Zwei Jahre lang mussten sich die Hamburger Jazzfans coronabedingt gedulden. Im letzten Jahr gab es zwar eine kleine Online-Variante des Elbjazz-Festivals mit gestreamten Konzerten von Bands wie THE NOTWIST, FEHLER KUTI und NILS LANDGREN FUNK UNIT – aber seien wir mal ehrlich: was geht schon über ein echtes Live-Konzert? In diesem Jahr sollte es also endlich wieder so weit sein, und neben der beeindruckenden Hafenkulisse gab es durchweg Sonnenschein und Temperaturen über 20°C. Scheinbar hatten die Macher des Elbjazz auch bei Petrus ein gutes Wort eingelegt, damit zum Re-Start alles klappt. Trotz aller guter Vorbereitung gab es in diesem Jahr aber durchschnittlich „nur“ etwa 12.000 Zuschauer pro Tag. Das mag nach einem Besucherrekord von zuletzt 15.000 Zuschauern im Jahr 2019 nach einem kleinen Verlust aussehen, aber dass sich das potenzielle Konzertpublikum derzeit noch in Zurückhaltung übt, hatten wir ja auch schon bei anderen Konzerten festgestellt. Insofern kann man die 12.000 Tagesgäste durchaus als Erfolg verbuchen, und für das Publikum war etwas weniger Gedränge und Schlangestehen auch mal ganz angenehm.
Für uns begann der Elbjazz-Freitag stilecht mit einem Matjesbrötchen in der einen und einem Alster in der anderen Hand und dem obligatorischen Gang durch den alten Elbtunnel zum Werftgelände von Blohm + Voss. Von BOBBY RAUSCH bekamen wir nur die letzten Töne mit, stellten aber fest, dass die Band, die sich selbst als „Berlin Underground Music Trio“ bezeichnet, trotz der ungewöhnlichen Instrumentierung (Bassklarinette, Baritonsaxophon und Schlagzeug) und der nicht gerade massenkompatiblen Musik aus den Eckpfeilern HipHop, Techno, Afrobeat und Jazz überraschend gut ankam. Da sage noch einer, Jazz-Fans seien musikalisch allzu festgefahren.
Auf dem Weg zur Hauptbühne begegneten wir noch MYLES SANKO, der sich im Labelzelt bereitwillig zur Signierstunde und zum gemütlichen Plausch mit seinen Fans einfand. Dabei wirkte er genauso entspannt wie auf der Bühne.
An der Hauptbühne angekommen war auch bei JAZZANOVA die Stimmung dem Wetter entsprechend ausgelassen und fröhlich. Ich persönlich verbinde die Berliner immer noch mit dem anfänglichen Latinjazz und den zahlreichen Remixes, die sie Anfang der Zweitausender für viele namhafte Bands angefertigt hatten. Mittlerweile unterscheidet sich das Kollektiv gar nicht mehr so grundlegend von anderen Jazzbands und brachte noch etwas 70s Soul und eine Menge Summer Feeling in seine Musik mit ein. Sehr relaxt und genau richtig für den frühen Freitagabend.
Bei THOMAS D, besser bekannt als ein Viertel der FANTASTISCHEN VIER, musste man ja allein schon aus nostalgischen Gründen vorbeischauen, und in der Tat klang er auch mit der Hamburger Band THE KBCS immer noch typisch nach den FANTA 4 – nur eben in einer etwas funkigeren, angejazzten Version. Als letzter Song dann eine sehr smoothe Version von „Rückenwind“ – ein schöner Abschluss!
Ähnlich sanft ging es auf der Hauptbühne mit MELODY GARDOT weiter, die ihr Konzert mit zwei Berimbau-Spielern eröffnete, einem Instrument, das auch als „Maultrommel des Bauches“ gilt und aus dem Nordosten Brasiliens stammt. Das ergibt durchaus Sinn, da man die Musik der in New Jersey geborenen Sängerin dem sogenannten „Brazil Jazz“ zuordnen kann, der nebenbei auch Einflüsse aus dem Bossa Nova zulässt. Bemerkenswert an ihrem Konzert war insbesondere einer der bereits erwähnten Berimbau-Spieler, der auch an den Percussions eine gute Figur abgab und in der abschließenden Vorstellung der Musiker viel Applaus einheimsen konnte.
Ausgesprochen gute Stimmung herrschte ebenfalls bei RANKY TANKY aus Charleston, South Carolina, die die Schiffbauhalle mit traditioneller Roots-Musik einheizten, die Jazz mit Gospel, Soul und Afro vermischt und auf traditioneller Gullah-Musik basiert, die unter den Nachkommen versklavter Afrikaner aus Westafrika im Südosten der Staaten entstand. Schön, wenn man eine wichtige politische Botschaft mit so ausgelassener Musik zu verbinden weiß.
Zum Abschluss des ersten Abends spielte auf der Hauptbühne das MOKA EFTI ORCHESTRA, besser bekannt aus der Serie „Babylon Berlin“. Ursprünglich sollte das Swing-Orchester 2021 zusammen mit MORITZ KRÄMER von DIE HÖCHSTE EISENBAHN auftreten, mit dem sie auch das schöne Stück „Süße Lügen“ eingespielt hatten. Nach der Verlegung um ein Jahr stand heute aber SEVERIJA als Gastsängerin auf der Bühne, die mit ihrer tiefen Stimme herrlich an MARLENE DIETRICH erinnerte. So bedurfte es gar keiner filmischen Darstellung, um auch gedanklich in der Vergangenheit einzutauchen. Ein grandioser Abschluss des ersten Abends!
Tag zwei begann genauso sonnig warm wie der Freitag mit dem GOLDEN DAWN ARKESTRA aus Austin, Texas. Die wilde Kombo, die wie eine Wiedergeburt von DSCHINGHIS KHAN oder einer Kreuzung aus Tutanchamun und einem Karneval in Rio wirkt, legte mit einer kosmischen Mischung aus Afrofunk, Psychedelic Rock, Disco und Tropical Jazz mächtig los, hatte zu Beginn jedoch noch einige technische Schwierigkeiten am Gesang zu bewältigen. Ihr Auftritt etwas rockbetonter als noch vor drei Jahren beim Dockville Festival, aber nach wie vor schräg genug, um die volle Aufmerksamkeit der anwesenden Zuschauer auf sich zu ziehen. Zum Ende hin wurde die Musik etwas funkiger, was dem GOLDEN DAWN ARKESTRA meiner Meinung nach etwas besser zu Gesicht steht und die Zuschauer noch mehr mitreißt.
Bei dem Pianisten und Hammondorgel-Spieler MATTHEW WHITAKER fiel auf, dass die sichteingeschränkten Plätze direkt hinter dem Mischpult genauso begehrt waren wie die übrigen Plätze. Zwar konnte man von dort nur zuhören, dafür bot der Platz aber angenehmen Schatten. Unser Bauch führte uns jedoch weiter zu den kulinarischen Ständen, und rückblickend betrachtet können wir sagen, dass die Preise zwar recht hoch waren (Bier: 6€, Piadina: 8€, Döner: 10€, veganes Thai-Curry: 8€), das Essen aber durchweg gut schmeckte. Weit weg von Mantateller, Pizza Mario und Co, wie es vor gut zwanzig Jahren auf den großen Festivals noch üblich war.
Wie eingangs erwähnt, waren beim letztjährigen Elbjazz-Stream THE NOTWIST dabei, beim Elbjazz 2022 gab es zwar nicht die Weilheimer Indie-Könige, dafür aber gleich zwei Nebenprojekte der beteiligten Musiker: bei ACHER, SOMMER, ENDERS handelt es sich um das etwas experimentelle Freejazz-Trio, das tags zuvor in der Katharinenkirche auftrat, uns zog es aber eher zu SPIRIT FEST hin, ein Quartett mit Musikern von u.a. THE NOTWIST, TENNISCOATS und JOASIHNO. Ihre minimalistische, japanisch inspirierte Musik, die ab und an wie eine leisere Version von THE NOTWIST oder BLONDE REDHEAD klang, kam jedoch nicht bei allen Zuschauern gut an. „Was das denn noch mit Jazz zu tun habe“, fragte eine Frau, die kopfschüttelnd die Schiffbauhalle verließ. Irgendwo holt man musikalisch eben doch nicht mehr jeden ab.
Besagte Dame fand wahrscheinlich mehr geschmackliche Übereinstimmung bei der NDR BIG BAND, die heute zusammen mit SILVAN STRAUSS auftrat, dem just zuvor der Hamburger Jazzpreis verliehen wurde. Der Schlagzeuger spielt tatsächlich schon seit Jahren eine große Rolle in der Hamburger Musikszene, hat in der Vergangenheit unter anderem beim großartigen FELICE SOUND ORCHESTRA mitgespielt und bereits 2015 mit seiner URBAN ACADEMY am Elbjazz teilgenommen. Heute trat er zusammen mit seinem Quartett TOYTOY auf, und es war die reinste Freude dabei zuzusehen, wie gut die Vermischung von Big-Band-Sound und Silvans Groove-betontem Schlagzeugspiel aufging, das seine Wurzeln eindeutig im HipHop hat. Das heutige Konzert war außerdem mit zwei besonderen Gästen dekoriert, zum einen dem israelischen Jazzpianist OMER KLEIN und auf der anderen Seite der quirligen und farbenfrohen MARIA JOÃO, die auch gerne und vollkommen zurecht als Portugals Grande Dame der Stimmakrobatik bezeichnet wird.
Bei YĪN YĪN dürfte sich vielleicht für den einen oder anderen Zuschauer auch wieder die Frage nach der Schnittmenge mit dem Jazz gestellt habe – aber wen stört das schon ernsthaft, wenn man eine so spielfreudige Band vor sich hat. Geographisch im niederländischen Limburg beheimatet, musikalisch aber eindeutig in der Vergangenheit zu Hause sorgten sie mit ihrem groovigen Psychedelic Funk für viele tanzenden Zuschauer – und das wohlgemerkt ohne Gesang!
Zum Abschluss des Elbjazz 2022 begaben wir uns via Bus- bzw. Barkassenshuttle in die Elbphilharmonie zu LADY BLACKBIRD – ein Konzert, das für Festivalverhältnisse ausgesprochen gut besucht war, und anscheinend hatte die Sängerin aus Los Angeles nicht nur neugierige Zuschauer in den großen Saal gelockt, sondern auch zahlreiche Fans mitgebracht. Stilistisch hat sich die Sängerin vor einiger Zeit umorientiert und vom mainstreamigen R&B abgewandt und eine Kehrtwende in Richtung Retrosoul und Jazz vollzogen. Statt BEYONCE meint man nun eher AMY WINEHOUSE und TINA TURNER in ihrer Stimme wiederzuerkennen, ihr Set mit einigen Coversongs (u.a. SCREAMIN‘ JAY HAWKINS‘ „I put a spell on you“ und Gershwins „Summertime“) gespickt. Am Ende des Konzertes gab es Standing Ovations, die sie und ihre Backing Band sogar für zwei Zugaben noch mal auf die Bühne forderten, wobei sie sich bei dem abschließenden Song sogar zunächst noch einmal abstimmen mussten. Schön, wenn am Ende auch mal wieder ungeplante Zugaben ermöglicht werden.
Unser Fazit zum Elbjazz 2022: tolles Wetter, beste Stimmung – wir sehen uns wieder im nächsten Jahr! Hoffentlich weiterhin physisch am Hamburger Hafen!