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Elbjazz 2019 (Hamburg)

Das Elbjazz-Festival am Hamburger Hafen gleicht aus meteorologischer Sicht mitunter einer Wundertüte. Oftmals begleitet von strahlendem Sonnenschein, führte ein Unwetter im letzten Jahr sogar zum Abbruch der Konzerte am Freitagabend. In diesem Jahr wurde für den ersten Festivaltag noch eine Regenwahrscheinlichkeit von 75% angekündigt, doch mehr als drei Tropfen zählten wir erfreulicherweise nicht. Und auch am Samstag begleitete uns die Sonne den ganzen Tag lang.
So konnte man sich also vor eindrucksvoller Kulisse mit riesigen Schiffen im Trockendock und Hafenkränen im Hintergrund einzig und allein der Musik widmen, und da wurde auch in diesem Jahr wieder ein vielseitiges Programm zusammengestellt.

(db) Nachdem wir die erste angepeilte Fähre leider knapp verpasst hatten, erreichten wir gerade noch rechtzeitig das Blohm+Voss- Gelände, so dass wir die letzten Töne von JOJA WENDT aufschnappen konnten. Der Pianist wird nicht nur seit mittlerweile mehr als zwanzig Jahren als begnadeter, äußerst vielseitiger Blues- und Jazzpianist gefeiert. Er gilt darüber hinaus als charmanter Entertainer, dessen erklärtes Ziel es ist, Hemmschwellen gegenüber Klaviermusik und -konzerten abzubauen, frei nach dem Motto „Klavierspielen macht Spaß!“ Dass dem so ist, bewies der Pianist – optisch mit Anzug und Hut fast eine Hommage an seinen Jazzentertainer-Kollegen FRANK SINATRA – dann auch sogleich auf der Hauptbühne: Lässig, technisch brillant und groovig klangen seine Arrangements von Pop-Klassikern wie STEVIE WONDERs „Superstition“, bei denen es den Pianisten immer wieder selbst vor Begeisterung und Spielfreude fast vom Klavierhocker riss. Begleitet wurden seine stilistisch durch Blues und Boogie-Woogie geprägten Arrangements vom satten Sound der NDR-BIG BAND, die JOJA WENDT nebenbei leitete und deren Mitglieder beim abschließenden BEATLES-Klassiker „Lady Madonna“ ihr Können und ihre Professionalität in ausgedehnten, dynamischen Soloparts unter Beweis stellten. Ein gelungener Auftakt für ein Festival, das für Gratwanderungen zwischen Avantgarde und Mainstream bekannt ist und dabei eine wichtige Vermittlerrolle für das oftmals als unzugängliche „Spartenkunst“ empfundene Jazz-Genre übernimmt.

Das Spannende am Elbjazz ist vor allem seine Internationalität, die sich in der Musik in einer Vielzahl verschiedener Einflüsse und Stile, die Künstler und Emsembles aus aller Welt mitbringen, widerspiegelt und die Vielseitigkeit der Jazzszene immer wieder eindrucksvoll erleben lässt. Nach dem eher klassisch amerikanischen Bigbandjazz-Sound der Hauptbühne folgten wir daher gespannt den ungewöhnlichen Klängen, die von der gut besuchten Bühne am Helgen zu uns herüberdrangen: Skalen und Gesangslinien türkischer Folklore mit ihren typischen, sehnsuchtsvollen langgezogenen Schlenkern und Verzierungen, deren stampfende, manchmal vertrackte Rhythmen originell durch treibende Beats und Elektrosounds ergänzt wurden und die Menge zum Tanzen brachten. Bei ALTIN GÜN, einer jungen Jazzformation in der Tradition des „Psych Folk“, die sich in Amsterdam zusammengefunden hat, trifft die Oud auf die E-Gitarre, Elektrojazz auf Folklore, Tradition auf Moderne. Der poetische Gesang und das expressive, rhythmische Zusammenspiel der Band sorgten für eine heitere, sommerliche Stimmung, und nicht nur Balkanbeats-Fans kamen hier voll auf ihre Kosten.

(jg) Vom türkischen „Psych Folk“ aus Amsterdam ging es weiter mit isländischem Prog-Jazz in der Schiffbauhalle. ADHD hatte ich zum ersten Mal vor knapp zwei Jahren in Kiel und ein paar Monate später im Kleinen Saal der Elbphilharmonie gesehen. Ob sich die vier Herren in Hamburg tatsächlich schon einen Namen erspielt haben, wage ich zwar zu bezweifeln, gut möglich, dass die Schiffbauhalle aber auch deshalb so gut besucht war, weil es hier beim ersten Konzert des Abends noch Sitzplätze gab. Eine gute Alternative zu den Camping- und Papphockern, die einige ältere Herrschaften auf dem Gelände mit sich herumschleppten. Der Einstieg in das Konzert fiel dann tatsächlich relativ schräg und nicht gerade zugänglich aus, wer aber die Anfangsviertelstunde überstanden hatte, wurde im restlichen Set mit ruhigen, warmen Saxophonmelodien, progrockartigen Gitarrensoli und HipHop-lastigen Beats verwöhnt. Eine tolle und vor allem einzigartige Mischung, die die vier Nordeuropäer da für sich gefunden haben.

(db) JULIA HÜLSMANN gilt als DIE Frau des deutschen Jazz – im Übrigen eine der Wenigen hierzulande und international, die überhaupt in der „Ersten Liga“ des Jazz mitspielen – und war als „Artist in Residence“ bei diesem Elbjazz gleich mit drei Formationen vertreten. Welche Freude, die Künstlerin in der ganz speziellen Oktett-Besetzung auf der Hauptbühne zu erleben, in der sie ihr Jazztrio (p, b, dr) mit einer klassischen Klaviertriobesetzung (p, vc, vl) und einem Gesangstrio ergänzt, was zu einem sehr transparenten, weichen Gesamtklang führte: es erklang quasi „Kammerjazz“, der auf der großen Bühne fast etwas verloren wirkte, wenn man weiter weg stand. Aber die Zuhörer passten ihre Lautstärke und ihre Aufmerksamkeit an diese kleine, feine Besetzung an und kamen so in den Genuss eines ganz speziellen, intensiven Klangerlebnisses. Wie auch schon JOJA WENDT hat sich das JULIA HÜLSMANN OCTETT neben eigenen Kompositionen aktuell dem Covern von Popsongs gewidmet. Songs wie „Your congratulation“ (ALANIS MORISSETTE), „Come together“ (BEATLES) oder „Hatchet“ (ARCHIVE) erklangen sehr reduziert, intelligent und durchhörbar arrangiert, teilweise sehr poetisch und feinsinnig, teilweise groovig und mitreißend musiziert. JULIA HÜLSMANN, als Arrangeurin und Pianistin der Kern der Band, schaffte mit ihrem „Double Trio“ einen glasklaren Untergrund, über dem die drei Sängerinnen und Sänger, deren Stimmen wunderbar harmonierten, sehr sauber die Vocals intonierten. Am Rande bemerkt: Abgesehen vom qualitativ hochwertigen Konzerterlebnis entsteht der Eindruck, einem emanzipatorischen Akt im Jazz beigewohnt zu haben, besteht die JULIA HÜLSMANN BAND doch bis auf einen Sänger nur aus Frauen – bisher eine Ausnahme in der immer noch von Männern dominierten Jazzwelt und deshalb durchaus erwähnenswert.

(jg) In der Schiffbauhalle ging es mit MILDLIFE weiter. Die vier jungen Australier sahen mit ihren langen Haaren und Cord-Schlaghose aus wie aus den Siebzigern entsprungen, und genauso hörte sich auch ihre Musik an. Klare Einflüsse aus den Sparten Psychedelic, Funk und Krautrock auf der einen Seite, aber auch Elemente aus der Disco, vielleicht sogar aus Science-Fiction-Soundtracks waren da zu vernehmen. Das alles so sommerlich leicht und tanzbar miteinander vermengt, dass der Name MILDLIFE durchaus Sinn ergab. Der Bass so funky wie von METRONOMY, die Vocals ähnlich einnehmend wie man es von ERLEND ØYE kennt, und die Rhodes- und Synthie-Sounds könnte man sich genauso gut bei DAFT PUNK oder PHOENIX vorstellen. Tolle Band, mein persönliches Highlight auf dem diesjährigen Elbjazz und das optische Highlight meiner weiblichen Begleitung.

Der Headliner des ersten Abends war eindeutig JAMIE CULLUM, was man nicht nur an seinem Slot um 23 Uhr und an mehr als 10 Millionen weltweit verkauften Tonträgern, sondern auch an der Menge der Zuschauer vor der Hauptbühne ausmachen konnte. Bereits zum zweiten Mal nach 2013 (Link) machte der noch immer junge Brite auf dem Elbjazz Station. Anscheinend einer, auf den sich alle einigen können, wobei der etwas übermotivierte Moderator, der jede Band auf den großen Bühnen ansagte, bereits darauf hinwies, dass einige eingefleischte Jazz-Nerds mit Cullums Entertainment-Gehabe ihre Probleme hätten. Was damit gemeint war, sah man gleich zu Beginn des Konzertes, als er auf seinen Flügel kletterte und mit einem spektakulären Satz auf die Bühne sprang. It’s showtime, baby!
Doch auch musikalisch wurde einiges geboten. Neben gefühlvollen Solo-Piano-Songs gab es mitreißende Swing-, Funk- und Soul-Stücke, bei denen nicht nur Cullum glänzte, sondern auch zwei Backing-Sängerinnen mit ihren kräftigen Stimmen begeisterten. Man mag JAMIE CULLUM zurecht eine gewisse Mainstreamigkeit vorwerfen können – spielerisch und auch soundtechnisch hätte das Programm nicht besser sein können. Und abwechslungsreich war es noch dazu. Ein würdiger Abschluss für unseren ersten Tag.

(jg) Den zweiten Tag wollten wir nicht ausschließlich auf dem Gelände von Blohm + Voss verbringen, auch wenn das Wetter dazu eingeladen hätte. So starteten wir heute im Kleinen Saal der Elbphilharmonie mit dem DANIEL GARCIA TRIO, das traditionelle spanische Musik mit einem klassischen Klaviertrio verband. Was zunächst noch relativ unspektakulär losging, entwickelte sich nach einer halben Stunde immer mehr zu einem sehr gut aufeinander eingespielten Groove-Monster, bei dem sich die Spielfreude eins zu eins auf das Publikum übertrug. Obwohl die Spanier bereits ca. 20 Minuten überzogen, gab es im Anschluss vom gesamten Saal Standing Ovations und weitere Zugabewünsche, die aber nicht mehr erfüllt werden konnten. Waren MILDLIFE bereits mein Highligt des Festivals, so war das DANIEL GARCIA TRIO zumindest meine Überraschung des diesjährigen Elbjazz.

(db) Manchmal ist es ja so, je mehr man sich auf etwas freut, umso enttäuschender ist es dann in der Realität. So erging es mir mit dem Auftritt der Schweizer Künstlerin SOPHIE HUNGER, die mich mit ihrer einzigartigen Stimme und großen Kreativität schon immer sehr beeindruckt hat. Als Grenzgängerin zwischen den Stilen und Musikwelten kenne ich sie schon lange, aber eben auch als Individualistin, Einzelgängerin. Dass ihr neuestes Album elektrischer und experimenteller und auch bandlastiger daherkommt als die Alben zuvor, war mir klar. Als sich aber der Konzertbeginn wegen technischer Probleme um ca. eine halbe Stunde nach hinten verschob und wir das Bühnenequipment sahen, das aus nicht weniger als fünf E-Pianos bzw. Synthies bestand, wurden wir ein bisschen skeptisch. Und tatsächlich, als es losging, erwiesen sich die technischen Probleme nur zum Teil als gelöst und die Techniker sich als vom Soundmanaging etwas überfordert. Von Anfang an lag über den Boxen ein penetrantes Fiepen und Rauschen, das nur mit Ohrstöpseln auszuhalten war, der Sound vor der Bühne war viel zu laut und unausgewogen, die Songs wirkten rein akustisch überfrachtet und SOPHIE HUNGERs Stimme ging beinahe unter. Ein stimmiges Bild mochte sich nicht einstellen. Von allem war es irgendwie viel zu viel – nur die Musik kam zu kurz. Wie wohltuend, als der Rest der Band für einen Moment beiseite trat und Platz machte für Sophies alten Song „Spaghetti mit Spinat“ – da sprang der vermisste Funke schließlich doch noch über. Resigniert und verständnislos zog meine Begleitung ihr Fazit: „Eigentlich bräuchte sie doch nur ihre Stimme…“ Viel hilft eben nicht immer viel.

(jg) Hinter ALFA MIST verbirgt sich eine junge Band aus London um den gleichnamigen Mann an den Rhodes, der ursprünglich als Grime- und HipHop-Produzent gestartet ist und sich neben der Autodidaktik an den Tasten nun auch den Genres Soul, Easy Listening und Jazz geöffnet hat. Als Ergebnis kommt dabei eine sehr melancholische Mischung der genannten Stile heraus, die man durchaus auch als Lounge Jazz bezeichnen könnte. Für meinen persönlichen Geschmack ein wenig zu chillig für diesen frühen Nachmittag.

(db) Mit Anbruch der Dunkelheit setzte die wie jedes Jahr faszinierende Illumination des Geländes ein; tausend kleine Lichtreflexe aus den an den Kränen befestigten Discokugeln tauchten die Hallenwände in einen Lichterregen – den äußerst stimmungsvollen Soundtrack zu dieser Lightshow lieferte am Samstagabend J. P. BIMENI auf der Bühne am Helgen, eine der neuen aufstrebenden Stimmen des Soul, der teils mit samtig-weicher, teils kräftig-rauher Stimme über knackigen Bläsersounds überaus überzeugend dem Soul huldigte.

Als wir dann schließlich zum letzten Act des diesjährigen Elbjazz-Festivals die Schiffbauhalle betraten, waren die Lichter noch an, und auf der Bühne formierte sich gerade die Band für den Soundcheck. Dass der Name KOKOROKO – nigerianischer Dialekt für „Sei stark!“ – hier Programm sein dürfte, wurde den noch nichtsahnenden, sich im abwartenden Smalltalk befindenden Zuhörern schlagartig klar, als die drei Frontfrauen an der Trompete, dem Altsaxophon und der Posaune den lautesten Akkord des Abends für den Mischer intonierten: ein satter, brazziger Sound, auf den Punkt getimed. Spontan brandete Applaus auf – noch bevor das Konzert überhaupt losgegangen war – und gespannt erwarteten nun alle das Konzert dieser jungen, aus London und Afrika stammenden Band. Mit farbenreichen Klängen und voller Power legte die achtköpfige Band los und begeisterte das Publikum eine Stunde lang mit einer groovigen Mischung aus Afrobeats und Londoner Jazzsounds, allen voran die drei Brass-Frauen, die außerdem auch noch die Vocals und Percussion bedienten und mit einer unglaublichen Energie und Bühnenpräsenz das Publikum in ihren Bann zogen.
Kräftige Soli der Bläser wechselten sich mit rasend schnellen Solopassagen an den Keys und der Gitarre ab, immer eingerahmt von den prägnanten, starken Bläsereinwürfen und farbenprächtigen, teilweise unisono intonierten Melodien des Damentrios, geerdet durch groovige Rhythmen in Drums und Bass – das war Power, Energie, die pure Lebensfreude, die sich unmittelbar auf das Auditorium übertrug: Zusammen mit uns tanzte und wogte die Menge und feierte die Band und ihre mitreißende Musik. Für uns ein fulminanter Abschluss eines erfüllten Festivalwochenendes!