Immergut, ach Immergut. Neunmal in Folge da gewesen und dann drei Jahre abstinent geblieben. In diesem Jahr habe ich mich noch mal rückbesinnt und festgestellt, dass das Immergut eines der angenehmsten Festivals war, auf denen ich mich in den letzten Jahren aufhielt. Da stört es auch nicht, dass das diesjährige Programm von vielen Festivalbesuchern als vergleichsweise „schwach“ wahrgenommen wurde – es geht hier schließlich um mehr als nur die auftretenden Bands.
Apropos mehr: Seit 2012 gibt es ja bereits einen vorgezogenen Indoor-Festival-Tag im sogenannten „Großen Haus“. Diesen zusätzlichen Tag ließen wir uns natürlich nicht entgehen, zumal drei Bands aus dem Norden Europas angereist sind, um zu zeigen, dass Norwegen mehr als nur kühles Klima zu bieten hat. Den Anfang machten SEA CHANGE – nicht zu verwechseln mit den britischen SEACHANGE – die eine angenehme Mischung aus minimalem Elektro à la ARMS AND SLEEPERS und zarten female Vocals auf die Theaterbühne zauberten. Dass ihr Equipment noch am Flughafen in Kopenhagen verweilte und sie sich die Instrumente zusammenleihen mussten, merkte man dem Duo kaum an. Auf den gemütlichen Theatersesseln musste man achtgeben, dass man nicht wegdämmerte – wobei dies keineswegs als Kritik gemeint ist. Nicht zu Unrecht wurden sie auch für die Fusion und als Support für KREIDLER gebucht. Merken!
Als nächstes wieder ein Mann/Frau-Duo, diesmal jedoch mit analogen Instrumenten. Analog heißt: Cello, Akustikgitarre, gelegentlich auch Klavier und Füße, die barfuß auf den Boden stampften. Und analog heißt vor allem: sehr viel Einblick in das private Seelenleben des jungen Herrn Pål Moddi Knutsen, der von Katrine Schiøtt am Cello begleitet wurde. Dass Moddis Stimme auf der einen Seite die Intimität eines NICK DRAKE abbildet und andererseits so abwechslungsreich wie BJÖRK klingt, macht es umso spannender. Momentan sind die beiden für drei Wochen per InterRail auf „Train-Tour“ quer durch Europa. Genauso merken!
Den Abschluss des Abends machten EINAR STRAY, die soeben ihr zweites Album eingespielt haben, das im Herbst veröffentlicht wird. Mehr dazu erfahrt ihr im Interview mit der Band, das hier in Kürze folgen wird.
Aber neben einem bevorstehenden Album gibt es zwei weitere Änderung zu vermerken: zum einen nennt man sich jetzt EINAR STRAY ORCHESTRA, um den Fokus auf die Wahrnehmung als Band zu lenken, und zum anderen hat Geigerin Hanna Furuseth nach der Albumproduktion die Band verlassen, um sich auf ihr Studium zu konzentrieren. Aber es gibt bereits einen Ersatz in Person von Åsa Ree, die heute ihr erstes Konzert mit ihnen gab und die Feuertaufe mit Bravour bestand. Ansonsten wurde das Set zur Hälfte mit alten und mit neuen Songs gefüllt, und Einar hatte nicht ganz Unrecht, als er im Interview vorab die neuen Songs als kürzer und knackiger umschrieb. Wer jetzt jedoch eine glattgebügelte Popband befürchtet, sei beruhigt: EINAR STRAY ORCHESTRA klingen 2014 noch immer wie die poppig-verqueren Indie-Jazz-Folker von damals.
Unser zweiter Tag und gleichzeitig der erste Tag des eigentlichen Immergut-Festivals begann recht entspannt. Die Anreise hatten wir ja schon hinter uns, das Programm startete erst nachmittags.
Zum Frühstück suchten wir eine Holzofenbäckerei in der Innenstadt auf, die wir am Tag zuvor auf dem Weg zum Landestheater bereits ausgespäht hatten. Unser Instinkt trog uns nicht – das Holzofenbrot und die Brötchen waren große Klasse!
Als wir anschließend den Campingplatz aufsuchten, mussten wir jedoch feststellen, dass wir uns in unserem Zeitplan getäuscht hatten. Offensichtlich hatten gestern bereits viele Festivalbesucher hier gezeltet oder waren zumindest vor uns dort angekommen. So blieb uns nichts anderes übrig, als einen entfernter liegenden Zeltplatz und einen noch viel weiter entfernt liegenden Parkplatz aufzusuchen. Da die nächtliche Disco jedoch bis um sechs Uhr morgens mit dicken Bässen über den Platz wummerte, und tanzwillige Festivalbesucher am zweiten Tag sogar bis 7:15 recht lautstark beschallt wurden, waren wir im Nachhinein recht dankbar, nicht direkt neben dem Festivalgelände gezeltet zu haben.
Doch starten wir am Nachmittag. Wir schafften es gerade rechtzeitig zu JAN ROTH, dessen Debütalbum mich zwar nicht so recht überzeugen konnte, aber der mir als guter Live-Act ans Herz gelegt wurde. Und siehe da: live hatte das einen ganz anderen musikalischen Anstrich. Vom Solo-Projekt zur Band angewachsen, hätte ich mir JAN ROTH genauso gut eine Woche zuvor auf dem Elbjazz vorstellen können. Und vielleicht wäre er dort sogar noch besser aufgehoben gewesen. Vor der kleinen Birkenhain-Bühne wurde leider recht viel gequatscht, aber mir haben seine sanften, angejazzten Piano-Klänge mit Begleitung gut gefallen.
Danach: TIERE STREICHELN MENSCHEN. Man kann sagen, was man will, aber ich glaube, dass die beiden Berliner mit anderem Namen nicht so wohlwollend von der Presse aufgenommen worden wären. TIERE STREICHELN MENSCHEN – darüber stolpert man, das prägt sich ein. Und vielleicht schmunzelt man auch über den Namen. Das ist jedenfalls die Absicht der beiden Berliner… äh.. was eigentlich? Autoren? Poetry Slammer? Entertainer? Ach, nennen wir sie doch Comedians. Das passt schon irgendwie. Schließlich verkleidete sich einer der beiden auch als Einhorn und spielte Gitarre dazu. Und sie erzählten neben einer Menge Erlebnisberichten auch ihre aktuellen Lieblingswitze. Mit dem Berliner Dialekt muss man sich als Nordlicht zwar erst einmal anfreunden, aber gelacht haben wir trotzdem nicht zu wenig.
MOZES AND THE FIRSTBORN durften anschließend die Hauptbühne eröffnen. Mit ihrem sommerlichen old school Indie-Rock eigentlich der perfekter Opener, aber selbst ihr veritabler Mitsing-Hit „I got skills“ wollte nicht so recht zünden. Für meinen Geschmack alles ein wenig zu kraftlos und austauschbar. Weil der Sommer sich langsam aber sicher in eine kühle Nacht verwandelte, zog es uns zwischenzeitlich zu den Zelten für wärmere Klamotten.
Zurück auf dem Festivalgelände hörten wir die letzten Klänge von JUDITH HOLOFERNES. Für mich ist zwar nicht ganz klar, warum man Zweitbands gründet, wenn sie sich von den Hauptbands kaum unterscheiden. Siehe auch SUPERPUNK/DIE LIGA DER GEWÖHNLICHEN GENTLEMEN. Die Zielgruppe scheint sich jedenfalls bei ihrem Soloprojekt kaum von WIR SIND HELDEN-Fans zu unterscheiden – auch hier hauptsächlich junge Frauen, die sich von JUDITH HOLFERNES persönlich angesprochen zu fühlen scheinen.
Mir gefielen die leicht vertrackten Momente in der Rhythmik von WYE OAK da schon etwas besser. Wobei sich die Komplexität klar in Grenzen hält, denn im Vordergrund steht noch immer der Pop-Aspekt. Aber den hat das Duo aus Baltimore nahezu perfekt und in seinem ganz eigenen Stil ausgearbeitet. Solcher Pop sollte gerne in den Mainstream-Radios viel präsenter sein!
HUNDREDS durften sich im Anschluss auf der Hauptbühne versuchen. Die Band, die vor fünf Jahren noch auf demselben Festival nachmittags auf der Zeltbühne auftrat, in diesem Jahr also quasi schon mit einer Headliner-Position. Ich mag es mir nur eingebildet haben, aber es schien so, als ob die beiden Geschwister sich dort noch nicht so ganz wohl fühlten. Dies wurde aber mit immens lauten Bässen wettgemacht, die die Piano-Klänge von Philipp und die markante Stimme von Eva unterstützten – es blieb letztendlich allerdings der Eindruck, dass HUNDREDS auf der Nebenbühne als ewiger Geheimtipp besser funktionieren.
Über CLOUD NOTHINGS wurde in der letzten Zeit ja viel geschrieben, wobei an Lob für ihren Mastermind Dylan Baldi kaum gespart wurde und auch Steve Albini als Produzent natürlich immer eine Erwähnung wert zu sein scheint. Dabei macht der Vierer aus Cleveland doch einfach nur ziemlich schlichten Schrammelpunk im LoFi-Sound, mit ein paar Einflüssen aus dem Bereich College Rock. Ein Freund schrieb kürzlich, dass CLOUD NOTHINGS eigentlich nur einen wirklich guten Song hätten. Wie dem auch sei, vielleicht ist es einfach die jugendliche, ungestüme Frische und Unbekümmertheit, die die Jungs so sympathisch macht.
Auf BONAPARTE hatte ich eigentlich so gar keinen Bock. Aber es ist wie mit eiternden Wunden und Massenschlägereien – irgendwie interessiert es einen ja doch. Hatte ich BONAPARTE bisher immer als bunten Zirkus bzw. als Kuriositätenkabinett wahrgenommen, stand bei dieser Show ganz klar Sänger/Gitarrist Tobias Jundt im Vordergrund – schon allein aufgrund der Aufteilung der Bühne. Und wo CLOUD NOTHINGS ja gerne mit NIRVANA verglichen werden, wurde ich vielmehr jetzt an den jungen Kurt Cobain erinnert, wie Jundt mit seinen strähnigen, grün gefärbten Haaren wie ein Derwisch über die Bühne tobte. Dass BONAPARTE ihre zwei barbusigen Tänzerinnen nach wie vor für unverzichtbar halten, finde ich allerdings nicht weniger peinlich als bei MONSTER MAGNET. Jaja, nennt es Kunst, wenn es das dann rechtfertigt! Jedoch muss man BONAPARTE mittlerweile ihre musikalische Vielfalt und ihr Gespür für Hits anerkennen. Erstaunlicherweise habe nicht nur ich ihren Auftritt als positivste Überraschung des diesjährigen Immergut wahrgenommen.
Tag 3. Erstaunt mussten wir feststellen, wie verdammt kalt die Nächte in Neustrelitz noch sind, auch wenn die Nachmittage bereits zum Sonnenbaden einladen. Vielleicht hätten wir das ziemlich günstige Appartement am Bahnhof doch für drei Nächte buchen sollen. Dort musste man zumindest nicht mit allen Klamotten (plus Jacke!) im Schlafsack übernachten, um nicht zu erfrieren. Und wie es beim Zelten nun mal so ist: gerade frierst Du noch, eine Stunde später hält man es schon fast nicht mehr aus. Also raus aus dem Zelt, ran an den See und Körperpflege betreiben. Wir haben es trotz nächtlicher Frostbeulen tatsächlich in den See geschafft, vielleicht auch, weil der Bürgermeister von Neustrelitz von 19,5°C Wassertemperatur sprach. Fühlten sich allerdings eher wie -19,5°C an.
Erfrischt kreuzten wir nachmittags zur Lesung von SVEN REGENER im Birkenhain auf. Jedoch war der Rasenplatz vor der kleinen Bühne so voll, dass wir direkt weiter zum Pommes-Stand gingen. Soll aber gut gewesen sein, und als Herr Regener im Anschluss an sein darauf folgendes Festivalradio-Interview vor dem Lohro-Banner fotografiert wurde und man uns bat, mit den Pommes an den Bauzaun gelehnt, aufzustehen, erwiderte er sehr sympathisch: „Iwo, die dürfen da sitzen bleiben.“
REAL ESTATE waren heute die erste Band auf der Hauptbühne, und sie passten perfekt zu dem Sonnenschein und dem gesamten Immergut mit seiner familiären Atmosphäre. Vielleicht auch, weil die Band aus New Jersey so herrlich sommerlich und unbeschwert klingt wie sonst nur der WHITEST BOY ALIVE. Oder meinetwegen auch THE SEA AND CAKE. Oder PHOENIX.
LUCY ROSE verzauberte anschließend die Leute vorm Birkenhain mit ihrer süßen Stimme und ruhiger Musik. Den Porzellan-Vergleich im Immergut-Heftchen würde ich glatt unterschreiben. Vor allem den Zusatz, dass es sich nicht um Kitsch, sondern um edles Porzellan handelt. Ähnlich edel kennt man das vielleicht auch von ALISE JOSTE und GREEN PITCH. Schön!
Nicht wenig Empfehlungen und persönliche Tipps ernteten vorab auch RAH RAH aus Kanada, die in ihrer Heimat zwar schon diverse Preise einheimsen konnten, hier allerdings noch nahezu unbekannt sind. Das sollte sich aber ändern, hat sich Jörg von Devilduck Records gedacht, und ihr drittes Album auch hierzulande veröffentlicht. Ich gebe zu, ich brauchte ein Weilchen, um mit ihrer Mischung aus Country und Power-Pop warm zu werden (oder aber sie hatten sich die guten Songs für das Ende des Sets aufgehoben), aber zuletzt hatten sie auch mich überzeugt. Was nicht nur daran lag, dass sie die Instrumente sogar während der Songs wechselten.
Dass GIRLS IN HAWAII in Wirklichkeit Boys aus Belgien sind, dürfte sich ja schon rumgesprochen haben. PORTUGAL. THE MAN kommen schließlich auch nicht aus Lissabon. Und die Girls, ähh Boys gibt es bekanntlich auch schon etwas länger. Im nächsten Jahr feiert man mittlerweile sein 15jähriges Bandjubiläum, und den Sound haben sie im Laufe der Zeit immer mehr verfeinert und zu ihrem „eigenen“ Sound ausgearbeitet. Mittlerweile gibt es sogar gewisse Ähnlichkeiten zu SLUT, die die Bühne als nächstes enterten.
Einen Zwischenstopp gab es aber noch bei FUTURE ISLANDS auf der Zeltbühne. Was war das denn bitte? 80er Synthie-Pop trifft auf New Wave und einen Sänger, der aussieht und sich auf der Bühne gibt wie Henry Rollins zu besten BLACK FLAG-Zeiten. Mit einer perfekten Pop-/Soul-Stimme à la PRINCE. Als Zuschauer schwankt man zwischen Verwirrung, Begeisterung und Kopfschütteln. In der heimischen Stereoanlage würde ich mir das nicht anhören, aber live allemal ein Spektakel.
Die schon eben angesprochenen SLUT aus Ingolstadt zählen mittlerweile ja auch schon zu den alten Hasen. Sie feierten erst kürzlich ihren 20. Geburtstag und haben im Laufe der Zeit immer mehr Einflüsse zugelassen und sich zwischenzeitlich sogar an die Vertonung von Brechts Dreigroschenoper gewagt. Das dazugehörige Album ist jedoch nie erschienen, weil Kurt Weills Erben Einspruch dagegen einlegten. Das Besondere an der Band ist, dass sie die Besetzung innerhalb der zwei Dekaden nie gewechselt haben, umso überraschender war die Verkündung, dass Tobias Siebert (u.a. DELBO, KLEZ.E, AND THE GOLDEN CHOIR) neu hinzugekommen sei. Ob er nur als zusätzlicher Live-Gitarrist fungiert oder von nun an fest dabei ist, bleibt abzuwarten. Das Set war jedenfalls recht abwechslungsreich zusammengestellt aus eher unbekannteren Sachen und natürlich Singles wie „Easy to love“ und „If I had a heart“.
Ein schönes musikalisches Kontrastprogramm boten anschließend DIE!DIE!DIE! im Zelt. Endlich Gitarren! Endlich Krach! Endlich elend lange Feedbacks und eine Menge Chaos! Bei aller netten Glückseligkeit, die einen auf dem Immergut ständig umgibt, erscheint einem so ein lärmendes Trio wahrlich als willkommene Abwechslung. Genau genommen klingen die drei Herren mit ihrem noisig punkigen Postcore-Sound viel mehr nach Washington DC und Dischord als nach ihrer tatsächlichen Heimat Neuseeland, mit der man ja vornehmlich weiße Sandstrände und türkisblaues Wasser assoziiert. Zwischendurch blitzen aber auch immer wieder melodische Fragmente auf, die man sich genauso gut bei TRAIL OF DEAD vorstellen könnte. Super!
Nicht so super hingegen empfanden wir die abschließenden FM BELFAST. Mittlerweile ja auch schon zum dritten Mal live gesehen, ist mir das einfach zu viel Klamauk auf der Bühne. Sowohl musikalisch als auch von der Show. „Seid Ihr gut drauf? Immer gut! Immer Spaß! Immer tanzen!“ Isländer können fröhlich sein. Und covern aus Mittel zum Zweck auch mal schnell BEASTIE BOYS´“Fight for your right (to party)“. Wer sich musikalisch für simplen Elektro-Pop und Stimmungskanonen im Allgemeinen begeistert, konnte damit sicher was anfangen. Allzu weit ist das aber auch nicht mehr vom Schlager-Move entfernt.
Wir wünschen deshalb eine gute Nacht! Und vielleicht trifft man sich ja schon beim Immergut 2015 wieder!