Wenn der Sommer zu Ende geht und sich dem Herbst zuneigt, wird man gern ein wenig melancholisch. Man sieht die kürzer werdenden Tage vor sich, man kramt den Regenschirm und wärmere Klamotten hervor und stellt sich gedanklich bereits auf die anschließenden Minustemperaturen ein. Zugleich weiß man, dass es ein halbes Jahr dauert, bis es langsam wieder wärmer wird und man mehr Zeit draußen verbringen mag. Doch es gibt auch ein paar Highlights, auf die es sich zu freuen lohnt: aus kulinarischer Sicht steht die Pilz- und Wildsaison bevor, die Weine wechseln von Weiß zu Rot, und was spricht gegen einen Spaziergang durch buntes Laub oder ein Buch auf dem Sofa ganz ohne schlechtes Gewissen. In Hamburg gibt es für musikinteressierte Menschen ein weiteres Highlight, denn direkt an die Open Air-Saison schließt das größte Club-Festival Europas an, auf dem es jedes Jahr vor allem viele neue Bands zu entdecken gibt. Konkret bedeutet dies: 4 Tage Musik, rund 480 Konzerte aus 30 Nationen – und das alles auf einem sehr komprimierten Areal (laut Wikipedia hat der Stadtteil St. Pauli nur eine Fläche von 2,3 km²).
Doch wie geht man so einen Overkill an Konzerten am besten an? Die einen lassen sich treiben, die anderen bereiten sich akribisch vor und klicken sich schon Monate vorher durch die Vielzahl der Bands, um die spannendsten Newcomer gezielt aufzuspüren. Letzteres ist zwar aufwendig, steigert aber auch die Vorfreude. Selbst wenn sich kurz vor dem Festival ergab, dass ich den Mittwoch aufgrund einer Herbsttagung sausen lassen musste. Egal – kennengelernt habe ich die Bands vom Mittwoch indirekt ja trotzdem.
So ging es für mich nach einer Menge Stau auf der A7 also erst am späten Donnerstagnachmittag mit den letzten Klängen von GIRL AND GIRL auf dem Spielbudenplatz los. Ein erster Eindruck: man muss das Rad der Musik nicht neu erfinden, um die Zuschauer zu begeistern. Hauptsache es rockt! Cool, dass die Holländer gleich mehrmals auf dem Reeperbahn-Festival spielten – so sollte sich später eine weitere Möglichkeit ergeben, um sie live zu sehen.
Weiter ging es ein paar Meter weiter im Klubhaus St. Pauli, genauer gesagt im Häkken. Denn, das muss man hier dazusagen: Reeperbahn-Festival bedeutet nicht nur von Lieblingsband zu Lieblingsband zu hoppen, ein wenig bedarf es auch einer sinnvollen Routenplanung und der Abschätzung, wie voll ein Konzert werden könnte. Ansonsten schmerzen spätestens am zweiten Tag die Füße oder man ist enttäuscht, dass im Molotow mal wieder Einlassstopp herrschte. Das Häkken war ebenfalls sehr gut gefüllt, und CLOTHING CLUB aus dem dänischen Aarhus freuten sich, bei ihrer Deutschland-Premiere gleich vor voller Hütte spielen zu dürfen. Doch nicht nur das, auch die Stimmung war sehr gut, was man bei einem Trio mit instrumenteller Musik zwischen Jazz und HipHop nicht zwangsläufig erwarten sollte. Die Musik war jedoch so zugänglich, modern und voller Groove, dass es statt Szenenapplaus Szenen-Wohoooos gab und zwischendurch sogar ohne Animation mitgeklatscht wurde. CLOTHING CLUB – den Namen sollte man sich merken!
Direkt nebenan im Uwe ging es direkt mit SPOOKEY RUBEN weiter. Seit fast dreißig Jahren ist der gebürtige Kanadier nun schon solo aktiv, hierzulande konnte er vor allem durch seinen Titelsong für „Zimmer frei“ einen gewissen Bekanntheitsstatus erlangen. Einen Musiker, den man auf seiner persönlichen Bucket List schon allein aufgrund seiner vielen Veröffentlichungen abhaken muss. Was ich aber nicht erwartet habe, war der Entertainment-Faktor seiner Show. Irgendwo zwischen EROBIQUE, BERND BEGEMANN und Karaoke-Party sorgte er im Ranger-Look mit seiner One-Man-Show für beste Stimmung zu so früher Stunde. Zwischendurch hielt er das Mikro zum Mitsingen ins Publikum (die Texte wurden zum Mitsingen an die Wand projiziert) oder legte eine kleine Liegestütz-Session ein. Super Typ!
PHILINE SONNY konnte am N-JOY Reeperbus zwar viele interessierte Zuschauer um sich scharen, aber irgendwie fanden wir schon das Vorabinterview ein wenig merkwürdig, in dem es um ihre features und projects ging, und warum bei ihren Konzerten oft alte weiße Männer und junge Mädels sind. Vielleicht sollte man die Moderator/innen vorab darüber aufklären, dass gerade auf dem Reeperbahn-Festival so ziemlich alle Generationen vertreten sind, was uns absolut lobenswert erscheint.
Doch egal, so landeten wir letztendlich in der St.-Pauli-Kirche bei einem Solokünstler aus Belgien mit dem seltsamen Namen LOVERMAN. Doch nicht nur der Name ist gewöhnungsbedürftig, die Performance war nicht weniger schräg. Als ob man in einer antiken Kirche einen obskuren Tarantino-Film dreht mit einer Hauptperson, die wie eine Reinkarnation von ELVIS PRESLEY, gekreuzt mit einem Flamenco-Tänzer und DIGGER BARNES wirkte. Vollkommen überzeichnet, und gerade deshalb absolut überzeugend. Dazu eine tiefe Stimme und eine Persönlichkeit zwischen Anmut, Inbrunst und ADHS. Wer dachte, CHILLY GONZALES ist wahnsinnig, sollte sich erst mal LOVERMAN reinziehen. Kann man kaum umschreiben, muss man sehen!
Um die Show von LOVERMAN zu verarbeiten, kam das Konzert von ASTRAL BAKERS in Angie’s Nightclub genau richtig. Guter alter Indierock, recht unspektakulär, fast ein wenig altbacken. Aber manchmal braucht es eben etwas Bodenständigkeit, um sich in Musik wiederzufinden. Wen ich in der Musik der französischen Band noch wiederfand: BEN FOLDS, RADIOHEAD, PINBACK, SLOWDIVE. Dazu teils vierstimmiger Gesang und Musiker/Innen, die man sich gerne als Schwiegersohn oder -tochter wünscht: einfach nett. Unsere Lieblingssongs: „Beautiful everything“ und „Easy“.
Auf dem Weg zum Grünen Jäger und um nach so viel Wohlklang die Ohren mal wieder ordentlich durchzupusten, landeten wir kurz im Bahnhof Pauli, wo die komplett in schwarz gekleideten Isländer von MÚR noch ein ganzes Weilchen mit technischen Problemen zu kämpfen hatten. Umso intensiver ging es schließlich los: zwischen ISIS, BREACH und NEUROSIS, was für ein apokalyptischer massiver Sound! Und das bei einem Alter von geschätzten 20 Lenzen.
Im Kontrast dazu sorgten MARTA KNIGHT im komplett umgebauten Grünen Jäger wieder für etwas sanftere Töne. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal in dem kleinen Häuschen am Pferdemarkt war, aber hier hat sich bautechnisch einiges verändert. Gefiel uns aber gut! Ebenso die Musik der jungen spanischen Singer/Songwriterin, die uns ein wenig an die ebenfalls aus Spanien stammende NÚRIA GRAHAM erinnerte, die wir 2021 auf dem Reeperbahn-Festival sahen. Eine sanfte Stimme, ihr Anschlag der Gitarrensaiten ähnlich sanft, dazu dreampoppige Musik ihrer Backing Band. Das war alles so nett, dass es schon fast ein wenig in Richtung Harmlosigkeit driftete. Aber nur fast.
Wir mussten eh schnell weiter, um auf gar keinen Fall zu verpassen, wie sich GEORDIE GREEP nach seiner vorherigen Band BLACK MIDI allein verkauft. Doch alleine war Geordie nicht auf der Bühne im Knust. Zusammen mit fünf weiteren Musikern gab er Einblicke in sein Solo-Album, das Anfang Oktober das Licht der Welt erblicken soll. Freunde der wahnwitzigen Musik von BLACK MIDI können beruhigt aufatmen: auch seine eigenen Sachen sind an Komplexität und Irrsinn kaum zu überbieten. Wähnt man sich in einem Moment noch im Prog-Rock, wird im nächsten Augenblick schon wieder in Richtung Blues, Swing, Jazz, Experimental, Boogie Woogie oder vermehrt in Richtung Crooning à la FRANK SINATRA und NAT KING COLE gewechselt. Und wo ist nun der Unterschied zu seiner Vorgänger-Band? In meinen Augen hat Geordie mit BLACK MIDI die technischen Grundlagen gelegt, während er mit seinem Soloprojekt mehr auf das Bauchgefühl hört. Das virtuose Know-How hört man natürlich auch hier immer wieder heraus (allein das improvisierte Gitarrensolo aus Flageolett-Tönen!), doch scheint es Geordie inzwischen mehr um die Seele der Musik als um die Präsentation des technischen Könnens zu gehen. Mehr Platz für Jam-Sessions, weniger Gefrickel. Ein beeindruckendes Verständnis von Musik, das alles auf allerhöchstem Niveau – und das im Alter von gerade einmal 25 Jahren. Unglaublich! Was soll danach noch kommen? Für heute bitte nur das Bett!
Der Freitag begann für uns mit ISAAC ROUX. Nicht am Mopo-Bus, sondern am N-Joy-Bus – das ist der Vorteil, wenn Bands auf dem Reeperbahn-Festival mehrfach auftreten. Und uns reichte auch schon ein Showcase von 15 Minuten, um festzustellen, dass ein Songwriting-Studium nicht ausreicht, um unterhaltsame Songs zu schreiben. Vielleicht zählten wir aber auch einfach nicht zu seiner Zielgruppe, die sich zweifellos im Mainstream verorten sollte.
Also rüber ins Uwe, wo PALLMER mit ihrem indiefolkigen Kammerpop den passenden musikalischen Soundtrack zu einer Dokumentation über ihre Heimat Kanada präsentierten. Nur leider fehlte der Film dazu, so dass uns die Musik doch ein wenig eintönig erschien. Fans von EINAR STRAY und MILDFIRE könnten schon wegen der streicherlastigen Instrumentierung durchaus mal ein Ohr riskieren.
Da wir vor dem Molotow wieder eine allzu lange Schlange sahen, schwenkten wir noch mal rüber zum N-Joy-Bus, wo MEAGRE MARTIN ihren netten Indierock präsentierte. Gefiel uns nicht ganz so gut wie kürzlich erst auf dem Alinae Lumr-Festival, zugleich entschuldigten sie sich aber, dass die leicht veränderte Instrumentierung eine Premiere für sie sei und sie abends wieder anders klängen. So schlimm war es dann aber doch nicht.
Etwas darkwaviger und elektronischer wurde es im Anschluss auf der Spielbude XL, wo MONTE MAI eine Neuinterpretation des 80er Jahre-Trends zum Besten gaben. Halb analog, halb digital, mit ein paar Einflüssen aus dem Shoegaze konnten das Trio aus der Schweiz problemlos das Interesse auf sich lenken.
Noch ein wenig exotischer wurde es anschließend im Thomas Read. Ein Laden, den man eigentlich nur zum Reeperbahn-Festival besucht, wobei er wie ein riesiger Pub wirkt, im Hintergrund aber eine eher kleine Bühne bietet. Dort verzauberten MUSSPELL aus Rumänien mit einer verträumten Mischung aus zarten Synthieklängen, zwei sanften Frauenstimmen und einem dezenten, aber durchaus komplexen Schlagzeugspiel die anwesenden Gäste. Da kreisten die Gedanken wie von selbst umher, und ich nahm mir vor, irgendwann auch noch mal eine Reise nach Rumänien zu machen. Muss einfach schön sein, wenn dort so gefühlvolle, mystische Musik entsteht.
Auf dem Weg ins Mojo hielten wir noch mal kurz am Spielbudenplatz inne, wo MOONPOOLS zunächst zwar eher unscheinbare Musik machten, die uns bei zunehmender Spieldauer aber immer mehr zu gefallen wusste. Wahrscheinlich ist das dem Genre des Shoegaze zuzuschreiben, mit dem auch Bands wie SLOWDIVE und MY BLOODY VALENTINE immer wieder zu gefallen wissen. Insbesondere der Song „Never mind“ hat mir von den Schweizern sehr gefallen und bleibt bereits beim ersten Hören hängen.
Vor dem Konzert von EL PERRO DEL MAR trafen wir eine gute Freundin, die uns berichtete, dass sie sich allein niemals auf solch ein trauriges Konzert gewagt hätte. Das ist durchaus nachvollziehbar, beleuchtet die Schwedin auf ihrem mittlerweile achten Album das Thema Tod und leistet zugleich Trauerarbeit, um den Tod ihres Bruders und den Suizid ihres Großvaters musikalisch zu verarbeiten. Stilistisch orientiert sie sich dabei an den Achtzigern und den Stilen Darkwave und Trip-Hop, belegt mit einer unglaublichen Schwere und Langsamkeit. Wenn Sarah Assbring dazu mit ihrer grazilen Stimme „Your silence makes me silent / In blankness do I roam / Forever in your dreams / I found a way to get to you alone“ intoniert, treibt es einem fast automatisch die Tränen in die Augen. Unsere Freundin musste bereits nach zwei Songs weiterziehen.
In der Nochtwache sahen wir danach einen Singer/Songwriter aus Sevilla, der bis vor kurzem noch zu zweit unter dem Namen I AM DIVE unterwegs war und deshalb nach wie vor von „wir“ sprach, wenn er über die Band von sich und seinem Kollegen José sprach. José musste aber aufgrund von Hörproblemen aussteigen, und so bewältigt Esteban nun alles mit seiner Stimme, Gitarre und dem Rest von Band alleine. Irgendwo zwischen Dreampop, Indiefolk und Musik für die große Bühne im Stil von INTERPOL gelang ihm das ausgesprochen gut, bei einem ruhigen Song schaffte er es sogar den ganzen Saal zum Schweigen zu bringen. Hut ab!
Im Backyard des Molotow bekamen wir, wie eingangs bereits erwähnt, die zweite Chance, GIRL AND GIRL noch einmal live zu sehen, nun jedoch von Beginn an. Und es bestätigte sich schon nach wenigen Minuten unser erster Eindruck: spitzen Liveband! Super Stimmung auf und vor der Bühne in Verbindung mit guter Tanzbarkeit und Songs, die bereits beim ersten Hören zünden – was will man mehr? Das erinnerte mich an Motorbooty vor rund 20 Jahren, als sich der Club noch am anderen Ende des Kiezes befand, THE STROKES regelmäßig auf dem Plattenteller landete und Jackson Irvine theoretisch noch in der E-Jugend spielte. Er war übrigens am Nachmittag auch bei GIRL AND GIRL am Start, wie er seine Follower via Insta wissen ließ und am nächsten Tag ein respaektables 0-0 gegen RaBa Leipzig herausholte. Sage da noch einer, Spitzensport und Musik passen nicht zusammen!
Als letzter Act des Tages entschied ich mich für MARUJA, meine Freundin für EFTERKLANG. Hätte mich auf jeden Fall auch gereizt, aber in diesem Fall stach der Newcomer die sichere Bank aus. Es war eine gute Entscheidung, bereits eine Viertelstunde vor Konzertbeginn den stets einladenden Backyard des Molotows zu verlassen und die Stufen zur Sky Bar hinauf zu nehmen, die bereits jetzt schon pickepackevoll war, während die Band aus Manchester noch mit dem Soundcheck beschäftigt war. Doch bevor es losging, wurde die Nebelmaschine noch mal ordentlich angeschmissen, so dass man bis zur Hälfte des Konzertes immer nur Teile der Band sehen konnte. Das war auch gar nicht nötig, denn sind oberkörperfreie mit Trainingshose bekleidete Frontleute nicht eh Schnee von gestern? MARUJA hatten aber auch musikalisch einiges zu bieten. Jazzcore mit Saxophon und ordentlich Adrenalin in den Adern, manchmal sogar Raps im Stil von THE STREETS, ansonsten aber eine Band, auf die sich sowohl Jazzliebhaber, Postpunk-Funs als auch Hardcoreler einigen dürften. Für meinen Geschmack etwas zu viel Testosteron in der Show, musikalisch aber erste Sahne. Die Briten schienen selbst auch ganz zufrieden mit ihrem ersten Gig in Hamburg und der zweiten Show in Deutschland. Es folgen noch Konzerte in der Türkei, Italien, Portugal, Spanien, Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Schweden, Norwegen, Irland, Finnland, Estland, Griechenland, Bulgarien, Rumänien, Serbien, Kroatien, Slowenien, Ungarn und der Slowakei – wenn hier mal nicht jemand das Touren auch gleich als Reisen nutzt! Auch wir reisten danach heim nach Winterhude. Gute Nacht zusammen!
Samstag, letzter Tag. So schön das Reeperbahn-Festival auch immer ist, so anstrengend ist es zugleich. Wir ließen den letzten Tag ein wenig ruhiger angehen, schauten zwischendurch auf dem Festival Village vorbei, wo feministische Kunst auf Ausstellungen über queere Lebensformen trafen oder in „Wastelands“ der Konsum und die Produktion von Müll im Alltag kritisch hinterfragt und in Kunstform gebracht wurde. Und wir schauten in einer Kiezkneipe ein wenig Bundesliga und trafen dabei auf gleichgesinnte Gladbach-Fans aus Freiburg.
Aber Musik gehörte selbstverständlich auch zum Abschluss wieder dazu. Mit ein bisschen Glück schafften wir es wieder ins Molotow, wo das Backyard bereits nachmittags rappelvoll war und die Band THE JOY für ungewöhnliche Klänge sorgte. A cappella-Pop von einer fünfköpfigen Boyband aus Südafrika mit Einflüssen aus Soul und HipHop und traditionellen Zulu-Klängen hört man eher selten in diesem legendären Kiez-Club. Selbst wenn anzunehmen ist, dass die meisten anwesenden Gäste bereits auf den Auftritt von Joan Wasser, besser bekannt als JOAN AS POLICE WOMAN warteten. Wer die Sängerin und Multiinstrumentalistin noch nicht kennen sollte, dem seien nur die Namen einiger Musiker genannt, mit denen sie bereits zusammengearbeitet hat: LOU REED, JEFF BUCKLEY, SHERYL CROW, SPARKLEHORSE, ELTON JOHN, DAVE GAHAN, RUFUS WAINWRIGHT – to name but a few.
Doch irgendwie war der Wurm drin, und so unterbrach Joan mehrmals ihren ersten Song, weil zunächst das Pianopedal verrutschte, sie es eigenhändig (selbst ist die Frau!) per Gaffa fixierte, es schließlich aber nicht mehr richtig funktionierte. Auch wenn sie sich davon zunächst merklich verunsichern ließ und sich mehrmals verspielte, tat dies der guten Stimmung keinen Abbruch. Das Gaffa-Tape wurde zunächst als Armreif umfunktioniert und mit den Worten „das verkaufe ich nachher für mehrere Millionen Dollar“ versehen. Ein Mann in der ersten Reihe ließ sich auf die Witzeleien ein, was Joan wiederum mit „Oh, man, I’ve got a comedian in front of the stage“ kommentierte. So war der halbstündige Gig viel zu schnell vorbei, und selbst bei einer Ikone wie JOAN AS POLICE WOMAN wurde bei der Einhaltung des straffen Zeitplans keine Ausnahme gemacht, was die Künstlerin und ihr Publikum zwar ärgerte, trotzdem aber souverän akzeptiert wurde. Auch aus Fairness gegenüber den weiteren Bands absolut richtig.
Im Nachhinein fragten wir uns, ob der 25 Club eigentlich identisch mit dem ehemaligen Clochard ist. Die Lage neben dem Hesburger-Imbiss, die Treppe hinauf und der Balkon sprechen jedenfalls dafür, von innen hat der Club aber nicht mehr im entferntesten Ähnlichkeit mit der abgeranzten Spelunke, die irgendwann in der Corona-Zeit das Zeitliche segnete. Dort traten JOOLS aus England auf und, to be honest, sie hätten auch im Clochard eine gute Figur gemacht. Der Sänger mit seinem Rüschenhemd und einem Dave-Mustaine-Gedenkschnauz, daneben die Co-Sängerin Kate Price im Lederbody und die Schlagzeugerin im Leoparden-Bikini – das war auch optisch schon einigermaßen special. Musikalisch ein bunter Mix aus Postpunk, Emo und Alternative Rock, das sorgte vor Ort für ausgelassene Stimmung und ordentlich Bierkonsum. Kiez und JOOLS – das passt wie Faust auf Auge.
Am Abend trafen wir uns mit Freunden noch mal im Backyard zu MARATHON, einer jungen Band aus Amsterdam, die, wie gestern auch GIRL AND GIRL, heute bereits zum zweiten Mal in der Draußen-Location des Molotows spielten. Und auch sie verbreiteten mit ihrem rauen Postpunk-Noise ordentlich Lärm, und das mit bis zu vier Gitarren und ohne Bass. Wobei ich mich aber festlegen möchte, dass das Mädel in der Mitte seine Gitarre irgendwie zu einem Bass umfunktioniert hatte. Vielleicht so ähnlich, wie Laura-Mary Carter von den BLOOD RED SHOES aus ihrer Gitarre sowohl einen Gitarren- als auch Bass-Sound herausholt. Das hatte Wucht und Intensität und ließ die Wehmut fast vergessen, dass dies vielleicht eines unserer letzten Konzerte im Backyard gewesen sein wird, da das Molotow zum Jahresende ja ins Moondoo umzieht.
Zum Ende des diesjährigen Reeperbahn-Festivals gab es noch mal ein kleines Highlight, das einigen Gästen vielleicht entgangen sein dürfte: in der St. Pauli-Kirche präsentierte EMILY KOKAL, besser bekannt als Sängerin und Gitarristin von WARPAINT, Einblicke in ihr bevorstehendes Soloalbum. Dabei sind „Einblicke“ keine Untertreibung. Manche Songs waren noch nicht fertig, so dass das Ende fehlte oder der Text noch nicht ganz feststand, dann gab es noch Coversongs aus der „Jesus Christ Superstar“-Rockoper und von JONI MITCHELL, die über ihre Mutter einen großen Einfluss auf sie hatte. Und, na klar, ein paar Songs von WARPAINT gab es natürlich auch. Mal saß Emily dabei mit ihrer Gitarre vorm Altar oder an einem weißen Flügel. Doch egal, welches Instrument sie einsetzte, zusammen mit ihrer zarten und wunderschönen Stimme, passte einfach alles zusammen. Dass das alles ganz weit weg von einem regulären WARPAINT-Konzert war, merkte man auch daran, dass Emily plötzlich recht abrupt die Bühne verließ und auch nicht wiederkam, weil die reguläre Konzertzeit abgelaufen war. Das wollten viele Zuschauer/innen nicht wahrhaben und blieben noch ein wenig voller Andacht in der Kirche sitzen. Ein schöner und sehr intimer Moment mit EMILY KOKAL von WARPAINT auf dem Reeperbahn-Festival 2024 in der St. Pauli Kirche, an den man sich noch in vielen Jahren gerne zurückerinnern wird!