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SLUT – Entwerfen und Verwerfen liegt nah beieinander

 
Acht Jahre nach „Alienation“ erscheint nach einer langen Auszeit ein neues Album der Ingolstädter Band SLUT. Auf „Talks of paradise“ wurden laute Gitarren durch flächige Keyboard-Sounds ersetzt, der neue Sound fällt wesentlich dezenter, aber nicht weniger eingängig aus. Wie es zu den klanglichen Veränderungen kam, wie man als Band überhaupt wieder zusammenfand und wie die Ideen in Athen entwickelt wurden, berichtet uns Sänger und Keyboarder/Gitarrist Christian Neuburger im Interview via Zoom. Die Vorteile der durch Corona vorangetriebenen Digitalisierung: Christian muss für die unumgänglichen Promotermine nicht mehr quer durch Deutschland reisen, sondern sitzt bei bestem Sonnenscheinwetter in seinem heimischen Garten und wirkt sichtlich entspannt.

Hallo Christian! Mitte Juni erscheint mit „Talks of paradise“ ein neues SLUT-Album, das erste Lebenszeichen seit 2014. Was ist in der Zwischenzeit passiert?
Aufgehört haben wir eigentlich nicht. Zu dem damaligen Zeitpunkt gab es nur den Wunsch aller Bandmitglieder, nach so vielen Jahren bewusst aus dem regelmäßigen Rhythmus von Studio und Tournee auszusteigen. So konnte sich jeder von uns um Dinge kümmern, die in der aktiven Zeit der Band zu kurz kamen. Die Länge der Pause war allerdings völlig offen, bis schließlich der Drang aufkam, wieder zusammen zu musizieren. So sind Rainer und ich aufgebrochen nach Athen, um zum Auftakt gemeinsam wieder etwas auszuprobieren.

Aber war es denn nur der Wunsch, sich um andere Sachen zu kümmern, oder wart Ihr nach 20 Jahren auch etwas müde von der Band?
Es war wohl eher die Müdigkeit, die sich gerne nach Tourneen einstellt. Die damalige Tour war sehr lang und endete schließlich in einem Festivalsommer, wo wir das Gefühl hatten, dass sich nach 20 Jahren doch vieles wiederholt. Es waren ähnliche Clubs, ähnliche Festivals, eigentlich alles wunderbar, aber eben doch eine ständige Wiederholung des Altbekannten. Wir hatten das Gefühl, dass wir etwas Abstand brauchten, auch mit der Devise, nicht mehr an Musik denken zu müssen.

Konntet Ihr damals von Eurer Musik leben? Andernfalls stellt sich ja auch finanziell die Frage, wie das Leben stattdessen weitergehen soll.
Wir haben nur temporär davon leben können, als es mit dem Album „Lookbook“ richtig losging bis zu der „Still No. 1“, also für etwa fünf, sechs Jahre. Aber wir waren auch damals schon stets bemüht, von Platte zu Platte etwas zu ändern, andere Auftrittsorte zu suchen und die Konzerte anders umzusetzen, um uns nicht zu wiederholen. Das hat auch gut geklappt. Aber irgendwann kamen andere Interessen mit ins Spiel, es wurden Dinge weiterverfolgt, die man teilweise zuvor studiert hat, meist im kreativen Bereich, so dass das Leben eher zweigleisig verlief. Wahrscheinlich hat das alles auch dazu beigetragen, dass wir uns als Band ständig weiterentwickelt haben.

Bei der Recherche ist mir aufgefallen, dass Eure Alben stets in den höchsten Tönen gelobt wurden. Es ist die Rede von Souveränität, Tiefgang, höchstem Niveau und Vielschichtigkeit. Habt Ihr gezielt an diesem Anspruch gearbeitet, oder kam die Komplexität automatisch aus den vielen Ideen heraus, die in Eure Musik eingeflossen sind?
Es war jedes Mal Arbeit, und wir können nicht behaupten, dass uns alles nur so zugeflogen sei. Wahrscheinlich steckt prinzipiell viel Arbeit hinter guter Musik und Kunst. Der größte Kraftakt besteht aber darin, sich immer wieder aus seinen Fesseln zu befreien und nicht auf alte Muster zurückzugreifen. Stattdessen sollte man sich auf neue Ideen einlassen und von dem distanzieren, was man nicht mehr mag. Die verschiedenen Seitenprojekte, also die Beschäftigung mit Theatertexten, mit Bühnen- und Filmmusik und die Zusammenarbeit mit Julia Zeh, haben dies sicherlich unterstützt.

Und wie gelingt da die Gratwanderung, gleichzeitig die Massen zu erreichen? Ihr habt in meinen Augen auch immer sehr gut auf die großen Festivalbühnen gepasst.
Man weiß ja vorher nicht, ob und wie es funktioniert, und unsere Überlegungen gingen auch nie in diese Richtung. Es ist schwer zu beschreiben, aber im Studio gibt es manchmal Momente, wo man zustimmend nickt oder mit dem Kopf schüttelt. In diesen Augenblicken bewegt sich etwas, man erkennt, dass man etwas gefunden hat, dem man weiter nachgehen will. Viel mehr denken wir gar nicht drüber nach. Das Ganze wird dann natürlich penibel weiter ausgearbeitet, aufgenommen, ausgetauscht und ausprobiert. Das ist dann der anschließende Arbeitsanteil. Aber ob es am Ende auf der großen Bühne oder in einer kleinen Theaterbutze landet, ist erst mal zweitrangig.

Aber kommen wir noch mal zum Ausgangspunkt zu Eurem neuen Album zurück. Du hast Dich also mit Rainer getroffen, ausgetauscht und Ihr seid schließlich zum gemeinsamen Musizieren nach Athen geflogen. Habt Ihr „Talks of paradise“ also zu zweit geschrieben, oder wann kam die restliche Band hinzu?
Wir haben das Songwriting anfänglich zu zweit gemacht, aber die anderen anschließend direkt mit einbezogen und die Songs gemeinsam ausgearbeitet. Gemeinsam haben wir dann noch weitere Songs geschrieben, coronabedingt sind aber noch einzelne Sachen zu Hause entstanden. Insgesamt ist also in Kleingruppen gearbeitet worden, aber das war zuvor auch schon so.

Die Beats klingen auf Eurem Album nicht immer analog. Wie seid Ihr da vorgegangen?
In Athen 2017 mussten wir natürlich zu zweit das Drum-Gebilde für eine Band mit elektronischen Mitteln simulieren. Dort sind elektronisch erzeugte Tracks mit einem gewissen Anteil an echten Instrumenten entstanden, die wir zu Hause im Proberaum als Band umsetzen wollten. Das hat aber nur bedingt geklappt, so dass wir auf die Idee kamen, jede elektronisch erzeugte Spur von den Musikern nachspielen zu lassen. Da das allerdings zu sehr nach Proberaum klang, haben wir die analog eingespielten Instrumente klanglich wieder so verändert, dass es wieder mehr an das elektronische Programming erinnerte. Dies macht am Ende wahrscheinlich den Reiz unseres neuen Albums aus: es klingt digital, wurde aber analog umgesetzt.

Das passt ganz gut zusammen mit der Einschätzung in einer Rezension, die ich las. Dort hieß es, dass Ihr Euren Sound renoviert und dem Zeitgeist angepasst hättet. Aber was macht Ihr nun live mit den alten Songs? Werden sie live ebenfalls verändert?
Wenn wir für unsere Touren proben, stellt sich immer heraus, dass das Neue gar nicht so weit vom Alten entfernt ist. Das Instrumentarium mag zwar ein anderes sein, aber gerade live hört man viel Schlagzeug, Bass und Gesang heraus, was bei den neuen Songs ja auch vorhanden ist. Da sind die Unterschiede gar nicht mehr so groß wie zwischen den einzelnen Platten.
Aber um noch mal auf die von Dir angesprochene Rezension zurückzukommen: Ob die Anpassung an den Zeitgeist stimmt, weiß ich nicht so genau. Den Sound haben wir ja schon immer renoviert. Dieses Mal haben wir aber erstmals festgestellt, und das war eine schöne Erkenntnis, dass wir dramaturgische, SLUT-typische Elemente auch anders erzeugen können als mit einer Gitarre und einem lauten Verstärker. Es braucht also gar nicht die Vielzahl an Instrumenten und das klassische Laut/Leise, um bestimmte Atmosphären zu erschaffen. Manchmal reicht auch ein analoges Keyboard dafür aus – und das ohne Vorsatz.

Ihr habt in Eurer gesamten Zeit keinen Besetzungswechsel gehabt, was nur wenige andere Bands schaffen. Spricht das dafür, dass Ihr eine sehr harmonische Band seid? Und ist dies vielleicht auch notwendig, wenn man so gravierende musikalische Veränderungen vornimmt?
Wir sind sehr harmonisch – das muss man wirklich so sagen. Wer hält es schon 25 Jahre miteinander aus… Wir fühlen uns aber auch nicht miteinander verheiratet, das ist vielleicht das Gute. Es gibt ein gewisses Grundverständnis untereinander, in dem alles hinterfragt werden kann: Instrumente, die Art zu singen, usw. Aber es gibt einen sehr wichtigen Aspekt, und das ist die menschliche Ressource. In diesem Gefüge fühlt man sich auch nach 25 Jahren noch immer sehr wohl und aufgehoben, und man kann sich wie der Fisch im Wasser bewegen, ohne viel nachdenken zu müssen. Was die Band auch noch auszeichnet: wir reden nicht viel über die Musik. Es wird eher gehandelt und ausprobiert statt diskutiert. Wenn einer unzufrieden ist, schmeißt man alles weg und macht halt was Neues, ohne groß drüber zu reden.

Wird denn vieles bei Euch verworfen?
Ja, Entwerfen und Verwerfen liegt ganz nah beieinander. Es sollte auch so sein, dass man sich ganz schnell wieder von den Dingen verabschieden kann, die man sich so erdenkt. Bei der aktuellen Platte war dieses Thema extrem. Immer wenn wir gemerkt haben, dass ein Lied nur durch den Aufbau einer Wall of Sound mit einer breiten Instrumentierung funktioniert, haben wir es gleich liegengelassen. Stattdessen schienen uns einzelne Melodien oder Themen, beispielsweise auf einer Orgel, viel wichtiger als dieses vielschichtige Monstrum, das eher in die Vergangenheit gezeigt hätte. Ein Beleg dafür ist, dass wir von vielen Stücken vier oder fünf fast ausproduzierte Versionen haben, die anschließend wieder verworfen wurden.

Zum Abschluss: wie sind Eure Live-Planungen? Kann man Euch schon in diesem Jahr auf den heimischen Bühnen erwarten?
Es war bereits etwas geplant, was leider bzw. Gott sei Dank, verschoben wurde. Es ist etwas in der Planung, aber dazu kann ich derzeit noch nichts Festes sagen, weil es ja von vielerlei Umständen abhängt.

Ich drücke Euch die Daumen und wünsche Euch viel Erfolg mit dem neuen Album!
Vielen Dank fürs Gespräch und bis bald!

In der Zwischenzeit wurden auch die ersten Tourdaten zum neuen Album bekanntgegeben:

21.08.21 Berlin – Waldbühne (Der große Radio Eins Abend)
27.09.21 Berlin – Lido
28.09.21 Hamburg – Knust
29.09.21 Köln – Gebäude 9
30.09.21 Stuttgart – Im Wizemann
01.10.21 München – Strom
02.10.21 Dresden – Beatpol

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