Nach der Corona-bedingten zweijährigen Pause hatten die Veranstalter des Alinae Lumr-Festivals wirklich alles richtig machen wollen. Man beteiligte sich an der Keychange-Initiative zur Gleichstellung der Geschlechter in der Musikindustrie, verpflichtete Acts von der Seite refugeworldwide.com, stellte ein Awareness-Team zusammen und ergänzte das Programm um diverse familienfreundliche Programmpunkte (z.B. Familienyoga und einen Imkerworkshop). Initiativen und Programmpunkte, die man so oder ähnlich auch schon beim Reeperbahn-Festival und dem Summer’s Tale-Festival in der Nähe von Lüneburg kennenlernen durfte und die zurecht staatlich gefördert werden. Alles sehr lobenswerte Absichten, und wer das Alinae Lumr bereits besucht hat, wird bemerkt haben, dass diese moralischen Vorstellungen auch von einem Großteil des Publikums mitgetragen werden. Und trotzdem passierte es am ersten Festivalabend, dass MYKKI BLANCO als letzter Künstler auf der Hauptbühne nach etwa drei Stücken wutschnaubend die Hauptbühne verließ und den Mischern Transphobie und Rassismus vorwarf. Was zur Hölle war passiert?
Vielleicht muss man an dieser Stelle etwas weiter ausholen. MYKKI BLANCO stammt aus einem afroamerikanisch-jüdischen Elternhaus, verkörpert die weibliche Bühnenfigur des US-Rappers, Produzenten und Labelchefs Michael David Quattlebaum und gilt als eine der wichtigsten Persönlichkeiten der LGBTQ-Community. Unbequem und konfliktfreudig ist MYKKI BLANCO meistens, er bezeichnet sich selbst als „schwule Transvestitin“, widerspricht jeglichen Gender- und Musikstil-Zuschreibungen und fiel zuletzt unter anderem dadurch auf, dass er dem VICE-Magazin Rassismus vorwarf, als man seine Musik mit HipHop assoziierte. Heute aber stimmte seiner Meinung nach der Bühnensound nicht – natürlich aus Gründen der Transfeindlichkeit und weil er der einzige schwarze Künstler sei. Letzteres stimmte faktisch eindeutig nicht, und auch der andere Vorwurf mag zumindest zweifelhaft erscheinen. Gut möglich, dass diese provokante Art auch ein Teil seiner Performance ist – wir fanden sein Verhalten gegenüber den VeranstalterInnen und Mitwirkenden nicht nur absurd, sondern äußerst respektlos und verließen daraufhin mit zahlreichen anderen Zuschauern seine Show.
Doch dies war im Grunde das einzige negative Vorkommnis am ersten Tag des durchweg friedfertigen Festivals. Für uns ging es zunächst mit einer ersten Ortsbegehung los, schließlich wollte man wissen, was sich in den letzten drei Jahren während der Pandemie an Storkow verändert hat. King Kebab war nach wie vor da und scharte einen bunten Querschnitt des Dorfes um seinen Imbiss. Er bekommt jedoch inzwischen Konkurrenz vom Burger Döner Haus schräg gegenüber, das aber noch nicht so gut zu laufen schien. Weiterhin gab es noch die Pizzeria Milano, die ihr Sortiment mittlerweile um Shawarma erweitert hat. Bezahlung ist nun auch per paypal möglich, EC-Karte aber noch nicht. Das Altstadtcafé ist eh über jeden Zweifel erhaben – hier wird man bereits seit 1979 mit Leckereien verköstigt und bekommt neben dem Pitti Platsch-Kindereis seit kurzem auch einen Rhabarberbecher. Gentrifizierung lässt grüßen! Eis aus dem Glasbecher aber bitte nicht im Strandkorb essen! Na klar, draußen gibt es ja schließlich auch nur Kännchen!
Im kleinen Festival-Büro angekommen, wo man sein Ticket gegen ein Bändchen eintauscht, begrüßte uns Julia, die beim Alinae Lumr für die PR und das Marketing zuständig ist. Ihr Babybauch hielt sie nicht davon ab, auch 2022 vor Ort mitzuwirken. Schließlich war es das erste Festival seit drei Jahren, was sie auf keinen Fall verpassen durfte. Corona machte ihnen in der Planung schon zu schaffen, wie sie uns berichtete. Doch wir wagen eine vorsichtige Prognose: das Alinae Lumr schien auch ohne allzu große Zugpferde ziemlich gut besucht zu sein – hoffen wir, dass auch an den festivaleigenen Ständen ordentlich Umsatz gemacht wurde.
Unser erster Act war ALBERTINE SARGES, die mit ihrer Band auf dem Marktplatz spielte, etwa 20 Meter vom Festivalbüro entfernt. Die Stimmung passte zum Wetter – leicht und locker, angenehm sommerlich. ALBERTINE SARGES ist dem einen oder anderen vielleicht noch als Live-Gitarristin und -Sängerin von KAT FRANKIE bekannt, in der Corona-Pause gründete sie schließlich ihr eigenes Soloprojekt. Die Musik changiert zwischen Schrammelrock, Indiepop und Entertainment. Passend dazu motivierte sie auch die Kinder in der ersten Reihe mitzutanzen.
Ebenfalls gut zum Tanzen eignete sich die Clubmusik von VIO PRG, eine rumänische DJane, mittlerweile resident in Berlin. Doch das Publikum hatte zu so früher Stunde und sommerlichen Temperaturen mehr Lust, neben dem Mühlenfließ auf dem Rasen zu chillen. Vielleicht war dies aber auch genauso beabsichtigt.
Wem es draußen zu heiß war, hatte auch die Möglichkeit, sich in dem alten Gemäuer der Storkower Kirche auf den alten Holzbänken niederzulassen und den souligen Klängen von CHARLOTTE DOS SANTOS zu lauschen. Die studierte Jazzsängerin mit norwegisch-brasilianischen Wurzeln orientiert ihr aktuelles Set aber viel mehr an südamerikanischen Klängen mit einem neosouligen Einschlag. Da ihr Konzert aber mit einer halbstündigen Verspätung anfing und unser heutiges Highlight eindeutig bei EMILIANA TORRINI lag, machten wir uns nach einer Viertelstunde auf den Weg zur Burg, um den Anfang nicht zu verpassen. Der verschob sich jedoch ebenfalls um eine halbe Stunde – eine etwas bessere Kommunikation (oder eine strengere Einhaltung des Zeitplans) wäre in diesem Fall sicherlich hilfreich gewesen. Aber egal, denn wir bestaunten derweil die vielen alten Instrumente, die bereits auf der Hauptbühne aufgebaut waren. Die Isländerin war heute nicht mit einer kleinen Backing Band, sondern zusammen mit dem achtköpfigen „COLORIST ORCHESTRA“ aus Belgien unterwegs. Dahinter stecken in der Leitung Aarich Jespers und Kobe Proesmans, die beide u.a. bei ZITA SWOON mitgewirkt und mit ihrem Avant-Klassik-Kollektiv neben EMILIANA TORRINI bereits mit Künstlern wie HOWE GELD zusammengearbeitet hatten. Das verlieh den ursprünglichen Stücken einen ziemlich anderen Charakter, stand der indiefolkig-elektronischen Ausrichtung ihrer Songs aber durchaus gut zu Gesicht. Wer EMILIANA TORRINI nur von ihrem Radiohit „Jungle drum“ kennt, sei an dieser Stelle motiviert, sich mal durch das sonstige Repertoire der Isländerin zu hören. Bereits seit 1995 veröffentlicht Torrini bereits Alben unter ihrem Namen, und immer wieder ist die Referenz mit ihrer Landsmännin (oder heißt es inzwischen Landsfrau?) BJÖRK zu hören. Torrini selbst dementiert diesen Vergleich, aber ich finde, dass es hier schon gewisse Parallelen gibt. Und natürlich wurde am Ende auch noch ihr oben genannter Radiohit gespielt – in einer Version, die mir wesentlich besser gefiel als das Original. Ein tolles Konzert. Übrigens das einzige in Deutschland in diesem Jahr!
Danach folgte auf dem Marktplatz DISCOVERY ZONE, das Soloprojekt von JJ Weihl, besser bekannt als Sängerin und Bassistin der Berliner Indiepop-Band FENSTER. Doch wo FENSTER eher im Stile von TAME IMPALA und PARCELS agieren, scheint sie sich mit DISCOVERY ZONE mehr im 80er Synthpop à la C.C.CATCH und im Italopop zu Hause zu fühlen. Dazu einen Kir Royal von der Cocktail-Bar nebenan!
Zu MYKKI BLANCO hatten wir uns ja schon anfangs geäußert – also ab ins Bettchen, um morgen noch fit zu sein!
Wir übernachteten (wie auch in den Jahren zuvor) in der Storchenklause. Super Pension, gute Preise, vor einigen Jahren irgendwann modernisiert, aber auch mit ein wenig ostdeutschem spröden Charme. Die „Festivalgäste“ wurden beispielsweise zum Frühstück gemeinsam in einen Hinterraum an einen großen Tisch gesetzt, während der Wintergarten für die übrigen Gäste vorgesehen war. Dass man für sein Zimmer denselben Preis zahlte, spielte dabei keine Rolle. Dafür konnte man an dem großen Konferenztisch mit Musikern und Mitarbeitern des Festivals den gestrigen Tag noch mal Revue passieren lassen.
Anschließend ging es an den Badesee, denn das musikalische Programm startete erst gegen Nachmittag. Dort versammelten sich, wie auch in den Jahren zuvor, die Storkower in friedlicher Eintracht mit den ortsfremden Festivalgästen, letztere an den Festivalbändchen von den Einheimischen zu unterscheiden. Ein paar Meter weiter konnte man beim Familienyoga mitmachen oder sich im Biergarten eine Pommes mit einem Bierchen gönnen. Auch hier ein eher rauer Umgangston, während die gemütlichen Loungemöbel mit dem Stammtisch-Hinweis nur für das Personal reserviert sind.
Am Mühlenfließ ging es dann mit ANNA ERHARD, einer Singer/Songwriterin aus der Schweiz, los. Zuvor in der Band SERAFYN tätig, inzwischen auf Solopfaden unterwegs und sowohl textlich als auch musikalisch eher verträumt ausgerichtet mit persönlichen Anekdoten. Ein netter Beginn.
Ähnlich ging es auch in der Kirche bei OSKA weiter, wenngleich die Sängerin aus einem weiteren Alpenland, nämlich Österreich, stammt. So weihte sie das Publikum ein, dass sie nach einem besuchten Kirchenkonzert selbst den Wunsch hegte, in solchen Gemäuern aufzutreten, was sich nun endlich erfüllen sollte. Die Musik recht zart und indiepoppig, genauso anrührend die Geschichte, warum ihr langjähriger Kindergartenfreund eher durch Zufall nun zusammen mit ihr in einer Band spielt. Süß.
Im Irrlandia, einem kunterbunten Mitmachpark für kleine Kinder, hatten DAS PARADIES die Ehre, im Weidendom auftreten zu dürfen. Diese Location steht am Alinae Lumr-Wochenende nämlich nur einem Act zur Verfügung, beim letzten Mal im Jahr 2019 durfte hier MARTIN KOHLSTEDT seine Musik der Öffentlichkeit präsentieren. Dabei trat Florian diesmal nicht wie zuletzt auf dem Reeperbahn-Festival solo, sondern mit Backing Band auf. Mir persönlich gefiel das viel besser, auch weil die zum Teil neuen Songs schön arrangiert waren, wenngleich man das Saxophon kaum hörte und der Gesang manchmal etwas übersteuert war. Aber das störte hier niemanden, wie sich nach einer halben Stunde herausstellte, als Florian etwas durcheinander nachfragte, wie lange sie eigentlich spielen dürften. „Anderthalb Stunden!“ oder „So lange Ihr wollt“ waren die überschwänglichen Antworten seitens des Publikums. Nach 45 Minuten war dann aber trotzdem Schluss.
Weiter ging es dafür mit KAMAAL WILLIAMS in der Burg. Der gebürtige Londoner gilt schon länger als einer der aktivsten Musiker des UK-Jazz, wobei die Grenzen zwischen Jazz, HipHop und Funk in seiner Musik nahezu verschwinden. Sein Set kam sehr groovebetont daher, was sicherlich an seiner musikalischen Vergangenheit (bevor Williams ans Tasteninstrument wechselte, spielte er Schlagzeug), aber auch an seinem sehr begabten Drummer lag. Dazu also Williams am Keyboard und ein weiterer Musiker in der Mitte, der abwechselnd die Synthies, Trompete und diverse Modulationsgeräte bediente. Die Stimmung im Publikum war äußerst ausgelassen, was sich auch auf die Band übertrug, bis Williams schließlich eine Viertelstunde zu früh ins Mikro lallte „Let’s fucking get off the stage“. So taten sie auch, kamen aber kurze Zeit später zurück und Williams gestand, dass er bei den ganzen Festivals vollkommen durcheinandergekommen sei. Vielleicht lag dies aber auch am Alkohol – am Piano war ihm das allerdings keineswegs anzumerken.
Zurück am Marktplatz zog es uns zunächst zum Stand von Veganost. Egal, was man hier auch zu sich nahm: polnische Produkte wie Pelmeni und Piroschki, außerdem Lachsbrötchen und Quesedillas mit Krakauer – alles vegan, alles megalecker! Hier hat jemand seine Lebenseinstellung perfektioniert und selbst einen passionierten Fleischesser wie mich absolut überzeugen können.
Im Hintergrund dazu nahmen wir SIR WAS wahr und waren überrascht, dass uns die Musik der jungen Schweden live doch viel besser gefiel als beim flüchtigen Reinhören. Unprätentiöser, aber absolut charmanter Indiepop mit eingängigen Melodien und einer sehr relaxten Grundhaltung. Wahrscheinlich spielte hier auch das fehlende Frontman-Gehabe mit in unseren Eindruck rein, das perfekt zu der gesamten Festivalstimmung passte, wo wirklich jeder auf den anderen Rücksicht nimmt.
Als letzter Künstler des diesjährigen Alinae Lumr und wohl auch als Hauptact des zweiten Tages: BRANDT BRAUER FRICK. Bereits seit 2008 ist das Wiesbadener Ensemble nun schon aktiv und zeigt dabei immer wieder eindrucksvoll auf, wie gut sich doch analoge Instrumente mit einem elektronischen Gesamtsound verbinden lassen. Teilweise auch mit einem Ensemble unterwegs, traten die namensgebenden Hauptakteure heute nur zu dritt auf, links und rechts an den Synthies und Keys, in der Mitte an der Snare-Drum und einem Becken. Gut möglich, dass man es tatsächlich heraushört, dass die drei Herren eine klassische musikalische Ausbildung genossen haben, aber wenn man BRANDT BRAUER FRICK live sieht, hat man stets das Gefühl, dass ihre Musik irgendwie anspruchsvoller und tiefgründiger ausfällt als von zahlreichen anderen Elektro-Acts. Was aber keineswegs zu einem verkopften Zuhören führt, sondern in Storkow nahezu alle Zuschauer mittanzen ließ.
So bleibt am Ende nach zwei Jahren Corona-Pause unser Fazit: das Alinae Lumr setzt 2022 genau dort an, wo man 2019 aufgehört hat. Hier fühlt man sich wohl und zu Hause, egal ob mit Kindern oder ohne. Ein toller Ort, um den Alltagsstrapazen zu entfliehen, wo alles so schön nah beisammen ist und aufeinander geachtet wird. Auch wenn in diesem Jahr nicht allzu viele große Namen dabei waren, kamen die Zuschauer trotzdem, denn das Alinae Lumr ist mehr als nur irgendein typisches Festival, wo die Party und die Selbstinszenierung im Vordergrund stehen. Wir sind gespannt aufs nächste Jahr und mutmaßen bereits jetzt, dass wir uns Mitte August in Storkow wiedersehen werden.