Es war von Anfang an klar: dieses Festival ist nicht das übliche, auf welches wir normalerweise gehen würden. Aber dennoch überwog vor einigen Monaten die Neugier: Was ist das für eine Veranstaltung, auf der Filz-Workshops. Yoga in etlichen Varianten, Kinderschminken und Kräuterwanderungen angeboten werden, doch zeitgleich Bands wie PJ HARVEY, PIXIES, THE NOTWIST und ELEMENT OF CRIME spielen? Die Neugier war auf jeden Fall gerechtfertigt. Also sitzen wir Monate später im Auto von Hamburg nach Luhmühlen. Bier gibt es zwar nicht, dafür aber Weißwein – schließlich muss das Getränk den Umständen angepasst werden. Nach gemütlicher Fahrt über modernisierte Dörfer – wir sind nicht im Osten hier, so viel ist klar – folgen wir der spärlichen Beschilderung zum Festival. Schnell kriegen wir unsere Pressebändchen und machen uns auf die Suche nach dem Crew-Campingplatz. Die Laune steigt, doch etwas ist anders, merken wir, als wir unseren Wein wahllos teilen wollen: Keiner nimmt unser Angebot an und die typischerweise trinkenden Massen fehlen komplett. Egal, bleibt mehr für uns. Wir bauen das Zelt auf und machen uns auf zu einer ersten Erkundung. Das Gelände ist am Donnerstag bereits gut gefüllt, doch bevor wir uns eine erste Meinung erlauben, holen wir uns ein Summer’s Ale. Die lokale Variante Bier, etwas süffig, süßlich sogar, kopfschmerzverdächtig. Wir setzen uns auf eine Holzpalette und blicken uns um. Das Erste, was uns klar wird: Wir fallen nicht auf. Im Gegenteil. Die ersten Grauhaar-Ansätzigen sind hier in der Überzahl, alles von Ende dreißig bis Anfang fünfzig. Dann eine Menge Kinder, vollständig vertreten von Milchsäugern bis zur Pubertät. Die Altersgruppe, die fehlt, tummelt sich wahrscheinlich gerade auf dem Wacken, dem Garbicz oder dem Nature One Festival. Kurzzeitig denke ich, dass ich auf mittlerem auch gerne wäre, anstatt hier, aber der Gedanke verfliegt. Keine Reue, nur Elektro ist dann auch zu viel. Mütter und Väter mit Kinderwagen ziehen vorbei, Kinder mit aufgeblasenen Einhörnern (ein Geschenk von Fritz Kola) und vereinzelt trinkende Grüppchen. Ein befremdliches Gefühl bleibt, als wir uns PJ HARVEY ansehen. Auch bei Polly Jean ist der Punk der Anfangstage verflogen, stattdessen umgibt sie sich heute mit einer illustren Big Band, die die wilden Songs von früher braver klingen lassen. Ich war nie besonderer PJ HARVEY-Fan und freue mich deshalb auf die PIXIES, die in der Tat kraftvoller sind als gedacht. Das Summer’s Ale ist mittlerweile trinkbarer geworden, und wir haben das Gefühl, auf einem wirklichen Festival zu sein, vor allem dann, als um Mitternacht die Discoscheune ihre Pforten öffnet. DJ Krümel versorgt die Menge mit Alternative Music, und bei RAGE AGAINST THE MACHINE fühle ich mich plötzlich wie auf einer Neunziger Party. Das Durchschnittsalter der Menge ist drastisch gesunken, und alles wirkt unglaublich stressfrei. Leider weiß ich nicht mehr genau wann, aber vielleicht gegen drei machen wir uns auf, um unser Zelt zu finden.
Meine Einschätzung bzgl. des Summer’s Ale war richtig, ist mein erster Gedanke, als ich mit üblen Kopfschmerzen aufwache. Heute nur Beck’s, als mittlerweile imperialistische Alternative hier angeboten, um zu überprüfen, ob es zu ebensolchen Katererscheinungen führt. An den kleinen, liebevollen Ständen gönnen wir uns für 4 Euro ein Rührei aus dem Tetrapak (so viel also zu lokaler Bauern-Unterstützung) und nehmen uns die Teilnahme an einem Yoga-Kurs vor. Doch schnell merken wir: die Workshop-Angebote sind gnadenlos überbucht. Ohne eine Stunde Voranmeldung – Minimum – geht hier nichts. Das mag möglich sein für Familien, doch für verplante Menschen, wie wir es sind, erscheint das nahezu unmöglich. Auch Spontaneität wird so nicht gerade gefördert. Also bedienen wir uns an den Kinderspielsachen und betreiben mit Radschlag und Handstand selbst etwas Impro-Yoga. Musikalisch begleitet wird dies von GET WELL SOON – passt irgendwie. Am Abend spielen THE NOTWIST und zeigen auch ohne Martin Gretschmann ihren Hang zu elektronischer Musik. Auch hier ist das Publikum durchmischt, und ältere Menschen, Kinder und Eltern mit schiebbaren Transportmitteln wechseln sich an unserer Seite ab. Doch das Neue ist: ich freue mich für sie, dass sie trotz Kindern an einem solchen musikalisch perfekten Konzert teilhaben können. Und genau an diesem Punkt mache ich meinen Frieden mit diesem Festival: es ist nicht für mich gemacht, ich muss es gar nicht mögen. Es richtet sich an diejenigen, die dafür kämpfen, dass ihr Leben mit dem Erscheinen von Kindern nicht vorbei ist. Dass Mensch das Leben auch anders gestalten kann als der Durchschnitt. Inwiefern dieses „anders“ vom Festivalveranstalter wirklich gefördert wird (bei „Komfort“-Familienzelten für > 700€, bei der Durchsuchung von Kinderwagen nach alkoholischen Getränken), sei dahingestellt. Für mich ist klar, das hier ist ein Geschäft, ein klares Geschäft, aber vielleicht ist es auch erst der Anfang. Vielleicht wird es besser, vielleicht das Angebot besser, ehrlicher. Doch möglicherweise will das auch niemand, und die Vorstellung, anders zu „sein“, reicht vollkommen aus. Mag es so sein. Mir ist es momentan recht. Ich hoffe nur, es entwickelt sich weiter. Leider ist bei uns nach THE NOTWIST die Luft raus, auch wenn wir es noch einige Stunden probieren. Die wissenschaftliche Überprüfung, ob Summer’s Ale einen stärkeren Kopfschmerz hervorruft als Beck’s bleibe ich dem interessierten Leser schuldig.
Der nächste Tag gestaltet sich kurz. Wir nehmen noch an einigen Lesungen teil, den Winzer-Anekdoten, dem Poetry Slam und ROCKO SCHAMONI, dessen Humor allerdings nicht so recht funkt. Das Gefühl, fehl am Platz zu sein, überwiegt. Vielleicht auch bei ihm. Doch nach wie vor: Das Festival ist nicht für uns gemacht, und so verlassen wir das Gelände um da zu sein, wohin wir gehören. Ohne Groll zu haben, da gewesen zu sein, wo andere hingehören.