Das Alinae Lumr Festival muss sich für die Veranstalter und Veranstalterinnen anfühlen wie ein Festival in der Heimat. Genaugenommen ist es das auch, wohnen viele von ihnen doch mittlerweile in Berlin, kehren aber jährlich für ihr Herzensprojekt in das 9.000-Seelendorf in Brandenburg zurück, um dem Strukturwandel in der ostdeutschen Provinz etwas entgegenzusetzen. Seit mittlerweile zehn Jahren (Ausnahme: die Coronazeit) findet rund 50 Kilometer südöstlich von Berlin das charmante Alinae Lumr Festival statt. Mit unzähligen Bands, dem alljährlich auftretenden Richardchor Neukölln, aber inzwischen auch mit einem vielseitigen Rahmenprogramm, angefangen bei FLINTA-DJ-Workshops, über eine Wald-und Wiesenwanderung und Lesungen bis hin zu einem umfangreichen Kinder- und Jugendprogramm.
Auch für uns fühlt sich das Alinae Lumr inzwischen wie ein Besuch in der Heimat an, war es für mich persönlich doch schon das sechste Mal, dass ich dabei war. Man entdeckt den Dönerladen wieder, an dem man stets vorbeikommt, wenn man vom Marktplatz zur Burgbühne wechselt und man begrüßt den Barkeeper an der Cocktailbar, der dort jedes Jahr einen guten Umsatz zu machen scheint (auf Nachfrage jedoch antwortet: „Es läuft schlecht!“ Um mit einem Schmunzeln zu ergänzen: „… dit muss ick als Gastronom doch sagen, oder?“). Ein paar Veränderungen gab es im Laufe der Jahre aber auch, die Bühne auf dem Marktplatz wurde irgendwann auf die andere Seite verlegt und inzwischen scheint eine Arztpraxis in dem Haus neben dem Mühlenfließ eingezogen zu sein und hat für einen dekorativ bepflanzten Vorgarten gesorgt. Selbst Julia, die wir von der Pressepromotion kennen, treffen wir wieder, und man verfällt gleich in Gespräche, was sich geändert hat. „Du müsstest doch inzwischen ein kleines Kind haben, oder?“ „Ja, der Kleine ist anderthalb, und ich hätte ihn auch mitbringen können. Aber während des Festivals ist es doch etwas zu stressig.“ Ach, Storkow. Schön wieder da zu sein!
Dabei scheint es auch Schattenseiten in der Idylle zu geben, und man stellt fest, dass das Alinae Lumr nicht von den allgemeinen Problemen der Festivalbranche befreit zu sein scheint. Es musste gespart werden, und so gab es in diesem Jahr keine Konzerte mehr im Irrlandia Park und in der Kirche (mit der Ausnahme des oben bereits erwähnten Chors am Sonntag). Was wiederum dazu führte, dass diesmal keine Konzerte parallel zueinander stattfanden und sich die ganze Menge zwischen dem chilligen, aber in diesem Jahr sehr gut gefüllten Mühlenfließ, der frei zugänglichen Bühne auf dem Marktplatz und der Hauptbühne in der Burg hin- und herbewegte. Und man stellte vorab fest, dass die großen Namen der Indieszene in diesem Jahr ein wenig kleiner ausfielen. Ob sich DIE NERVEN oder INTERNATIONAL MUSIC tatsächlich als Headliner eignen würden? Am Ende kamen etwa 700 Besucher/-innen, und wir stellten fest, dass das Alinae Lumr auch ohne die ganz großen Namen ein sehr charmantes Festival ist, das man gerne besucht. Hier also unser Nachbericht.
Los ging es für uns am Freitag mit MEAGRE MARTIN – das heißt: auf dem Weg zu unserer ersten Band begegnete mir noch Daniel Spindler. Besser bekannt aus der PR von Sinnbus, aber auch als Bassist von DELBO. Deren tolle Platte „Havarien“ hatten wir noch auf dem Hinweg gehört und uns gewünscht, dass wie sie mal wieder live sehen könnten. Leider ist ihr Schlagzeuger Florian viel zu früh verstorben, während ihr Gitarrist Tobias hauptsächlich mit KLEZ.E aktiv ist. Erst im Nachhinein erfuhren wir, dass Daniel mit seiner neuen Band SCHLAF für die an Corona erkrankte JUNO LEE eingesprungen ist. Leider findet man online noch keine Musik von ihnen, wird aber sicher gut sein. Schade.
Doch zurück zu MEAGRE MARTIN. Aus dem Trio ist mittlerweile ein Quartett geworden, das sich um die in Berlin lebende US-Amerikanerin Sarah Martin (Gitarre und Gesang) gegründet hat. Im November letzten Jahres erschien das Debüt, und die Hitdichte, die sich dort andeutete, setzte sich auch auf der Bühne am Marktplatz fort. Schöne Indiepop-Perlen, oft im mehrstimmigen Gesang, live vielleicht noch eine Spur rockiger als auf Platte. Das gefiel sogar den kleinen tanzenden Kids vor der Bühne. Mir auch – im Nachhinein sogar mein Favorit des ersten Tages!
Am Mühlenfließ unter dem Apfelbaum spielten als nächstes SOPHE. Hinter dem Namen versteckt sich die Berlinerin Sophia Bicking, die zuvor bereits mit dem Duo SOPHIA & OLGA aktiv war und ihr Soloprojekt heute um drei weitere Musiker ergänzte. Stilistisch ging es vielfältig zu. Wir hörten hier Einflüsse aus Synthpop, Klassik und Jazz, aber auch eine Menge Popappeal heraus. Dass Sophia einer musikalischen Familie entstammt (auch ihr Vater und ihre Schwester sind/waren in Bands aktiv), glaubt man da sofort.
JOHN MOODS durfte vor fünf Jahren als Solist bereits das Alinae Lumr eröffnen. Hatten wir ihn damals verpasst, sollten wir ihn heute samt Band auf der Hauptbühne live sehen. Leichter, stark von den Achtzigern inspirierter Softrock, der auch optisch perfekt zur Miami Vice-Serie gepasst hätte – inklusive Querflöte. Mir persönlich ein wenig zu schwülstig waren JOHN MOODS aber genau die richtige musikalische Untermalung für eine laue Sommernacht, zu der gerne mitgetanzt wurde.
Hatte ich BROCKHOFF auf den letzten beiden Reeperbahn-Festivals aufgrund der Menge der dort spielenden Bands verpasst, sollte ich dies heute nachholen können. Und ich musste feststellen, dass sich die Musik der jungen Gitarristin und Sängerin live doch eine ganze Ecke rockiger gestaltete als in ihren doch sehr popmusiklastigen Musikvideos. Hatten wir JOHN MOODS noch in den Achtzigern verortet, entbrannte nun eine Diskussion, ob es sich eher um den Alternative Rock der 90er oder 2000er Jahre handelte. Jedenfalls sehr gitarrenlastig, laut und gut. Zwischendurch sogar mit Szenenapplaus bedachte postrockige Laut-Leise-Steigerungen und eine Frontwoman, wie sie sich ein A&R-Manager nicht besser hätte ausdenken können. Cuteness trifft auf Coolness – was braucht es mehr?
Für die letzte Band des Abends verschlug es uns noch einmal in die Burg, wo INTERNATIONAL MUSIC den Abschluss des ersten Tages bildeten. Ich frage mich manchmal, was die Popularität der Band (bzw. von DÜSSELDORF DÜSTERBOYS) ausmacht. Ist es dieser etwas schwer greifbare musikalische Stil aus Psychedelic, Kraut, NDW und Schrammelpunk? Die durchaus unterhaltsamen Texte, die gekonnt zwischen Kneipenromantik, Sven Regener-Prosa und Böhmermann-Empörung wechseln? Oder macht nicht gerade dieser Mix eben doch die Eigenständigkeit der drei Essener Jungs aus? Während ich noch über die Antwort grübelte, radelten wir mit geliehenen Rädern zurück in unsere Ferienwohnung. Ein schöner erster Tag.
Tag 2
Wie man seinen Tag in Storkow gestaltet, bis die ersten Bands wieder auftreten, bleibt einem selbst überlassen. Langeweile kam bei den vielen Optionen jedenfalls nicht auf. Wie wäre es mit einem gemeinsamen Stadtrundgang oder einen Besuch im Insekten-Paradiesgarten? Oder lieber ein Workshop über den Klimawandel oder was man gegen den Rechtsruck in der Gesellschaft unternehmen kann. Geleitet von Arne Semsrott, nicht ganz so bekannt wie sein Bruder Nico, dafür aber politisch nicht weniger aktiv. Das Wetter lud natürlich auch wieder zum Baden an einem der Seen ein während Fußballfans verfolgten, was in der ersten Runde des DFB-Pokals so passierte.
Bis man sich schließlich wieder vor einer der drei Bühnen traf, so wie zum Beispiel auf einem der Liegestühle vor der chilligen Bühne am Mühlenfließ. Dort hörten wir noch die letzten Klänge von OLICIA, einer Band aus Berlin und Leipzig, die für unseren Geschmack etwas zu esoterisch daherkam. Also widmeten wir uns dem Gespräch mit Timo Kumpf, dem Booker vom Maifeld Derby, der auch für einen Tag angereist war, um mal zu schauen, was so auf den anderen netten Festivals in Deutschland passiert.
Im Gespräch vertieft hätten wir beinahe den Auftritt von MIEKE MIAMI verpasst, was sehr ärgerlich gewesen wäre. Zum ersten Mal begegnet ist mir die Musikerin auf DLF Kultur, wo ihre aktuelle Platte „Montecarlo magic“ als sonnendurchflutetes Sommeralbum umschrieben wurde. Mir ist die Wahl-Brandenburgerin vor allem aufgrund ihrer unbeschwerten, leicht verspielten Herangehensweise ans Musizieren in Erinnerung geblieben, bei der am Ende eine sehr vielseitige Mischung aus Psychedelic, lässigem Cool Jazz und altem Westcoast Pop herauskommt. Insbesondere wenn sie von der Querflöte ans Saxophon wechselt, hört man auch ganz viel Soul heraus. Das kam auch in Storkow ziemlich gut an, so dass sie ihr Konzert mit den Worten „Es hat uns sehr viel Spaß gemacht auf diesem schönen Festival“ beendete.
Die SHYBITS aus Berlin hatte ich in der Coronazeit schon mal auf dem Reeperbahn-Festival gesehen, das damals unter pandemiegerechten Maßnahmen mit den entsprechenden Abstandregelungen durchgeführt wurde. Schön, dass diese Zeiten vorbei sind und man wieder ein wenig näher zusammenrücken kann. War mir das Trio, das sich aus Musiker/innen aus England, Italien und Südafrika zusammensetzt, als garagiger Indierock mit leichter Schieflage im mehrstimmigen Gesang in Erinnerung geblieben, fiel mir dies in Storkow nicht mehr auf. Gut möglich, dass das In-Ear-Monitoring dazu beigetragen hat. Durchaus schrammelig, aber auf angenehme Art und Weise!
Den psychedelisch angehauchten Elektro-Postpunk von GÜNER KÜNIER und die sanften Jazzklänge der PAPER THIEVES verfolgten wir nur mit einem Ohr, während wir uns den kulinarischen Köstlichkeiten auf dem Marktplatz widmeten. Die veganen Lachsbrötchen von Veganost hatten uns wieder genauso toll geschmeckt wie vor zwei Jahren, neu hinzu kam die Trüffelpasta, die zwar ein wenig teurer, aber nicht weniger lecker war.
Weiter ging es anschließend in der Burg mit MARIKA HACKMAN. Die Britin, die noch vor zwölf Jahren die bekannten Trenchcoats für Burberry präsentierte, zeigte sich auf der Bühne als gereifte Frau mit gutem alten Indierock und einer tollen Stimme. Mal verträumt, mal laut, zwischendurch mit magischen Elementen, die uns an den Shoegazing von SLOWDIVE erinnerten, die vor sechs Jahren auf derselben Bühne auftraten. Ein schöner Auftritt im Scheine des Vollmonds links über der Burg.
SALOMEA aus Köln boten im Anschluss daran auf dem Marktplatz einen interessanten Mix aus Jazz, Soul und HipHop-Beats, bei dem vor allem die warme Stimme von Sängerin Rebekka zu überzeugen wusste. Für unseren Geschmack insgesamt aber eine Spur zu poplastig, so dass wir uns vor der letzten Band des Abends noch einmal der Cocktailbar zuwandten.
Kurz vor dem Gig von DIE NERVEN meinte meine Freundin zu mir: „Endlich mal wieder ein männlicher Gesang!“ Schon lustig, da versucht man mit Unterstützung der Keychange-Initiative für eine Gleichstellung der Geschlechter in der Musikindustrie zu sorgen, und am Ende beschweren sich die Frauen über zu viele Sängerinnen. Auch gut möglich, dass ihr die letzten Bands einfach zu seicht waren und sie sich von DIE NERVEN etwas mehr Lärm erwünschte. Den sollte es auch sofort geben, und anscheinend hatten auch einige andere Besucher/-innen Bedarf nach etwas mehr Krach. So bildete sich vor der Bühne sogar ein Moshpit – ich glaube, so etwas hat es auf dem Alinae Lumr noch nie gegeben. Natürlich wurde im Laufe des Sets auch hier das Publikum wieder zur Ruhe ermahnt. Doch wo ich schon Konzerte erlebt habe, wo Sänger Max Rieger einzelne Zuschauer rausschmeißen ließ, die ihm zu laut waren, kommentierte er es heute mit: „Ihr seid ein unglaubliches Publikum!“ Ob dies lobend oder doch eher ironisch gemeint war, blieb offen, aber direkt im Anschluss ging es um so brachialer weiter. Und ich muss zugeben, dass ich beinahe vergessen hatte, was für eine tolle Live-Band DIE NERVEN immer wieder sind.
So war dies doch ein stimmungsvoller Abschluss, und meine Freundin zeigte sich im Fazit auch wieder recht versöhnlich und fragte nach, ob wir nächstes Jahr wieder nach Storkow fahren. Von mir aus sehr gerne. Bleibt die Hoffnung, dass die Macher und Macherinnen, Helfer und Helferinnen auch in diesem Jahr ihre Kosten decken konnten und Lust haben, dieses tolle und so wichtige Festival fortzuführen. Wer das Alinae Lumr supporten mag, findet hier die Möglichkeit, Merch im Shop zu bestellen, ehrenamtlich mitzuhelfen oder den gemeinnützigen Verein dahinter finanziell zu unterstützen. Damit dieses liebenswerte Festival noch möglichst lange bleibt!