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Reeperbahn-Festival 2020 (Hamburg)

Normalerweise beginnen die Nachberichte zum Reeperbahn-Festival gerne mit der imposanten Anzahl der auftretenden Bands, der beteiligten Spielstätten oder sonstigen Zahlen, die belegen, dass die jährliche Durchführung einer logistischen Meisterleistung gleichkommt. Doch im Corona-Jahr sieht alles anders aus. Da ist man heilfroh und zugleich verwundert, dass das Festival, wenn auch in minimierter Form, überhaupt stattfindet. Damit ist das diesjährige Reeperbahn-Festival zugleich eines der ersten „großen“ Festivals, das unter pandemiegerechten Maßnahmen durchgeführt wird, was die interessierte Musikwelt erneut aufmerksam nach Hamburg schauen ließ.
Wegen der Einreiseschwierigkeiten für ausländische Bands und unter Einhaltung der geforderten Hygiene-Standards musste zwar ordentlich an der Stellschraube gedreht werden, doch am Ende kamen summiert rund 80 Konzerte und etwa 30 Veranstaltungen für Literatur, Kunst und Film (statt im Vorjahr mehr als 900 Programmpunkten) zusammen. Die Zahl der Zuschauer wurde auf 2.300 Besucher pro Tag begrenzt (statt bis zu 15.000), anstatt bisher 90 Bühnen waren es in diesem Jahr etwa 20 Locations, die teilnahmen. Dabei fielen auch große Spielstätten wie das Docks, die Große Freiheit und die Elbphilharmonie als Spielort heraus, während gemütliche kleine Clubs wie das Molotow mit seinem Backyard erhalten blieben, bestuhlt wurden, dabei rund 50 Zuschauer (bzw. 40 Zuschauer im Backyard) fassen konnten und bei den Besuchern entsprechend begehrt waren.
Bereits an der Bändchenausgabe traf ich einen alten Bekannten wieder: Timo Kumpf, den Festival-Organisator des Maifeld Derby in Mannheim, das in diesem Jahr bereits vor COVID-19 eine einjährige Auszeit bekanntgab – alles richtig gemacht, Timo!

Los ging es am Mittwoch bei strahlendem Sonnenschein und spätsommerlichen Temperaturen im Biergarten vor der N-JOY-Bühne mit DAS PARADIES. Florian Sievers, zuvor bereits als eine Hälfte des Indiefolk-Duos TALKING TO TURTLES bekannt, offenbarte im Anschluss daran, dass sich sein erster Auftritt nach mehr als einem halben Jahr anfühlte, als ob man nach sehr langer Zeit wieder auf ein Fahrrad steige: etwas wackelig. Das bemerkte man als Zuschauer allerdings nicht. Die Stimmung war entspannt, nur wenige Zuschauer folgten seinem Kurzauftritt. Als DAS PARADIES bewegt sich Florian Sievers mehr im Bereich des Deutschpop, seine Texte besingen die „goldene Zukunft“. Dem einen vielleicht etwas zu glückselig, dem anderen in Zeiten von Mindestabstand und Maskenpflicht zumindest hoffnungsvoll. Nach zwei Songs war dann allerdings schon Schluss, wer mehr davon hören wollte, konnte abends im Michel seinem richtigen Auftritt folgen.
Ich hingegen folgte im Anschluss daran LÙISA auf der „Spielbude XL“. Konnte man die Konzerte auf dem Spielbudenplatz bislang auf der dortigen Freilichtbühne verfolgen, stand die Bühne selbst nun nur noch den auftretenden Bands zur Verfügung, während die Zuschauer davor Stehplätze auf abstandsgerechten Markierungspunkten einnahmen. Die Einhaltung der Plätze wurde von den anwesenden Securitys strengstens überwacht, der Zutritt zu den jeweiligen Locations wurde per QR-Code digital abgesichert. Insofern war es ratsam, seinen Handyakku an jedem Tag voll aufzuladen. Zudem wurde bei größeren Spielstätten darauf geachtet, dass auch der Auslass der Zuschauer kontrolliert vonstattenging. Alles sehr regelkonform, selbst wenn es mir doch etwas überambitioniert erschien, an einem Crepe-Stand als einzelne Person darauf hingewiesen zu werden, den Stand bitte auf der anderen Seite zu verlassen.
Doch kommen wir zurück zu LÙISA. Selbst wenn die Hamburgerin auf der Bühne fast ein wenig unscheinbar wirkt – auf ihre Stimmt trifft das nicht zu. Mit einem warmen, leicht rauchigem Timbre zelebriert sie zusammen mit ihrer Band zarten Indiepop in der Schnittmenge von BEACH HOUSE und FLORENCE + THE MACHINE. Schön arrangierte Songs mit einem noch schöneren Gesang. Ihre Fanschaft hörte ihr aufmerksam zu, wippte auf den Markierungspunkten leicht mit, und auch LÙISA wirkte so, als ob es ihr gefiel, endlich wieder live auftreten zu können.
Der minimalistische Synthiepop vom CAMEL POWER CLUB konnte mich jedoch nicht so recht überzeugen. Jedenfalls veranlasste die viertelstündige Kostprobe auf der N-JOY-Bühne mich nicht dazu, dem späteren Auftritt in der St. Pauli-Kirche sehen zu wollen.

Im Festival Village gab es neben der Fritz Bühne erstmals auch eine große Festival-Bühne, auf der AKUA NARU ihr Publikum mit einem Hybrid aus HipHop, Soul und Jazz vollkommen zu überzeugen wusste. Dass der US-Amerikanerin dies so eindrucksvoll gelang, muss deshalb besonders erwähnt werden, da sie vor einem weit verstreuten Sitzpublikum auftrat, wo viele Plätze nicht belegt waren. Auf Nachfrage, warum man denn einen so weit entfernten Sitzplatz zugewiesen bekam, sagte eine Ordnerin, dass die vorderen freien Plätze bereits belegt seien. Schwer nachvollziehbar, da sich kaum jemand am Bierstand aufhielt, aber offenbar mussten die Stühle erst wieder desinfiziert werden, bevor man sie ein zweites Mal belegen durfte. Einmal angefasst, schon potenziell kontaminiert. Schade. Doch LaTanya Olatunji, der Kopf hinter AKUA NARU, ließ sich davon die Laune nicht vermiesen und sorgte auch bei dem Sitzpublikum mittels Interaktion für eine gute Stimmung. Vielleicht irgendwann nach Corona noch mal auf dem Elbjazz unter ganz anderen Voraussetzungen. Zu wünschen wäre es ihr.
Im Anschluss daran wollte ich endlich mal wieder meinem Lieblingsclub auf dem Kiez, dem Molotow, einen Besuch abstatten. Zwar gab es dort in den letzten Monaten auch das eine oder andere interessante Konzert im Backyard, doch die Nachfrage nach den begrenzten Tickets war entsprechend groß. Booker Mario, der mir zufällig über den Weg lief, warnte mich zwar, dass es auf dem Reeperbahn-Festival nicht einfacher werden würde: 50 Sitzplätze im Club, 40 im Backyard. Und er sollte Recht behalten: die Menschenschlange reichte vom Molotow bis zur Großen Freiheit, irgendwann kam die Durchsage, dass der Club voll sei und es auch keinen nachträglichen Austausch des Publikums geben würde, wegen der bereits erwähnten Desinfektionsmaßnahmen. Mist. Und nun? Während ich auf meinem Handy nach einem Alternativplan Ausschau hielt und die Menschenansammlung sich in kürzester Zeit wieder auflöste, kam vom Molotow-Ordner die Durchsage, dass doch noch ein einzelner Sitzplatz frei sei. Manchmal hat man eben Glück! Denn Zutrittsprivilegien gab es für die Presse in diesem Jahr keine. So bekam ich einen Sitzplatz direkt neben dem Tresen zugewiesen – was will man mehr! Bier bestellt, PAAR geguckt. PAAR sind eigentlich gar kein Paar, sondern ein Trio aus München, das sich irgendwo zwischen den Eckpfeilern Post-Punk und EBM bewegt und mittels Bass, Gitarre, Drum-Computer und Gesang ein ziemliches Lärminferno zelebrierte. Da sage noch einer, Sitzkonzerte seien kein Punkrock! Dass Sängerin Ly Nguyen nebenbei als Yoga-Lehrerin und Elektro-DJane arbeitet, mag man kaum glauben.
Wo geht es weiter? Laut Plan war in der Nähe große Flaute, also ein kurzer Zwischenstopp bei Antep Gülbaba Köz (heißer Tipp: der Köfteteller!), bevor ich überrascht war, dass im Operettenhaus noch Einlass möglich war. Dort trat TINA DICO auf, eine dänische Folk-Sängerin, die vor drei Jahren noch die Elbphilharmonie ausverkaufte. Sie berichtete dem Publikum, dass man sie wegen Corona vorab darauf hingewiesen hätte, eine enthusiastische Stimmung zu vermeiden und die Zuschauer nicht zum Mitsingen zu animieren. Doch ihre Gratwanderung zwischen Indiefolk, Südstaaten-Country und Pop ist in der Summe so brav, dass man in den weichen Sesseln eher zum Wegdämmern als zum überschwänglichen Ausrasten animiert wird.
Zum Abschluss des ersten Abends schaute ich noch im gemütlichen Imperial-Theater vorbei, das überraschend auch noch Plätze frei hatte. SOFIA PORTANET wurde von der BBC bereits als „Germany’s next international pop star“ ausgezeichnet, und tatsächlich hat die gebürtige Kielerin mit spanischen Wurzeln, die zwischenzeitlich in Paris aufwuchs und im Kinderchor der dortigen Nationaloper eine klassische Gesangsausbildung genoss, eine Bühnenpräsenz, die man so nur noch selten findet. Mit Ansagen zwischen den Songs, die zum Teil mitten im Satz von Deutsch zu Englisch wechselten, boten sie und ihre Mitmusiker eine Mixtur aus NDW, Punk und Nouvelle Vague, mit Versatzstücken aus der Klassik, die ihresgleichen sucht. Dabei wirkte Frontfrau Sofia wie eine Kreuzung aus NINA HAGEN, MIA. und HILDEGARD KNEF, die in ihren Texten bisweilen auch Heinrich Heine und Rilke zitiert, um im nächsten Moment wie die junge NENA über die Bühne zu toben. Dass die Sängerin mehrmals von „ihrem Album“ sprach, offenbarte nicht nur ihr Selbstbewusstsein, sondern wahrscheinlich auch ihre Stellung in der Band.

Am zweiten Tag hatte ich Begleitung im Gepäck, was das Reeperbahn-Festival, wo man vier Tage am Stück viele Stunden auf dem Kiez verbringt, gleich doppelt so spannend macht. Doch leider fielen L’ECLAIR, die erste Band unseres persönlichen Timetables, aus, wie man uns am Eingang des Nochtspeichers erklärte. Dann also rüber in den Biergarten, um nebenbei eine Kostprobe von BUKAHARA auf der N-JOY-Bühne zu erhaschen. Eine stimmungsvolle Mischung aus Folk, Swing und einer Prise Ska, die viel eher an warme Gefilde als an ihre Heimatstadt Köln denken lässt und mich ein wenig an THE ANGELCY aus Israel erinnerte.

 

Im Imperial Theater trat anschließend TARA NOME DOYLE auf, die sich als Singer/Songwriterin selbst am Piano begleitete, während ein Gitarrist neben ihr für einen dezenten Background sorgte und ab und an eine zweite Gesangsstimme beisteuerte. Doch im Fokus stand ganz klar die zarte Stimme TARA NOME DOYLES, die ein wenig an TORI AMOS erinnerte und hervorragend zu den melancholischen Texten und leichten Pianosounds der Berlinerin passte. Das Set schloss die gebürtige Norwegerin mit einem folkloristischen Stück aus ihrer Heimat ab. Beeindruckend und sicherlich nicht das letzte Mal, das man von ihr hören wird!

 

Unser persönliches Highlight des Tages fand anschließend im großen Michel statt: GISBERT ZU KNYPHAUSEN zusammen mit KAI SCHUMACHER. Vor allem Letzterer hat mich vor gut zwei Jahren mit seinem rhythmisch sehr versierten Klavierspiel im Kleinen Saal der Elbphilharmonie ziemlich beeindruckt. Doch die beiden traten nicht nur zu zweit, sondern mit einem insgesamt zehnköpfigen Ensemble auf, das neben Gisbert an der Akustikgitarre und Kai am Klavier noch weitere Musiker an Streichern, Bläsern und Schlagzeug umfasste. In der Vergangenheit hatte ich tolle Konzerte im Michel gesehen, u.a. vor vier Jahren von Robin Proper-Sheppard, der hier Songs von SOPHIA solo performte, und auf dem letzten Reeperbahn-Festival vom PENGUIN CAFÉ, das mich klanglich so beeindruckte, dass ich mich anschließend beim Mischer für den tollen Sound bedankte. Doch heute schien der Tontechniker die Beschallung in dem hallenden Kirchenschiff nicht in den Griff zu kriegen oder ihr keine besondere Beachtung zu schenken. Von KAI SCHUMACHERs Klavier war im Zusammenspiel mit den anderen Musikern kaum etwas zu hören, während Gisberts Gesang so laut war, dass man im Hall nicht einmal die Texte vernünftig heraushören konnte. Beim Konzertmitschnitt von arte war dies anschließend nicht mehr zu hören, da die Mikros direkt vor den Lautsprechern platziert waren, aber für die aufmerksamen Zuschauer vor Ort leider ein Ärgernis.
So wechselten wir enttäuscht von der Hauptkirche St. Michaelis in die St. Pauli-Kirche am anderen Ende vom Kiez, wo TUVABAND aus Norwegen auftraten. Auf der Homepage des Reeperbahn-Festivals noch als Solokünstlerin angekündigt, versammelte sie heute jedoch eine gesamt Backing Band um sich herum. Doch was bei der alljährlichen Vorbereitung auf das Reeperbahn-Festival, dem Durchhören aller auftretenden Künstler, noch an die melancholisch-düsteren Momente von LAST DAYS OF APRIL und ANNE CLARK erinnerte, entpuppte sich am heutigen Abend als relativ belangloser Indiepoprock ohne jeglichen Wiedererkennungswert. Vielleicht muss die junge Norwegerin aber einfach noch ein wenig an ihrem Livesound arbeiten, verriet sie ihren Zuschauern doch, dass sie sich noch etwas unsicher fühlte, da sie erstmals live mit Gitarre auftrete. Zudem war der Sound auch in der St. Pauli-Kirche leider lauter als es nötig gewesen wäre.

So blieb immerhin noch ein wenig Zeit übrig, um MULAY im Bahnhof Pauli als letzten Act des Abends zu begleiten. Waren wir vorab auf eine NORAH JONES-ähnliche Stimmung mit gedimmten Licht wie in einer Jazz Bar zu später Stunde eingestellt, überraschte uns die Optik und Performance der jungen Frankfurterin doch ein wenig, die vielmehr an eine Table Dancerin in Susis Show Bar von gegenüber denken ließ. So richtig wollte das nicht mit dem warmen souligen Timbre ihrer Stimme und den minimalistischen Elektrosounds ihrer beiden Mitmusiker zusammenpassen, auch wenn ein älterer Herr aus der zweiten Reihe nahezu den gesamten Auftritt mit seinem Smartphone mitfilmte. Natürlich aus rein musikalischem Interesse.

 

Dass Corona nicht nur für besondere Vorkehrungen in Sachen Abstand, Hygiene und Digitalisierung sorgte, merkten wir spätestens am dritten Festivaltag mit den Absagen von CHARLOTTE BRANDI, NANA ADJOA, WEVAL und TORII. Alle vier Künstler zählten zu unseren persönlichen Favoriten des diesjährigen Reeperbahn-Festivals, die letzten drei hätten wir zum ersten Mal live gesehen. Da sie jedoch aus Gebieten stammen, die als internationale Risikogebiete ausgewiesen worden waren, wurden ihre Auftritte am frühen Samstagnachmittag auf der Webseite des Reeperbahn-Festivals abgesagt. So ein Mist aber auch!
So starteten wir mit JETTES auf der Spielbühne XL, doch offensichtlich hatten diese Idee auch zahlreiche andere Zuschauer, so dass wir das Konzert vom begrünten Mittelstreifen der Reeperbahn aus verfolgten – auch ohne vorgefertigte Markierungspunkte wurde hier der erforderliche Mindestabstand brav eingehalten. Bei JETTES handelt es sich um die Zweitband der GURR-Gitarristin Laura Lee, die zusammen mit dem Musiker Melody Connor Musik aus der Taufe hob, die Mitte der Neunziger in ähnlicher Form schon mal aus Seattle nach Europa herübergeschwappt ist. Vielleicht erinnerte sich der eine oder andere ja sogar noch an den Auftritt der SMASHING PUNPKINS vor 22 Jahren an gleicher Ort und Stelle. Ob es sich bei JETTES tatsächlich um ein internationales Projekt handelt oder ob die englischsprachigen Ansagen nur der Außendarstellung dienten, blieb bis zum Ende des Konzertes unklar. Darauf kam es aber auch nicht an. Vielmehr fragte man sich, warum grungiger Indierock eigentlich zwischenzeitlich in der Mottenkiste verschwunden ist, wenn er doch auch 2020 noch so kraftvoll klingt. Wie formulierte es der Spiegel so schön: kaum Innovation, dafür aber viel Energie. Der Spruch gefiel sogar Laura Lee, die ihn mit „lieber so als umgekehrt“ kommentierte.
Der Mainzer Rapper NEGROMAN überraschte im Anschluss daran auf der Fritz Bühne mit seinen klugen politischen Texten. Was auf den ersten Blick nach typischem Deutschrap mit Autotune-Effekten klang, offenbarte erst beim näheren Hinhören seine gesellschaftskritische Relevanz. Wie drückte er es selbst ganz passend aus: „Ein Auftritt von NEGROMAN bedeutet Unbehagen“. Den konnte man beim Publikum allerdings nicht beobachten, das das Geschehen eher gechillt auf dem Boden sitzend verfolgte. Die lustigen Ansagen zwischen seinen Songs konterkarierten gleichzeitig aber auch seine reflektierten Lyrics. Wahrscheinlich nimmt der gute Mann sich selbst gar nicht allzu ernst.
WE WILL KALEID traten auf dem Lattenplatz vor dem Knust im Anschluss den Beweis an, dass Elektropop auch anders klingen kann als das allgegenwärtige Einheitseinerlei. Das Duo aus Münster zelebrierte mittels elektronischer Drums, Keyboards und sonstiger Elektronik einen kühl anmutenden Mix aus Electronica, IDM, Klassik und Pop mit meinungsstarken Texten. Selbst die von mir oft kritisierten Autotunes auf dem Gesang wurden hier akzentuiert durchaus effektvoll eingesetzt. Wäre Corona nicht gewesen, hätten WE WILL KALEID im Frühjahr das Duo HUNDREDS auf seiner Deutschland-Tour supportet. Das hätte gut gepasst, lässt sich aber sicherlich zu einem späteren Zeitpunkt noch nachholen.
MÁNI ORRASON stammt zwar aus Island, lebt aber aktuell in Spanien und tourt mit seinen poprockigen Songs quer durch Europa. Dass dies trotz Corona so langsam wieder möglich ist, gefiel dem jungen Musiker offensichtlich richtig gut. Mit seinen zwei Mitmusikern fuhr er einen ziemlich breitbandigen Sound auf, der sich irgendwo zwischen ALL THE LUCK IN THE WORLD, KEANE, poppigen WOMBATS und HALF MOON RUN wiederfinden dürfte. Wie man massenkompatible Melodien hervorzaubert, schien für den gebürtigen Isländer jedenfalls kein Geheimnis mehr zu sein, und die Stimmung im bestuhlten Uebel & Gefährlich kann man durchaus als euphorisch bezeichnen.
Bei AMISTAD erhaschten wir auf den Lattenplatz noch die letzten Klänge, die Stimmung hier: ganz sanft, beinahe andächtig. Passend dazu wurde zum Schluss noch SURVIVORs „Eye of the tiger“ im Stile von SIMON & GARFUNKEL gecovert.

Als letzten Act des Abends hatten wir uns NIELS FREVERT herausgesucht. Zugleich erhofften wir uns von seinem Auftritt im Michel, den gestrigen Soundeindruck wieder revidieren zu können. Und tatsächlich funktionierte NIELS FREVERT viel besser in der großen Barockkirche als GISBERT ZU KNYPHAUSEN. Dies lag zum einen an der reduzierten Instrumentierung (Niels ließ sich nur von einer zweiten Gitarre, einem Cello und einem E-Piano begleiten), zum anderen an seiner tiefen Stimme und den Gesangslinien, die mehr Platz für den Raumklang ließen. Auch er selbst zeigte sich ganz ergriffen von der Atmosphäre und dem Klang in dem eindrucksvollen Kirchenraum. Ein würdiger Abschluss des vorletzten Festivaltags.

Am letzten Tag des Reeperbahn-Festivals statteten wir dem Festival Village einen Besuch ab, wo gemeinnützige Projekte um eine Spende baten, Künstler ihre audiovisuellen Konzepte präsentierten und Korea per LED-Leinwand und kabellosen Kopfhörern vier verschiedene Künstler vorstellte. Wir kamen in dem Moment an, als mit SANGJARU drei Asiaten mit weißen Puscheln auf dem Kopf eine schräge Mischung aus Klezmer, Weltmusik und Punk aus traditionellen Instrumenten entlockten. Schade, dass sie nicht live in Hamburg dabei waren.

 

Stattdessen sahen wir uns mangels guter Alternativen auch das zweite Konzert von NIELS FREVERT an, heute auf der Festival Village Stage. Wir hatten es bereits vermutet, und tatsächlich war es auch so, dass die Setlist zwar identisch mit der gestrigen war, dass Niels auf der großen Draußenbühne aber im Gegensatz zum Akustik-Set im Michel für eine verstärktes Live-Set mit E-Bass und Schlagzeug sorgte. Mir persönlich gefallen die akustischen Sachen besser, da Niels‘ warme Stimme dort besser zur Geltung kommt und er mich in verstärkter Form immer ein wenig an SELIG erinnert. Absolut professionell, aber leider auch ein bisschen zu glatt. Lustig aber zu beobachten, wie Gitarrist Christoph Bernewitz während eines Solos dreimal das Plektrum wegflog.
Hinter den SHYBITS steckt ein Trio aus Berlin, das sich multinational zusammensetzt: Sänger/Gitarrist Liam kommt aus Brighton, Sänger/Bassist Piero aus Italien und Schlagzeugerin Meg aus Südafrika. Ihre Einflüsse dürften bis zu den BEACH BOYS und NIRVANA zurückreichen, ihr garagiger Indierock erinnerte mich an erster Stelle aber noch mehr an Bands wie THE CRIBS und SKEGSS – nur leider wies der melodisch gedachte mehrstimmige Gesang live eine gewisse Schieflage auf. Schade.
Bei CHILDREN war auf dem Lattenplatz anschließend erkennbar, dass Corona-bedingte Maßnahmen oftmals zwar gut gedacht, in der Praxis aber eher unvorteilhaft umgesetzt werden. Der Lattenplatz wurde ja bereits vor dem Reeperbahn-Festival im Rahmen der Knust Acoustics-Reihe ausgiebig für Live-Konzerte genutzt, an einem Bierzelttisch durften bislang bis zu 8 Personen aus verschiedenen Haushalten Platz nehmen. Beim Reeperbahn-Festival waren die Vorgaben aber strenger, nun durften nur noch maximal zwei zusammengehörende Personen an einen Tisch rücken. Das hatte zur Folge, dass viele Tische nur einzeln besetzt waren, so dass viele Ticketbesitzer lieber von außen zusahen, wo der Blick besser war als von einem weit entfernten Tisch. Mit der Konsequenz, dass die Zuschauer draußen hinter dem Zaun enger zusammenstanden, als wenn die Tische zumindest zu viert besetzt hätte. Hätte, hätte, Fahrradkette. Egal. In der Summe wurden die virusspezifischen Maßnahmen von den Securities gut umgesetzt und, soweit wir dies erkennen konnten, von den Zuschauern auch bereitwillig akzeptiert. Zu den CHILDREN selbst: (Indie-)Pop mit starkem 80er-Einschlag, der uns bei den englischsprachigen Songs gut gefiel, bei den meist deutschsprachigen Stücken aber zu sehr an den ZDF-Fernsehgarten erinnerte.
Als letzten Act des diesjährigen Reeperbahn-Festivals hatten wir uns das Konzert von JAN VERSTRAETEN in der St. Pauli-Kirche ausgesucht. Was uns dabei erneut auffiel: die Fans, die einen Künstler unbedingt sehen wollen, kommen etwa eine halbe Stunde früher, um sich einen Platz zu sichern. Danach ist für eine Viertelstunde Flaute am Eingang, bis kurz vor Konzertbeginn der Rest der Zuschauer auftaucht. Wo der Mindestabstand definitiv nicht eingehalten wurde, war die kleine Bühne, denn die teilte JAN VERSTRAETEN sich mit sieben weiteren MusikerInnen, um sein Publikum in den nächsten 75 Minuten in seine eigene, leicht skurrile Gedankenwelt zu entführen. Musikalisch drückte sich dies in melancholischen Wiegenliedern, indielastigem Kammerpop auch weit entfernte Genres wie Tango, Punk und Bossa Nova aus. So wechselten Verstraetens aufwendig arrangierten Stücke von opulenter Orchestrierung im Stile von WOODEN ARMS und OWEN PALLETT zu zarten Passagen à la KINGS OF CONVENIENCE, dunklen Momenten in der Art von JAY-JAY JOHANSON bis hin zu RADIOHEADschen Kleinoden. Das hatte einen bisweilen musicalhaften Charme, der immer wieder in Richtung kleiner Gruselgeschichten abdriftete, was zum einen an Verstraetens verhaltener Art, aber auch an seiner inszenierten Bühnenshow lag, die neben einer cineastischen Kostümierung auch voodoopuppenartige Plüschtieren aufbot. Dass seine Coversongs von IGGY POP über DESTINY’S CHILD reichten, zeigt zudem auf, wie aufgeschlossen der Blickwinkel des jungen Belgiers ist. Unser diesjähriges Highlight des gesamten Festivals also als krönender Abschluss. Was will man mehr?