des BLEEDING HEART NARRATIVE-Masterminds Oliver Barrett alias PETRELS irgendetwas Spannendes passiert, der wartet leider vergebens. "Haeligewielle" gleicht vielmehr einem tiefenentspannten Aquarell aus zerfließenden Klanglandschaften, die irgendwo zwischen den Fixpunkten "Ambient" und "Drone" an einem vorüberziehen. Wenn jemand einen Tipp für mich hat, welche Drogen man zu diesem Sound am besten konsumieren sollte – immer her damit! (3)
http://www.petrels.bandcamp.com
PUTA MADRE BROTHERS – "It´s a long way to Meximotown” (Label: Rookie Records, VÖ: 23.03.2012)
(so) Schön, wenn einem fett gedruckt das Wort "Puta" von einer CD entgegen schreit. Ansonsten bleibt über das neue Album der PUTA MADRE BROTHERS aus Australien nur zu sagen: weiterhin Musik für den nächsten Tarantino- oder Spaghetti-Western und man fragt sich, warum es davon ein zweites Album geben muss. Das erste hätte da vollends gereicht. (3)
http://www.myspace.com/putamadrebrothers
SPARKY QUANO – "Jenga” (Label: Eigenregie, VÖ: out now)
(jg) Ein Album eines japanischen Solo-Gitarristen? Bitte nicht! SPARKY QUANO ist zweifelsohne ein Virtuose an seinem Instrument – was die Sache aber lustig macht, ist seine Herangehensweise. Das hat mehr mit PRIMUS oder auch den GOLDENEN ZITRONEN zu tun als mit PETER BURSCH oder YNGWIE MALMSTEEN. Der Nervfaktor liegt gern jenseits von gut und böse, aber dafür ist alles so experimentell und zudem mit einem Spannungsaufbau versehen, dass es auch nie langweilig wird. Mir aber dennoch zu anstrengend. (4)
http://www.myspace.com/sparkyquano
STURCH – "Long way from nowhere” (Label: Swell Creek Records, VÖ: 30.03.2012)
(mn) STURCH hatte ich irgendwie anders in Erinnerung. Vor einigen Jahren mal live gesehen, hat die Band damals auf der Bühne deutlich mehr Druck gemacht als auf dem neuen Langspieler. Intro und Outro sind so belanglos wie "The endless voyage I" und "II" (ebenfalls Instrumentalstücke). Ansonsten kombiniert das Quartett laute Gitarren mit zu poppigem Gesang, der so glatt ist wie ein Kinderpopo, und es gilt: Kennste einen Song, kennste alle. Früher war eben doch alles besser – zumindest STURCH. (3)
http://www.myspace.com/sturchmusic
SYNTONIC – "New old film” (Label: Finest Noise Records, VÖ: 27.01.2012)
(mn) Normalerweise erinnert eine Band einen sofort an eine andere oder hat irgendwas ganz Spezifisches. Bei SYNTONIC fehlen mir tatsächlich die Worte. Zu laut für Indie und zu brav für Punk. Irgendwie klingt das alles neu, zumindest für mich. Während sich andere Bands zwischen Stühle setzen, bauen sich SYNTONIC ihre ganz eigenen Sitzmöbel aus Punk, Pop, Indie, Funk und Alternative. Jeder Song ein kleines Experiment, das mal explodiert und mal verpufft. Diese Band traut sich was. (8)
http://www.myspace.com/syntonicmusic
THE 4 EVAS – "Break out” (Label: Finest Noise, VÖ: 30.01.2012)
(jf) Ich bin ja schon etwas erleichtert, dass sich hinter THE 4 EVAS nicht wirklich vier Frauen verbergen und dass das Album entsprechend dem Titel "Break Out" auch ziemlich auf die Fresse ist und kompromisslos nach vorn prescht. Zum Glück brechen allerdings einige Tracks des Albums, wie zum Beispiel das verschnörkelte "Gave my all", aus dem Muster heraus und reißen mit poppigen Hymnen eine Schneise durch das ansonsten durch und durch eintönig gehaltene Werk der Kalifornier. (5)
http://www.myspace.com/thefourevas