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Booze Cruise Festival 2022 (Hamburg)

 
Tja, wo fängt man am besten an, wenn man über die fünfte Auflage des Booze Cruise Festivals berichten möchte? Vielleicht erstmal mit der allgemeinen Erleichterung, dass die Veranstaltung in diesem Jahr endlich mehr oder weniger planmäßig über die Bühne gehen konnte. Ursprünglich war das Ganze ja bereits für 2020 geplant, musste dann jedoch Corona-bedingt kurzfristig gecancelt werden. Während der organisatorische Aufwand einer Absage bzw. Verschiebung bereits bei einem „normalen“ Festival enorm ist, multipliziert sich dieser bei einem Festival, das mit knapp 60 Bands in mehr als einem halben Dutzend Locations veranschlagt wurde, noch mal um ein Vielfaches. Und wäre es bloß dabei geblieben, doch das Schwester-Festival im englischen Bristol sowie die abgespeckte „Frosty Booze Cruise“-Variante im Januar 2021 fielen der Pandemie gleichermaßen zum Opfer. Ein erneuter Versuch, das Booze Cruise V im Dezember 2021 durchzuführen, scheiterte ebenfalls nur wenige Wochen vor dem Veranstaltungstermin – ihr ahnt bereits den Grund. Viele andere Veranstaltende hätten spätestens an dieser Stelle wahrscheinlich endgültig das Handtuch geworfen und sich nach den unendlich vielen umsonst investierten Arbeitsstunden sowie den durch die ganzen Absagen aufgelaufenen Kosten frustriert aus dem Business zurückgezogen. Nicht jedoch Hauptveranstalter Stefan und seine Crew! Im Gegenteil: Während der Lockdowns veranstalteten sie unermüdlich Online-Festivals, deren Erlöse sie noch nicht einmal dazu nutzten, die eigenen finanziellen Löcher zu stopfen, sondern damit lieber die in Not geratene Hamburger Clublandschaft zu unterstützen. Dafür an dieser Stelle riesigen Respekt!!!

Tag 1

Startschuss war der Boat-Trip auf der MS Tonne am Freitagnachmittag, wo zunächst TIRED RADIO das Festival einläuteten. Vier humorvolle Typen aus Brooklyn, die eine ungeschliffene Punkrock-Show hinlegten und offensichtlich richtig Bock hatten. Nach einer halben Stunde überließen sie das Deck schließlich ihren Tour-Mates ÜBERYOU, die sich durch ihre mitreißenden Auftritte bereits bei den letzten Booze Cruise-Veranstaltungen einen exzellenten Ruf erspielt haben. Auch diesmal dauerte es nur Sekunden, bis sie die Stimmung mit Singalong-Hymnen wie „Make it last“, „Overdrive“, „Not entertaining“ oder „Survivors“ zum Überkochen brachten. Der TIRED RADIO-Frontmann war gar dermaßen aufgekratzt, dass er sich nach einer gepflegten Crowdsurfing-Einlage in bester Fledermaus-Manier mit den Füßen kopfüber von der Lichttraverse baumeln ließ, was die Schiffbesatzung im Nachgang wohl nicht so witzig fand. Ebenfalls etwas sparsam aus der Wäsche schaute zunächst GOOD RIDDANCE-Sänger Russ Rankin, der offensichtlich ein paar Eingewöhnungsprobleme aufgrund der Gesamtsituation hatte. Letztens auf dem Fonsstock-Festival konnten mich die Amis offen gesagt nicht so richtig überzeugen, und auch auf der Tonne wirkten die ersten zwei, drei Songs eher routiniert als beherzt dargeboten. Dies änderte sich jedoch, als die Band realisierte, dass sie es mit einem textsicheren und Pogo-freudigen Publikum zu tun hatte, und so verschmolzen Band und Publikum zu Liedern wie „Slowly“, „Last believer“ oder „Mother superior“ schließlich doch noch zu einer feierwütigen Einheit. Was für ein großartiger Auftakt!

Als nächstes ging es rüber zum Hafenklang, wo wir von den SIDEWALK SURFERS leider nur noch die letzten Akkorde aufschnappen konnten. Ein Stockwerk höher kamen wir dafür in den Genuss von FRIENDS WITH BOATS. Die Band aus Hannover ist noch relativ frisch und lieferte ein abwechslungsreiches Set ab, das mal an den typischen Cali-Punk-Sound der 90er erinnerte, an anderer Stelle aber auch leichte Hardcore-Einflüsse durchschimmern ließ. Sollte man im Auge behalten! Zurück im Erdgeschoss standen auch schon SECOND YOUTH auf der Bühne. Für mich persönlich die Neuentdeckung des Festivals! Die Italiener sprühten nur so vor Spielfreude und haben mich vom ersten Moment an begeistert. Irgendwie spielen sie schon diesen Booze Cruise-typischen, rau-melodischen Punkrock-Sound (ein Lied hat mich beispielsweise sehr an THE SAINTE CATHERINES erinnert), lassen aber zugleich auch eine gute Dosis Streetpunk mit einfließen. Vor allem die Über-Hymne „Morons“ sowie das Ska-lastige „1992“ sind mir nachhaltig im Gedächtnis geblieben und schieben SECOND YOUTH auf meiner Platten-Einkaufsliste ganz weit nach vorne.

Eigentlich hätten als nächstes PRIMETIME FAILURE im Überquell auf der Agenda gestanden, die allerdings kurzfristig abgesagt hatten. Insofern blieben wir direkt im Hafenklang und warteten auf den Auftritt von DUESENJAEGER, die aufgrund ihrer deutschsprachigen Texte eine Art Exotenstatus auf dem Booze Cruise hatten. Ich bin ja großer Fan der Osnabrücker und habe sie unzählige Male live gesehen, insofern hielt sich der Überraschungseffekt in Grenzen. Trotzdem natürlich ein großartiger Auftritt! Lieder wie „Honk Armee“, „Plastikwelt“ und „Nerdist Breakdown“ durften selbstveständlich nicht fehlen, außerdem waren wohl auch noch ein, zwei neuere Sachen dabei, die ich nicht zuordnen konnte. Wann kommt denn mal eine neue Platte, Jungs?! Wenn man den deutschsprachigen Gesang einmal ausblendet, waren DUESENJAEGER klangmäßig übrigens doch gar nicht so weit von den darauffolgenden MILLROY entfernt. Die Briten lieferten im Goldenen Salon kratzig-melodischem LEATHERFACE-Sound ab, satte Riffs trafen auf eine treibende Rhythmus-Sektion und coole Leadgitarren-Einschübe. Kannte ich bisher noch gar nicht, werde ich mir aber merken.

Nach dem gelungenen Aufritt auf der Tonne ein paar Stunden zuvor wollten wir uns eigentlich auch noch den zweiten Auftritt von GOOD RIDDANCE an diesem Tag anschauen. Allerdings herrschte im Hafenklang inzwischen ein derartiges Gedränge, dass wir es doch vorzogen, draußen an der frischen Luft in Ruhe ein kaltes Getränk zu uns zu nehmen, bevor es schließlich als letzte Station des Tages zum Überquell ging. Denn dort baten SHELLYCOAT zu einem Cover-Set aus NO USE FOR A NAME-Songs, das ich mir auf keinen Fall entgehen lassen wollte. Bereits im letzten Jahr wussten die Hamburger*innen an gleicher Stelle mit einem großartigen SAMIAM-Set zu überzeugen, und auch diesmal wurden die Erwartungen absolut erfüllt. Evergreens wie „Dumb reminders“, „Soul mate“ und „International you day“ aktivierten noch einmal die letzten Energiereserven aller Anwesenden und zogen einen schönen Schlussstrich unter den ersten Abend.

Tag 2

Spätestens nach ihrem Auftritt am Vorabend war klar, dass ich mir SECOND YOUTH auch auf noch mal auf dem Schiff reinziehen würde. Alleine schon um zu sehen, ob sie wirklich so gut sind, oder ob meine gestrige Wahrnehmung durch Alkohol und Endorphine möglicherweise etwas beeinträchtigt war. Aber Pustekuchen, die Band legte erneut einen mitreißenden Auftritt hin, ehe sie SNARESET das Feld überließen. Die hervortretende Halsschlagader des Sängers war vielleicht der beste Beleg dafür, dass auch der Auftritt dieses Punkrock-Vierers alles andere als kraftlos war.
Nach einem kleinen Abstecher zum Cruise Records-Store wurde es Zeit, dem Molotow einen Besuch abzustatten. Denn dort standen CHARTREUX auf der Bühne, die wir ein Jahr zuvor bereits an gleicher Wirkungsstätte im Rahmen eines Backyard-Konzerts kennengelernt hatten. Diesmal spielten die Leipziger zwar drinnen im Club, Songs wie „Nods and handshakes“ oder „Role Play“ wussten jedoch noch genauso zu überzeugen wie damals. Mit LITTLE TEETH folgte eine weitere Band aus dem Hause Gunner Records. Mich erinnert die Band ja sehr an THE GASLIGHT ANTHEM, wobei sie live in meinen Ohren deutlich druckvoller rüberkam als auf ihrem Album „Redefining home“. Der tosende Applaus des sehr gut gefüllten Molotows war ihr jedenfalls gewiss. Im Innenhof stimmten THE HIGH TIMES das Publikum dann auf den vermeintlichen Headliner des Tages ein. Die Band aus dem ÜBERYOU-Umfeld lieferte mit ihrer Mischung aus Pop-Punk und Powerpop einen schönen Soundtrack zu den sommerlichen Temperaturen ab.

Auf LAGWAGON hatten sich vermutlich viele Festivalbesucher*innen am meisten gefreut. Nachdem die für 2020 geplante Europatour pandemiebedingt ausgefallen ist, sehnten sich viele nach einem Wiedersehen mit den Kaliforniern, die zu den prägendsten Bands der in den frühen 90ern losgetretenen Skatepunk-Welle zählen. Doch wie bereits bei der GOOD RIDDANCE-Show am Vortag kamen sie nur zögerlich in Fahrt und der Funke sprang nicht – wie sonst so oft beim Booze Cruise – von der Band auf das Publikum über. Doch spätestens nach einer Viertelstunde war auch hier das Eis gebrochen, Bassist Joe Raposo ließ sich samt seines Instruments über die Köpfe der Zuschauer*innen hinwegtragen, und die Crowd rotierte angemessen zu Hits wie „To all my friends“ oder „May 16“. Als nächstes stand die Nochtwache auf unserem Plan. Dort spielte mit CAPTAIN ASSHOLE eine weitere Band, die in die Kategorie „Neuentdeckung“ fällt: Sehr druckvoller Punkrock voller mitreißender Singalongs. Nur leider viel zu kurz das Ganze, da wir uns auf dem Weg zur Location ein wenig verquatscht hatten. Nach einer ausgedehnten Essenspause endete auch der zweite Abend im Überquell, wo zunächst THE SEWER RATS auf der Bühne standen. Nachdem der Sound der Kölner in ihren Anfangstagen noch sehr vom Rockabilly beeinflusst war, haben sie sich mit ihrem dritten Album „Heartbreaks and milkshakes“ schließlich dem Pop-Punk zugewandt und ließen ihre Gute-Laune-Refrains ungeniert auf die Anwesenden los, wobei der Gassenhauer „Too Punk for you“ am Ende natürlich nicht fehlen durfte.

JUKEBOX ROMANTICS war eine der Bands, die ich mir ganz dick auf meinem Timetable markiert hatte. Ich mag die Musik der New Yorker sehr gerne, hatte allerdings noch nie das Vergnügen, sie in natura zu sehen. Das änderte sich nun, wobei ich ehrlich gesagt etwas überrascht war, dass sie live doch noch eine Ecke rauer rüberkommen als auf Platte. Ansonsten lieferten sie eine großartige, energievolle Show ab, die dem Publikum zu später Stunde noch einmal alles abverlangte. Bezüglich der Frage, ob die Sitz- und Hüpf-Animation in „Dine fleisch“ wirklich sein müssen, scheiden sich sicherlich die Geister, aber hey – dies sind die JUKEBOX ROMANTICS, verdammt! Und wenigen Stunden später werden wir sie sogar schon wiedersehen.

Tag 3

Nach zwei Jahren Pandemie-Zwangspause vergisst man glatt, wie anstrengend dreitägige Festivals sein können. Vor allem, wenn sie bei hochsommerlichen Temperaturen in kleinen, verschwitzen Clubs stattfinden. Daher änderten wir spontan unser Programm und beschlossen, die komplette Sonntagstour auf der MS Tonne anstatt nur die erste Runde mitzunehmen. Hier kamen wir zunächst in den Genuss von WASTED YEARS. Ließen die Bandshirts der Bandmitglieder zunächst auf eine Hardcore-Formation schließen (MINOR THREAT, BATTERY, WARZONE & DEAN DIRG), überraschten mich die Kölner*innen mit wunderbar melodischen Punkrock sowie einer großartigen Sängerin. Kommt definitiv mit auf die Liste der Geheimtipps! Im Anschluss durften dann mal wieder die SEWER RATS ran, die aufgrund des kurzfristigen Ausfalls von SHELLYCOAT ihre Spielzeit verdoppeln durften. Im Gegensatz zum Vorabend gab es dementsprechend auch ein abgewandeltes Set zu hören, inklusive einiger Coversongs von RANCID („Time bomb“) und OPERATION IVY („Knowledge“), die die Stimmung zusätzlich hoben. Auch JUKEBOX ROMANTICS hatten mit „True beliver“ von den BOUNCING SOULS ein Coverstück im Gepäck, welches sie diesmal im Gegensatz zum Vorabend auch fehlerfrei runterzockten.

Als nächstes stand im Molotow mit CIGAR ein Pflichtpunkt auf dem Programm. Ihren technisch versierten Highspeed-Skatepunk kannte ich bisher nur von der Konserve, aber diverse Bekannte schwärmten im Vorfeld dermaßen von den Livequalitäten der Band, dass ich sie auf keinen Fall verpassen wollte. Und am Ende konnte ich die Euphorie um diese Band absolut nachvollziehen: Da kamen die Kalifornier verspätet im Molotow an, mussten dann direkt auf die Bühne, um ihren Soundcheck unter den Augen des bereits zahlreich vertretenen Publikums zu absolvieren und zockten im direkten Anschluss einen der straightesten und energievollsten Auftritte runter, die ich jemals gesehen habe. Alleine was der Bassist da abgeliefert hat, ist mit Worten kaum zu beschreiben. Dementsprechend wurden einigen Songs des für Herbst angekündigten neuen Albums sowie bekanntes Material wie „Two Kevins“, „Dr. Jones“ oder „Mr. Hurtado“ frenetisch abgefeiert, bevor etwas später im Grünspan das emotionale Finale des Booze Cruise in Form der GET UP KIDS stattfinden sollte.

Als wir einige Zeit später den Traditionsclub in der großen Freiheit betraten, traf uns fast der (Hitze-)Schlag: Drinnen drängten sich ca. 600 Leute, der Club war eine einzige Sauna, und mitten im Getümmel sprang der ÜBERYOU-Sänger wie von der Tarantel gestochen durchs Publikum und drehte den kompletten Laden auf links. Falls es jemals Zweifel daran gab, dass die Schweizer auch vor großer Kulisse funktionieren, wurden diese im Grünspan eindrucksvoll vom Tisch gefegt. Und dann hieß es Bühne frei für die GET UP KIDS: Zuletzt hatte ich die Emo-Legende, glaube ich, im Jahre 2009 auf dem „Area 4“-Festival gesehen, und der damalige Auftritt war – soweit ich mich erinnern kann – ziemlich enttäuschend. Damals hatte die Band gerade wieder zusammengefunden, und es war ziemlich offensichtlich, dass sie sowohl musikalisch als auch menschlich noch nicht so ganz wieder zueinandergefunden hatten. Tatsächlich habe auch ich im Nachgang an dieses Ereignis das Interesse an den GET UP KIDS weitestgehend verloren und hörte mir seitdem nur noch gelegentlich ihr großartiges Album „Something to write home about“ an. Trotzdem freute ich mich nach so langer Zeit auf ein Wiedersehen mit der Band und war zugleich sehr gespannt, was mich erwarten würde. Und tatsächlich brauchte es nicht lange, bis der Funke übersprang. Vor allem die Ü35-Generation blühte am Ende noch einmal so richtig auf, schmetterte inbrünstig Stücke wie „Better this way“, „Action & action“, „Red letter day“ oder das REPLACEMENTS-Cover „Beer for breakfast“ mit, und auch mein persönlicher Favorit „Washington Square Park“ fand erfreulicherweise den Weg auf die Setlist. Ein würdiger Abschluss eines Festivals, das trotz oder vielleicht auch gerade wegen der zahlreichen Herausforderungen im Vorwege vielen Teilnehmenden noch lange in positiver Erinnerung bleiben dürfte.

Bernd Cramer

Konzert-Junkie & Vinyl-Liebhaber. Schreibt über Musik, ohne zu Architektur zu tanzen.