Es gibt Momente des Glücks, die man kaum fassen kann. Das müssen gar nicht die großen Dinge des Lebens sein (Hochzeit, Geburt des Kindes, …), manchmal sind es nur ganz kleine Sachen, die das Herz sofort höherschlagen lassen. Ein Busfahrer, der Dir einen guten Morgen wünscht, ein Eichhörnchen auf dem Balkon oder ein gutes Essen. In der ZEIT wurde auf der letzten Seite dafür sogar eine eigene Rubrik geschaffen unter dem Titel „Was das Leben reicher macht“.
Auch als Musikliebhaber kennt man solche Momente, wenn man seine Lieblingsplatte nach Jahren wieder aus dem Regal zieht oder aber auch auf so manchem Konzert. Ich persönlich empfand so ein Glücksmoment, als ich in meinem Postfach eine Promomail mit dem Namen „BRAZEN“ im Betreff fand. Doch nicht etwa die Band aus Genf, die vor allzu langer Zeit mit ihrem Debütalbum „Orphaned“ eines meiner Allzeit-Lieblingsalben veröffentlichte?
Doch! Sie sind es tatsächlich. Und in der Mail wird eindeutig untertrieben, wenn davon gesprochen wird, dass sich BRAZEN nach einer langen Pause zurückmelden. Die „lange Pause“ beläuft sich auf mehr als 20 Jahre bis zu ihrem Debüt, 2006 erschien mit „Aura, dora“ noch eine zweite Platte, die nicht mehr ganz mit dem Debüt mithalten konnte, und das war auch das letzte Lebenszeichen von ihnen. Und plötzlich erscheint ein neues Album von ihnen!
Ich wollte sofort eine Flasche Sekt öffnen, bis ich kurz innehielt und mich fragte, ob die Erwartungshaltung meinerseits nicht vielleicht ein wenig zu groß sein könnte. Auf ihrem Debüt boten sie eine unglaublich tolle Mischung aus breiten Gitarrenwänden, komplexen Songstrukturen mit versteckten, aber umso eindringlichere Melodien. Schubladisiert irgendwo zwischen Post-Hardcore, Indie und Noise mit ein paar dezenten Prog-Einflüssen. Doch wie groß würde überhaupt die Wahrscheinlichkeit sein, dass sich die Bandmitglieder zwanzig Jahre später noch immer für dieselbe Musik begeistern würden?
Aber egal. Erst mal drauf einlassen und schauen. Ist es nicht schon allein hervorragend, dass sich eine vergleichsweise kleine Band nach so langer Zeit wieder zusammenfindet? Also hören wir das Album mal ganz unvoreingenommen durch und lassen uns überraschen.
Gesagt, getan. Und ja, ich muss zugeben, ein zweites „Orphaned“ haben sie mit „Distance“ nicht gerade veröffentlicht. Und doch lassen sich die typischen Merkmale, die die Band immer ausgezeichnet haben, nach wie vor ausmachen. Seien es die komplexen Songstrukturen, die ständigen Wechsel zwischen verschiedenen Harmonien und Tonarten, die ausgefeilten Arpeggien auf der Gitarre oder das markante Schlagzeugspiel, das sich nicht in typischen Vier-Viertel-Rhythmen bewegt, sondern stattdessen die einzelnen Songparts unterstützt. Und selbst die versteckten Melodien, die sich noch nicht beim ersten Hören offenbaren, lassen sich erkenne. Aber es gibt auch eine Menge Veränderungen. Die Postcore-Wurzeln sind maximal noch zu erahnen, die Produktion ist um einiges besser und differenzierter als damals und die Progrock-Einflüsse kommen 2024 mehr zum Vorschein. Nicht gerade meine Lieblingsmusikrichtung.
Aber ist das schlimm? Bin ich nicht selbst ein Freund der Redewendung „öfter mal über den eigenen Tellerrand schauen“? Es ist wahrscheinlich der direkte Vergleich, der es für mich so schwer macht, das neue Album auf Anhieb gut zu finden. Vielleicht sollte ich mich einfach mal auf mehr Prog einlassen. Und ganz so viel Postcore wie damals höre ich inzwischen doch auch nicht mehr, oder? Im Grunde wurde die Dynamik von damals reduziert und liegt nun mehr im Verborgenen, ähnlich wie die Melodien. Irgendwie schade.
Es wird wahrscheinlich noch ein Weilchen dauern, bis die Begeisterung von damals wieder zuschlägt. Und selbst wenn dem nicht so sein sollte, freue ich mich sehr, dass es BRAZEN wieder gibt. Jungs, kommt gerne nach Hamburg! Und packt bitte auch noch ein paar alte Songs mit ein, d’accord?