Obwohl das Wilwarin-Festival nie auf große Bandnamen setzte, hat sich die sympathische DIY-Veranstaltung in den letzten Jahren immer mehr zu einem Geheimtipp unter den norddeutschen Open Airs entwickelt. Warum dies so ist, wird einem schnell klar, wenn man über das verzweigte, in einem kleinen Waldstück gelegene Festival-Gelände schlendert: In mühevoller Handarbeit und mit viel Liebe zum Detail wurde hier eine regelrechte Phantasiewelt erschaffen, die neben diversen selbstgezimmerten Bühnen, Bauwerken und Installationen eine Menge weitere Überraschungen für die gut 4.000 Besucher bereit hält. Sei es ein Demagogen-Podest für notorische Redenschwinger, eine Mini-Ramp für die Skateboard-Fraktion, eine Riesen-Hängematte zum Ausspannen oder einfach eine große Feuerstelle zum abendlichen Beisammensitzen – hier greift das Motto eines bekannten japanischen Automobilherstellers tatsächlich: „Nichts ist unmöglich“. Kurz gesagt: Ein Festival zum Gernhaben, zumal sich auch das Wetter von seiner allerbesten Seite zeigte.
Bei meiner Ankunft standen bereits DISTEMPER auf der Hauptbühne und lieferten mit ihrem wuchtigen Ska-Punk den perfekten Soundtrack zur drückenden Nachmittagshitze. Erstaunlicherweise war die Band aus Moskau entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit ohne ihr tanzendes Hunde-Maskottchen unterwegs, was sie jedoch nicht davon abhielt, eine energiegeladene Show abzuliefern. Mit „Moscow Reggae“ und dem SHAM 69-Cover „If the kids are united“ rundeten sie ihr Set ab. Zeit, sich den kulinarischen Spezialitäten des Festivals zu widmen. Auch hier hebt sich das Wilwarin-Festival wohltuend von den zahlreichen Konkurrenz-Festivals ab und setzt auf individuelle Verpflegung anstatt auf die immergleichen Fressbuden. So offerierte ein in die Jahre gekommener Eiswagen leckeres Softeis mit 30 (!) verschiedenen Streuselarten, und ein Küchenkollektiv lockte mit veganer und fleischhaltiger Burgerkost. Gut gestärkt ging es für uns dann auf der überdachten „Second stage“ weiter, die ein wenig an einen selbstgezimmerten Pferdestall erinnerte. Dort baten die polnischen Trash-Metaller von TERRORDOME zur Audienz. Zugegebenermaßen hatte ich von der Band noch nie gehört, doch meine Camp-Nachbarn schwärmten in höchsten Tönen von den Live-Qualitäten der Band, so dass ich mich kurzerhand entschloss, dem Spektakel beizuwohnen. Und auch wenn Metal überhaupt nicht meine Musik ist, so lieferte das Quartett in der Tat eine beachtliche Show ab, die angenehmerweise auch nicht mit Selbstironie geizte.“Flying V“-Gitarren, gnadenloses Rumgepose und wirbelnde Mähnen bestimmten das Bühnenbild, während davor eine kleine, aber eingeschworene Fangemeinde den beiden Securitys am Bühnenrand einiges abverlangte. Apropros Securitys: Die Damen und Herren vom Sicherheitsdienst waren zwar das ganze Festival über präsent, übten sich aber stets in freundlicher Zurückhaltung und trugen somit ihren Teil zu der außerordentlich entspannten Stimmung des Wilwarin-Festivals bei. Das soll an dieser Stelle einfach mal positiv erwähnt werden.
Als nächstes wären nun eigentlich GASMAC GILMORE an der Reihe, die aber relativ kurzfristig absagen mussten. Dafür sprangen die Schweden von THE FUME in die Bresche, die allerdings mehr durch ihr imposanten Schnauzbärte und die roten Cowboystiefel des Gitarristen als durch ihren durchschnittlichen Garagen-Rock in Erinnerung blieben. Nicht weniger extravagant war das morbide Bühnenoutfit von JOHNNY FLESH & THE REDNECK ZOMBIES, die mit ihrer Kombination aus Horrorpunk und Psychobilly gut einheizten. Vor allem ihr aktuelles Album „Back for brains“ hat im vergangenen Jahr nachhaltigen Eindruck bei mir hinterlassen, und es war cool, einige der Songs mal live dargeboten zu bekommen. Für einen ausgiebigen Besuch bei ED RANDOM blieb leider nicht allzu viel Zeit. Vor etwa zehn Jahren veröffentlichten die Kieler Punk´n´Roller mal eine CD auf Wolverine Records, lösten sich dann aber irgendwann auf und fanden sich offenbar für die Rolle als regionale Kult-Band für diesen Abend noch einmal zusammen. Entsprechend voll war es auch vor der Hauptbühne, als die Lokalmatadore noch einmal alte Stampfer wie „Red flag“ durch die Boxen jagten. Da der Zeitplan allerdings Überschneidungen beinhaltete und nebenan mit CASANOVAS SCHWULE SEITE eines meiner persönlichen Festival-Highlights lockte, blieb es bei einer Stippvisite, und wir zogen erneut Richtung „Second Stage“, wo die aus ehemaligen WOHLSTANDSKINDER- und KNOCHENFABRIK-Mitgliedern zusammengewürfelte Kölner Allstar-Truppe bereits die ganz große Rockshow ablieferte. Allen voran Berufs-Poser Türk Travolta war voll in seinem Element und bearbeitete mit beneidenswerter Hingabe seine Les Paul-Gitarre. Zugegeben, der Sound vor der Bühne war nicht unbedingt der beste, und ein Teil der Band erweckte durchaus den Eindruck, als könnte er keiner alkoholbedingten Verkehrskontrolle standhalten, aber in Anbetracht einer Hitschwemme mit Kalibern wie „Rock´n´Roll Bausparvertrag“, „Expo 2000“ oder „Höllenfeuerlicht“ geraten derartige Faktoren schnell in den Hintergrund. Das KNOCHENFABRIK-Stück „Willi über Wiesen“ als Zugabe rundete den Auftritt ab und trieb uns direkt weiter zur Hauptbühne, wo GROSSSTADTGEFLÜSTER mit ihrem Indie-Elektropop noch einen akustischen Schlummertrunk servierten.
Tag 2
Der zweite Festivaltag ging schon mal kurios los. Ein Zeltnachbar erzählte beim Frühstück, dass er in der Nacht unverhofften Besuch bekommen habe: Ein ihm gänzlich unbekannter und offenbar nicht mehr ganz nüchterner Festivalbesucher sei in den frühen Morgenstunden überraschend in sein Zelt gekrabbelt, habe irgendetwas Unverständliches von WOLFGANG PETRY gemurmelt und sei dann, nach dem erfolglosen Versuch, zu meinem Zeltnachbarn in den Schlafsack zu kriechen, in einen komatösen Schlaf gefallen. Das war meinem Zeltnachbarn dann doch nicht so geheuer und er hat es vorgezogen, die Nachtruhe lieber in seinem Auto fortzusetzen, um morgens dann festzustellen, dass der Überraschungsgast genauso mysteriös wieder verschwunden ist wie er gekommen war. Sachen gibt´s…
Musikalisch begann der Tag auf der Skater-Stage, die sich im Gegensatz zu den übrigen Bühnen direkt auf dem Campingplatz befunden hat und – der Name deutet es bereits an – direkt an die Skateboard-Ramp angeschlossen war, auf der heute ein Contest stattfand. Der Punk-Liedermacher Tilman Benning alias TIGERYOUTH war der perfekte Einstieg in den Tag, auch wenn das Publikum offenbar noch nicht ganz wach war und den Auftritt größtenteils im Schneidersitz verfolgte. Ungeachtet dessen lieferte er einen extrem energiegeladenen Auftritt ab und überzeugte dabei ebenso durch seine Reibeisenstimme, wie auch durch seine größtenteils sozialkritischen Texte. Doch erst SCHEISSE MINELLI brachten die kleine Bühne einige Zeit später so richtig zum Explodieren. Frontmann Sam ist ja vor einigen Jahren aus Kalifornien nach Deutschland übergesiedelt und hatte dabei seine Liebe zum Hardcore-Skatepunk der Marke RICH KIDS ON LSD gleich mitgebracht. Songs wie „Socially retarded“, „In the ghetto“ und „Skateboard the freeway“ ließen Band und Publikum gleichermaßen ausrasten – Bierdosenhagel, Stagediving und Circle Pit inklusive. Um nach diesem Auftritt wieder einigermaßen runterzukommen, bedurfte es schon einen Abstecher zur Reggae-Area, die mit ihrer Mischung aus Konservenmusik und Live-Performance einen guten Rückzugsort darstellte.
Pünktlich zu KMPFSPRT war der Akku wieder aufgeladen. Seit ihrem Album „Jugend mutiert“ zählen die Rheinländer für mich zu den besten aktuellen Post-Punk-Bands, und auch live sind sie immer wieder eine Bank, wenngleich der Zuschauerzuspruch vor der Hauptbühne verhältnismäßig spärlich war. Keine Ahnung, woran es lag, aber diejenigen Festivalbesucher, die durch Abwesenheit glänzten, verpassten ein wahres Hitfeuerwerk mit Liedern wie „All my friends are dads“, „Am Ende hell“, „Atheist“ oder „Affengeld“. Bei „Musikdienstverweigerer“ ließ sich auch der ehemalige FRAU POTZ-Sänger Felix auf der Bühne blicken und lieferte brav seinen Gastgesang-Beitrag ab. Und auch die Veranstalter ließen sich nicht lumpen und kredenzten den Zuschauern zur Abkühlung die eine oder andere Fontäne aus dem Wasserschlauch. Erfrischend!
THE ROUGHNECK RIOT waren mir noch durch ihren Auftritt auf dem Hamburger Hafengeburtstag vor einigen Jahren in guter Erinnerung. Diesmal haben wir leider nur noch das Ende ihres Auftritts mitbekommen, aber der gute Eindruck von damals hat sich in den letzten Minuten des Sets noch einmal bestätigt: Schwungvoller Folk-Punk im Stile der DROPKICK MURPHYS, der auch für das eine oder andere Tanzbein vor der Bühne gesorgt hat. Die BEATPOETEN schlugen anschließend in eine völlig andere Kerbe. Ob mir ihr eigenwilliger Mix aus HipHop, Elektropunk und Slam Poetry gefällt, hängt erfahrungsgemäß stark von meiner persönlichen Tagesform ab. An diesem Tag fand ich das Programm der beiden Bandmitglieder Egge & Carlos leider recht anstrengend, was mitunter auch daran gelegen haben könnte, das auf einem Festival wie dem Wilwarin sowieso schon eine generelle Reizüberflutung herrscht. Den grandiosen Hit „Mein Freund ist Hipster“ zu hören, hat mir dennoch ein zufriedenes Lächeln ins Gesicht gezaubert.
Danach ging es zunächst wieder auf den Zeltplatz, um sich bei albernen Festival-Spielchen auf den Höhepunkt des Abends einzustimmen: TERRORGRUPPE! Die Berliner Rotzlöffel gelten zurecht als eine der einflussreichsten deutschen Punkbands und haben mich damals mit ihrem Album „Musik für Arschlöcher“ endgültig ins Punkrock-Universum katapultiert. Dementsprechend war ich hoch erfreut, als sie vor einigen Monaten trotz vehementer vorausgegangener Dementi ihr Comeback ankündigten. Und offensichtlich war ich nicht der einzige, der dem Auftritt an diesem Abend entgegenfieberte: Sobald die ersten Akkorde des Openers „Sabine“ erklangen, gab es vor der Bühne kein Halten mehr und es entwickelte sich ein wildes Pogo-Getümmel, während die Protagonisten des Textes aus Hunderten von Kehlen eines unseriösen Lebenswandels bezichtigt wurde. Es folgten unzählige Hymnen meiner Jugend: „Kinderwahnsinn“, „Kathedralen“, „Mein Skateboard ist wichtiger als Deutschland“, „Schöner Stand“, „Tresenlied“, „Opa halt´s Maul“ und natürlich die ultimative vertonte Ausrede „Die Gesellschaft ist schuld, dass ich so bin“. Die Jungs zeigten sich in bestechender Form, und man hatte original das Gefühl, mit der Zeitmaschine zehn Jahre in die Vergangenheit gereist zu sein – wäre da nicht die Tatsache, dass die Band inzwischen stellenweise von einem Keyboarder und einem Saxophonisten unterstützt wird und Frontmann Archi mit seiner neuen Pomaden-Frisur mittlerweile wie eine Mischung aus Mike Ness und Huub Stevens aussieht. Die großen Rockstar-Gesten hatten sie aber immer noch drauf: Vom anal gezündeten Goldregen bis hin zur XXL-Konfetti-Kanone taten TERRORGRUPPE alles, um ihrem Ruf als „RAMMSTEIN für Arme“ (Zitat) gerecht zu werden.
Das Sandmännchen wurde an diesem Abend durch SIBERIAN MEAT GRINDER vertreten. Die Band mit dem unverfänglichen Namen stammt aus dem Dunstkreis der Moskauer Hardcore-Szene und brach zum Abschluss des Festivals im wahrsten Sinne des Wortes einen Chaos-Gig vom Zaun: Die von den Securitys in weiser Voraussicht aufgestellten Abperrgitter vor der Bühne wurden vom fachkundigen Publikum binnen Sekunden auseinandergepflückt und es entwickelte sich eine wilde Pogo-Party, während die Band mit den beiden mittels Schweißermasken vermummten Sängern ein derbes Thrashcore-Feuerwerk in bester D.R.I.-Manier ablieferte. Keine weiteren Fragen, euer Ehren! Zähne putzen, Pipi machen, ab ins Bett…
Der Morgen des Abreisetages wurde noch mal zu einem ausgiebigen Spaziergang über die Camping- und Festival-Areale genutzt. Auch hier bestätigte sich wieder der Eindruck, es mit einem ungewöhnlich entspannten und unkonventionellen Festival zu tun zu haben: In der Gegend rumliegende Alkoholleichen suchte man morgens um 10 Uhr ebenso vergebens wie zugemüllte Zeltlager oder sonstige Spuren der Verwüstung. Bei der Electro-Stage tanzten die verbliebenen Nachtschwärmer unverdrossen gegen die schweren Augenlider an und hatten dabei ein seeliges Lächeln auf den Lippen. Und auch der freundliche Polizist bei der obligatorischen Alkohol-Verkehrskontrolle entsprach so gar nicht dem Klischee seiner ansonsten eher mürrisch gelaunten Artgenossen. Irgendwas ist dort oben anders als im Rest der Republik. Wir kommen wieder, Ellerdorf!