Wie vielen der 420 zahlenden Gäste in der Epiphaniaskirche war wohl bewusst, dass ERDMÖBEL in der Achse Hamburg–(Ost-)Westfalen Mitte der Neunzigerjahre Musikgeschichte geschrieben haben? Neben KOLOSSALE JUGEND, BLUMFELD, DIE STERNE, BERND BEGEMANN und Co etablierte sich eine deutschsprachige Indie-Pop- und Indie-Rock-Szene, die mit mal mehr und mal weniger gesellschaftskritischen, poetischen, klugen oder auch kauzigen Texten für Furore sorgte. Mit ordentlich Kreativität und (Selbst-)Bewusstsein ausgestattet formierte sich im Dunstkreis der „Hamburger Schule“ eine interessante Musikszene, die bis heute rege ist. Die nette Vorband des Abends BUHAI beispielsweise (Kraut/Pop aus Berlin) würde es so ohne diese musikalischen Väter und Mütter nicht geben. ERDMÖBEL trugen ihren schöpferischen Teil bei, beginnend 1996 mit dem ersten Album „Das Ende der Diät“. Vergleiche mit den Berlinern ELEMENT OF CRIME sind zwar eher schief als eben, aber auch nicht ganz verkehrt. Zumal auch ERDMÖBEL-Sänger Markus Berges mit „Ein langer Brief an September Nowak“ und „Die Köchin von Bob Dylan“ zwei feine Romane veröffentlichte – allerdings kommerziell längst nicht so erfolgreich wie ELEMENT OF CRIME-Sänger Sven Regener seine literarischen Werke unter die Leute zu bringen vermochte. Mit der eher countryesken Band FINK gibt es noch eine musikalische Bezugsgröße – und an dieser Stelle soll an den großartigen FINK-Sänger NILS KOPPRUCH erinnert werden, der 2012, so lange ist es schon her, viel zu früh verstarb. Mit dem Album „Altes Gasthaus Love“ (2003), in Anlehnung an Münsters älteste Gaststätte „Altes Gasthaus Leve“, spielten Bläser eine zunehmend größere Bedeutung im Werk der ERDMÖBEL. Mit „No.1 Hits“ (2007), zu diesem Zeitpunkt schon lange Zeit in Köln angesiedelt, zeigten die ERDMÖBEL dann auch ihre Freude am Klamauk. Der VENGABOYS-Coversong „Auf und ab“ („Up and Down“) wird beispielsweise heute noch regelmäßig in Gremmendorfs U100 als Begleitmusik für Kräftigungsübungen eingesetzt – und wahrscheinlich nicht nur dort.
Nun zur Weihnachtstour. Wer den ERDMÖBEL-Hintergrund nicht kennt oder wem er schnuppe ist, was vollkommen in Ordnung ist, könnte denken, die kauzigen Kölner sind eine manisch-depressive Karnevalsband. Jedes Jahr, das weiß man nun, kommt ein weiteres Weihnachtslied zum mittlerweile über einem Dutzend Lieder zählenden Œuvre der Band hinzu. Lieder rund ums Fest, zwischen den Jahren und Neujahr, zwischen Kommerz und Schmerz. Das Schöne: die Songs sind meist auch auf den Studioalben zu finden, eignen sich aber komprimiert auf dem Album „Geschenk“ hervorragend als Geschenk… und es existiert sogar ein Liederbuch namens „Geschenk“ mit Texten und Noten zum Nachspielen, ein tolles weihnachtliches, nennen wir es: Präsent! Vergangenes Jahr wurde in Münster ab „Das Leben ist schön“ das Tanzbein geschwungen, in diesem Jahr wurde das Publikum über „Blinker“ und „Goldener Stern“ in Wallung gebracht, bevor dann, durchgeplant und programmiert, bei „Ding Ding Dong (Jesus weint schon)“ wirklich alle Dämme brachen. Trotz „Tanzverbot“ (Berges) zog das diverse Volk durch die Kirchenreihen und übte sich in Silly-Walking und Polonaise. Dann rief Ekki Maas „Wir kommen“, und die Band war mittendrin. Irre. Als Zugabe dann „Das Leben ist schön“ und das Cover zu WHAMs „Last Christmas“ in der Extended-Version mit viel „La-La, La-La-La-La-La-Lalla“.
Persönlich bewegen mich „Ich wollte, die Welt ginge immer bergab“ und „Der letzte deutsche Schnee“ mehr als „Goldener Stern“ oder „Ding Ding Dong“. Aber tatsächlich ist das Weihnachtskonzert in der Kirche (Ansage des Orgateams: „Bitte keine Bierflaschen am Taufbecken abstellen“) auch mein Start in die Weihnachtsgefühlsduselei. Nach dem Konzert verriet Markus Berges, dass auch ein weiterer Roman in Planung sei. Ekki Maas konnte zwischen den Liedern noch eine „Fridays for future“-Botschaft unterbringen. Besser geht’s nicht, danke ERDMÖBEL: Frohe Weihnacht!