Was hat das Alinae Lumr Festival mit Fußball gemeinsam? Eigentlich nichts. Und doch gibt es Parallelen. „Echte Liebe“, „Spürbar anders“ – die Marketing-Slogans diverser Fußballvereine lassen sich vortrefflich auch auf dieses kleine charmante Festival im tiefsten Brandenburg übertragen. So verwundert es nicht, dass unsere Truppe aus Hamburg von Jahr zu Jahr gewachsen ist und auch die Entfernung von mehr als 400 Kilometern scheinbar keine Rolle mehr spielte.
Doch was erwartet uns eigentlich in Storkow? Eine dörflich anmutende Kleinstadt, wo nachts die Bürgersteige hochgeklappt werden, die Preise für alles erschwinglich sind, naturbelassene Seen und ziemlich gut ausgewählte Musik. Ja, auf dem Alinae Lumr kann man formidabel entspannen. Und diese Wirkung macht süchtig – wo wir wieder bei der Ausgangsfrage wären. Doch lassen wir das Thema Fußball außen vor und widmen uns dem Alinae Lumr Festival. Das Wetter spielte in diesem Jahr fantastisch mit, und so ließ es sich tagsüber herrlich am See aushalten, während ab dem späten Nachmittag am Marktplatz, in der Burg, am Mühlenfließ oder in der Altstadtkirche die verschiedenste Musik erklang.
Unser diesjähriges Alinae Lumr begann am Freitagabend nach einer langen, staureichen Autofahrt mit den MAMMAL HANDS in der Kirche. Konnte man das Trio aus Norwich zu Beginn ihrer Karriere vorrangig auf diversen Jazz-Festivals sehen, so traten die drei Musiker zuletzt immer häufiger auch auf Indie-Festivals auf. Wobei man natürlich dazusagen muss, dass das Alinae Lumr ja seit jeher ein offenes Ohr für die Sparte Jazz hat. Doch die MAMMAL HANDS bewegen sich bewusst zwischen den Stühlen und ähneln damit in gewisser Weise ihren Labelkollegen GOGO PENGUIN, mit denen sie schon häufiger zusammen auf Tour waren.
Weiter ging es mit LÙISA – eigentlich hätten wir eine Mitfahrgelegenheit aufmachen können, doch tatsächlich hatte ich die Hamburgerin noch nie live gesehen, obwohl sie bereits mehrmals auf dem Reeperbahn-Festival aufgetreten ist und mit ihrer markanten Stimme und dem guten Gitarrenspiel aus der Masse der Bands durchaus hervorsticht. Man musste also erst nach Storkow fahren, bis ein Plan in die Tat umgesetzt wurde. In der Burg fiel auf, dass LÙISA mit der Singer/Songwriterin, als die sie gestartet ist, nur noch wenig gemeinsam hat. Mit der Band wurde es zum Teil richtig rockig, auch wenn es zumeist poppiger Indierock blieb.
Auf dem Marktplatz setzte sich unser letzter musikalischer Eindruck fort: auch MALENA ZAVALA begann ihren Auftritt ungewohnt (prog-)rockig, orientierte sich dann aber doch ziemlich schnell in Richtung Dream Pop. In Kombination mit ihrer zarten Stimme klingt das zwar sehr schön, bewegt sich allerdings auch immer recht nah am Grat zur Belanglosigkeit.
TAPES spielten als nächstes am Mühlenfließ. Diese Band ist nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Band, die kurzzeitig aus KIDS EXPLODE hervorgegangen ist, und auch nicht mit der Hamburger Band TAPE. Hinter TAPES verstecken sich Musiker von TELE, UNTER MEINEM BETT, CLUESO und diversen anderen Projekten, die ihre Instrumente perfekt beherrschen und eine ziemlich krude Mischung aus den Stilen Avantgarde, Noise, Jazz und Psychedelic machten. Klang es in einem Moment noch ganz sommerlich und leicht, wurde es im nächsten Augenblick recht schräg und ungreifbar. Unsere Einschätzung: Musik von Muckern für Mucker.
Nicht weniger ungewöhnlich, dafür aber etwas eingängiger ging es bei KUF im Burgsaal weiter. Elektronische Musik, die mit analogen Instrumenten (Kontrabass, Schlagzeug), Synthies und Gesangsamples in Echtzeit zusammengebastelt wurde. Mal wurde es soulig, dann jazzig, dann spacig. Insbesondere der sehr gute Drummer ist uns in Erinnerung geblieben.
Zum Abschluss des ersten Abends schließlich BLONDE REDHEAD in der Burg. Eine Band, an der sich die Geister scheiden. Ich muss gestehen, dass auch ich recht lange nicht nachvollziehen konnte, warum sich so viele musikinteressierte Menschen für dieses Trio aus New York dermaßen begeistern können. Für mich machten BLONDE REDHEAD damals minimalistischen Art-Pop mit schrägem Gesang. Bis ich vor einem Jahr ihre „3 o’ clock“-EP besprach und vor Ergriffenheit niedersank. So melancholische und tiefgehende Musik kannte ich bislang nur von Bands wie RADIOHEAD und THE NOTWIST.
Beim Alinae Lumr ging es mir ähnlich. Ich stand in der ersten Reihe, erfreute mich an den traurigen Harmonien und dem reduzierten aber effektvollen Zusammenspiel der Gebrüder Pace und der aparten Kazu Makino, während meine Freunde mich in der Mitte des Sets nervten, ob meine Andächtigkeit gespielt oder ernst gemeint sei. Kulturbanausen! Geht schlafen! Oder tanzen!
Tanzen wollten wir zum Abschluss des Abends eigentlich tatsächlich noch, aber ob es am Eurodance lag oder an der späten Stunde – die Beats wollten einfach nicht ins Blut, was vielleicht auch besser so war. Denn es sollten ja noch anderthalb weitere Tage folgen.
Den Frühstückstisch erreichten wir gerade noch rechtzeitig, in Brandenburg wird schließlich schon um 10 Uhr abgeräumt. Hatten wir in den letzten Jahren noch ziemlich weit entfernt vom Geschehen genächtigt und mussten dafür mit geliehenen Fahrrädern viele Kilometer über sandige Waldwege zurücklegen und so manchen militärischen Sicherheitsbereich passieren, so übernachteten wir diesmal in einer Pension, die sich keine 500m vom Markt entfernt befand und wo zum Teil auch die Bands einquartiert wurden. So verzichteten wir 2018 zwar auf abenteuerliche Fahrradtouren, konnten dafür aber umso mehr Zeit am Storkower See verbringen. Zum Beispiel mit einem Potsdamer, einem regionalen Biermischgetränk mit Himbeerbrause statt Zitronensprudel.
Und wenn das Potsdamer schon wieder schmeckt, konnte der zweite Festivaltag also starten. Wir passierten die punkigen IMBISS, um bei dem Duo BSI am Mühlenfließ Halt zu machen. LoFi-Indie-Riot-Grrrrl-Punk, bei dem die Attitüde und nicht das spielerische Können zählt. Dass sich Schlagzeugerin und Sängerin Sigurlaug Thorarensen mehrmals verspielte – Schwamm drüber. Dafür schimpfte sie auf Nazis, was heutzutage viel häufiger passieren sollte. Raist your fist und weiter geht’s!
Mit Andi Haberl auf der gleichen Bühne. Den Drummer kennt man hauptberuflich von THE NOTWIST, doch auch, wenn sein Name ein Soloset vermuten ließ, gesellten sich heute zwei weitere Musiker an Bass und Vibraphon dazu, letzteren kannte man ebenfalls von THE NOTWIST. Musikalisch ging es ähnlich zu wie bei TAPES: musikalische Spielwiese zwischen den verschiedensten Stilen. Manchmal jazzig, mal krautrockig, zwischendurch schimmerten immer wieder mal, klar, THE NOTWIST durch, insgesamt aber doch weniger songorientiert als der große Bruder.
2017 sahen wir AG FORM noch auf der kleinsten Bühne am Mühlenfließ, in diesem Jahr durften sie auf dem Marktplatz spielen. Im Anschluss an das Konzert sagte mir ihr Bassist, dass sie nun alle Bühnen bespielt hätten. Ja, die AG FORM kann man als so etwas wie die Hausband des Alinae Lumr bezeichnen, und diesen Status haben die Berliner vollkommen zurecht inne. Mit ihrem Post-Postcore erinnern sie mich immer wieder an Bands wie KARATE und TOE und beweisen zugleich, dass es keines Sängers bedarf, wenn die Musik spannend genug ist. Tolle Band, tolle Platte, wir freuen uns aufs nächste Jahr.
MOLDE spielten im Anschluss und wurden mir von der AG FORM empfohlen, ich kann verstehen, warum. Hatte man zuletzt immer häufiger den Eindruck, dass Bandduos meistens nach BLOOD RED SHOES, BLACK KEYS und ähnlichen Konsorten klingen, zeigten die beiden Jungs aus Leipzig, dass man auch spannenden Math-/Indie-Rock zu zweit machen kann. Aber für den kleinen Burgsaal war mir ihre Musik einen Tick zu schrammelig und der Saal zu warm. Dann besser von draußen zuhören und nebenbei einen leckeren Milchreis essen.
Wer bei dem Namen STEPPENKIND automatisch an STEPPENWOLF denken muss, liegt musikalisch vollkommen daneben. Stattdessen verbinden die Berliner EBM-lastigen No Wave mit Spoken Words ihres irischen Frontmanns Brendan Cleary. Das hatte zugleich etwas von JOY DIVISION, aber auch von DEPECHE MODE und sorgte für überraschend viele tanzende Zuschauer.
Eine andere Stimmung herrschte in der Kirche bei JAN ROTH. Wusste bereits sein Debütalbum zu gefallen, gab es im Vergleich dazu eine klare musikalische Weiterentwicklung hin zu seinem neuen Album „Kleinod“. Kann man auf „L.O.W.“ noch die Experimentierfreude des HUNDREDS-Drummers erkennen, die gelegentlich ein wenig ziellos wirkte, orientiert sich „Kleinod“ eindeutig im dunklen Jazzbereich, bei dem auch Zeit für ruhige Momente bleibt, was am Ende dazu führt, dass seine neuen Stücke eine angenehme Gelassenheit ausstrahlen und seine Musik wie eine besinnliche, würdevolle Nachtmusik klingen. Lobenswert erwähnen möchten wir an dieser Stelle auch Roths musikalisch sehr versierten Mitmusiker, insbesondere Fritz Moshammers glasklaren Trompetentöne. Unser Highlight des diesjährigen Alinae Lumr!
Auf dem Rückweg hielten wir bei NOGA EREZ aus Tel Aviv inne, die mit ihren politischen Botschaften und der modernen Interpretation elektronischer Musik in Kombination mit Popmusik bereits als Nachfolgerin von M.I.A. heiß gehandelt wird. Uns war die showartige Performance mit glitzerndem Outfit und zwei Live-E-Drummern aber zu theatralisch, so dass wir uns lieber der soeben entdeckten mobilen Cocktail-Bar zuwandten, bei der es jegliche Cocktails und Longdrinks für unschlagbare 4,50€ gab. Hätten wir das bloß eher entdeckt – oder besser nicht…
Stattdessen rüber zu den letzten Bands des Abends. Bei ÄTNA im Burgsaal war es leider zu voll, so geduldeten wir uns draußen auf den abschließenden Gig von SLOWDIVE in der Burg. Tagsüber hatten wir noch den Suppenhändler bedauert, der, wie wir annahmen, bei den hochsommerlichen Temperaturen in diesem Jahr sicherlich ein großes Umsatzminus zu verzeichnen hatte, doch so langsam wurde es unter dem sternenklaren Himmel ziemlich frisch. Also doch den lokalen Suppenmann vom „Kontaktgrill“ supporten, und tatsächlich: es war die beste orientalische Linsensuppe meines Lebens. Mjam! Mit dem knusprigen Brot dazu das beste Mittel, um sich von innen wieder aufzuwärmen. Okay, das Highlight hatten wir ja schon an JAN ROTH vergeben, dann kriegt dieser gute Mann aber den renommierten Blueprint-Stern für die beste Linsensupppe und den oben schon erwähnten Milchreis!
Kommen wir zum Abschluss des zweiten Tages: SLOWDIVE. Die Band hatte ich im letzten Jahr bereits auf dem Maifeld Derby gesehen – ebenfalls als letzte Band des Tages. Den Slot scheinen sie inne zu haben. Verglichen mit dem letztjährigen Gig gefiel mir der heutige Auftritt aber noch um einiges besser. Vermutlich lag es an der Burgkulisse und dem wirklich druckvollen Sound, was zusammen mit dem melodischen Gesang von Rachel Goswell für eine beeindruckende Atmosphäre und einen würdigen Abschluss des zweiten Festivaltages sorgte.
Am Großen Storkower See gefiel es uns so gut, dass wir auch am dritten Tag und bevor wir den langen Heimweg antraten noch mal für ein, zwei Stunden dort verweilen mussten. Und weil Traditionen bekanntlich gepflegt werden wollen, statteten wir auch dem Chor aus Neukölln wieder einen Besuch ab. Wobei wir feststellen mussten, dass Kirchenchöre und Hochsommer nicht ganz so gut zusammenpassen.
Wir sehen uns wieder im nächsten Jahr in Storkow und freuen uns schon jetzt drauf!