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Foto: Julia Binner

KALLE – 1/4 Ernsthaftigkeit, 3/4 Humor

 
Wer den Namen KALLE bisher nur mit einem wegen Steuerhinterziehung vorbestraften Münchener Fußballfunktionär oder einem minderjährigen, schwedischen Meisterdetektiv verbindet, sollte einmal einen Blick nach Berlin werfen. Dort treibt nämlich seit 2019 unter diesem Namen eine Band ihr Unwesen, die eine unterhaltsame Mischung aus Deutschpunk und Powermetal spielt und darüber hinaus das neuste Pferdegerippe im Stall des kleinen Majorpunk-Labels Bakraufarfita Records verkörpert. Kurz nach der Veröffentlichung ihrer ersten LP namens „Ey!“ und ihrem allerersten Auftritt in Form eines Streaming-Konzerts präsentieren wir euch nun also mit Freude das erste Interview von KALLE, welches die Bandmitglieder U. Lee van Hummel (im Folgenden UvH), St.Ephi, Levi N´lvel und Mr. Nice Kai in trauter Eintracht beantwortet haben. Los geht’s!

Ey, KALLE! Stellt euch doch zunächst bitte einmal unserer Leserschaft vor! Mich interessiert dabei vor allem, in welchen Bands ihr zuvor aktiv wart (oder nebenbei immer noch seid), denn das eine oder andere eurer Gesichter kommt mir doch irgendwie bekannt vor…
St.Ephi: Ich spiele bei KALLE Gitarre und singe. Davor habe ich das auch schon bei DIE PHILS gemacht, außerdem habe ich eine Zeitlang bei BLINKER LINKS und bei DIVAKOLLEKTIV Gitarre gespielt. Ansonsten spielen U. Lee und ich bei FRAU MANSMANN.
Mr. Nice Kai: Tach. Mich und meinen markerschütternden Bass könnte man gegebenenfalls noch als „Kai“ von BLINKER LINKS, „K1 GV“ von LEONARDO IM CABRIO oder als add-on-Gitarrist „Kai-Z“ bei BAND OHNE ANSPRUCH kennen.
UvH: Ich habe in meinen jungen Jahren in diversen Bands gespielt, aber das ist lange her, so dass sich daran wohl kaum jemand erinnert. In meinen Dreißigern war ich dann als Liedermacher HerrBinner solo und als Teil der Liedermacherband DIE BIERTENÖRE unterwegs und habe drei Solo-Platten, zwei mit DIE BIERTENÖRE und eine mit Band unter dem Namen WIR SIND HERRBINNER veröffentlicht. Bei KALLE spiele ich Gitarre und singe.
Levi’N’Ivel: Moin, mein Gesicht kennt, glaube ich, noch niemand. Ich bin neben KALLE noch in einer Prog-Metal-Band, in der wir aber erst Ende des Jahres das erste Album veröffentlichen und noch keine Shows gespielt haben…ich sitze allerdings irgendwo bei Netflix’ „Queens Gambit“ in den Zuschauerreihen, wer mich findet, kriegt einen halben Schlagzeugstick!

Mit „Ey!“ habt ihr einen prägnanten, aber irgendwie auch etwas einfallslosen Plattentitel gewählt. Weshalb habt ihr euch für diesen Namen entschieden, und nicht etwa beispielsweise – wie es derzeit modern zu sein scheint – für eine Adaption bereits bestehender Albumnamen von anderen, bekannten Deutschpunk-Bands? Es hätten sich ja zum Beispiel auch Knallertitel wie „Kalle gegen alle“ oder „Kalle muss kaputt sein“ angeboten…
Mr. Nice Kai: Mit diesem Wort begann der Satz in dem später die Frage formuliert wurde, ob ich bei KALLE mitmachen möchte, es war das erste Wort bei der ersten gemeinsamen Probe und abgesehen vom Album selbst bin ich gerade ohnehin überrascht, dass St.Ephis und U. Lees Vokabulare sich offensichtlich nicht ausschließlich auf die Texte des Albums begrenzen.
Levi’N’Ivel: „Ey!“ war nach Stunden des [zensiert] und gegenseitigen [zensiert] das Produkt unseres kreativ überdimensionalen Hiveminds und repräsentiert zugleich nicht nur die Platte, sondern auch uns: kurz, knackig, dreckig.
St.Ephi: „Ey!“ ist halt ein ziemlich starker und treffender Ausruf und in Berlin beginnt damit auch eigentlich jede vernünftige Unterhaltung.
UvH: …und der Titel nimmt den immer größer werdenden Bevölkerungsanteil mit, der mit dem Lesen von mehr als zwei Buchstaben überfordert ist. (Anm. d. Redaktion: Ähnlich hat möglicherweise Garry Bushell gedacht, als er den Begriff „Oi!“ etabliert hat…)

Ich bin ein wenig erstaunt, dass zwischen euren ersten Proben und der Veröffentlichung der LP gerade einmal zwei Jahre vergangen sind – vor allem, wenn man bedenkt, dass ein Großteil dieser Zeit auch noch unter dem schlechten Stern dieses Corona-Dingsbums stand und sowohl Proben, als auch Studioaufenthalte nicht möglich oder zumindest mit immensen Einschränkungen versehen waren. Wie habt ihr es geschafft, unter diesen Voraussetzungen ein so überzeugend klingendes Album an den Start zu bringen?
UvH: KALLE begann bei mir auf dem Laptop mit den ersten Demos, dann ging es weiter mit ein paar Songs, die Stefan und ich zusammen geschrieben haben, die noch mit weiteren Titeln ergänzt wurden, die ich mir im stillen Kämmerlein ausgedacht und am Wohnzimmertisch aufgenommen habe. Letztlich waren Ende 2019 insgesamt 20 Songs fertig und weitgehend vorproduziert. Kaum hatten wir dann Kai und Levin verpflichtet und angefangen zu proben, kam die Pandemie mit ihren Einschränkungen und Herausforderungen. Da wir aber alle Titel vorproduziert hatten, war es dank der modernen Technik und St. Ephis Kompetenzen als Recordingmeister möglich, während des Lockdowns die Demospuren durch richtige Spuren zu ersetzen und so ganz in Ruhe das Album zu produzieren.
St.Ephi: Durch den ersten Lockdown hatten wir ja auch viel Zeit, so dass der Aufnahmeprozess und das anschließende Mixing nicht durch alltägliche Störfaktoren wie z.B. Arbeit aufgehalten wurden. Und Homerecording macht vieles deutlich einfacher, so wurde z.B. der Bass bei mir im Wohnzimmer aufgenommen.
Mr. Nice Kai: Wir hatten außerdem noch das relativ große Glück, dass wir uns von Januar bis März mindestens einmal pro Woche treffen und dadurch die bereits bestehenden Songs recht fokussiert einproben konnten.
Levi’N’Ivel: Ass im Ärmel war dabei, einen eigenen Proberaum zu haben. Da konnten nacheinander Schlagzeug, Gitarren und Gesang aufgenommen werden – mit all der Zeit, die man sich dafür nehmen wollte. Bei den prä-corona stattgefundenen Proben hatten sich die Songs bereits verfestigt und wir hätten eigentlich auch Bühne und ZuschauerInnen besteigen können, so haben wir uns dann stattdessen in Zweier-Konstellationen im Proberaum vergnügt.

Der Legende zufolge wurden Teile eurer Besetzung ja im Rahmen eines KNOCHENFABRIK-Konzerts rekrutiert. Aus deren Umfeld wiederum stammen ja auch einige Mitglieder der legendären DUSCHBAND, die jahrelang auf dem Zeltplatz des Wacken Open-Air gespielt hat. Wäre das nicht auch für euch ein erstrebenswertes Ziel?
St.Ephi: Die DUSCHBAND ist legendär, das sollte niemand kopieren. Aber Wacken an sich wäre ein erstrebenswertes Ziel, ja (höhö).
Mr. Nice Kai: Von mir ein ganz klares: Jein!
Levi’N’Ivel: Ich schließ mich da dem Typen zwei Zeilen über mir an!

Musikalisch spielt ihr ja, vereinfacht gesagt, eine Mischung aus Deutschpunk und Powermetal – eine Mischung, die nicht gerade alltäglich ist. Hattet ihr bei der Gründung von KALLE schon eine genaue Idee, wie das Resultat klingen sollte? Oder gab es möglicherweise sogar konkrete Bands, an denen ihr euch orientiert habt?
St.Ephi: Meine musikalische Sozialisation begann bereits in der Grundschule mit Metal. Allerdings konnte ich das nicht spielen und war zu faul, es zu lernen, da kam dann Punkrock genau richtig. Aber ich habe trotzdem immer auch Metal gehört, und als mir U. Lee von seiner Bandvision erzählte, war ich sofort Feuer und Flamme. Sowas wie NOFX mit MAIDEN-Gitarren? Geil!
UvH: Eigentlich gab es, seit ich mich erinnere, keine Band, die meinem Geschmack wirklich entsprochen hat, das war auch die wesentliche Motivation, nochmal eine Band zu gründen und KALLE aus der Taufe zu heben. Ich selbst habe mit 18 in einer furchtbaren Powermetal-Band gespielt und war als Gitarrist immer an Technik und Virtuosität interessiert. Mit den Vorproduktionen wurde schon ziemlich klar, wie die Bandversion klingen soll. Die Mischung aus Metal und Punkrock ist, was mich betrifft, ein Spiegel meines eigenen Musikgeschmacks, der sich nicht an Stilen orientiert, sondern an guten Songs.
Levi’N’Ivel: Die Songs habe ich nicht geschrieben, nur die Schlagzeugstimme dazu, dabei habe ich aber definitiv meine Metal-Einflüsse mit eingebracht, die sich durch die Gitarren aber ganz automatisch ergeben haben.

Insgesamt würde ich euch schon als eine sehr humorvolle Band betrachten, die sich und die Szene um sie herum nicht allzu ernst nimmt. Auf der anderen Seite habt ihr aber auch Lieder wie „Alter weißer Mann“ und „Privat ist er eigentlich ganz nett“ auf der Platte, die sich im Kern mit konservativen Denkmustern, Alltagsrassismus/-sexismus und dem zunehmenden Abdriften der bürgerlichen Mitte nach Rechts auseinandersetzen. Wie viel Ernsthaftigkeit steckt bei genauerer Betrachtung in KALLE?
UvH: Ungefähr ein Viertel Ernsthaftigkeit (also ich) und dreiviertel Humor. Beim Schreiben der Texte hatte ich nicht den Wunsch, sonderlich humorvoll zu sein, sondern habe versucht meine Gedanken, Gefühle und Erlebnisse poetisch zu verarbeiten. Mir war es sehr wichtig, dabei auch deutlich zu machen, wo ich politisch stehe und KALLE als Teil meines politischen Engagements gegen Faschismus und Sexismus zu verstehen.
Mr. Nice Kai: In der Regel bin ich es gewohnt, Lieder zu spielen, in denen es überwiegend ums Biertrinken geht. Das finde ich auch wichtig und richtig. Aber leider wird es immer richtiger und wichtiger, sich auch abseits der Theke zu positionieren. Also vielleicht doch nur fünfachtel Humor.
Levi’N’Ivel: Ich finde sowohl Fünfachtel als auch unsere Texte sehr gut!
St.Ephi: Ernsthaftigkeit finde ich mit Humor viel besser.

Der zweite Song der Platte heißt bezeichnenderweise „Der zweite Song muss unbedingt ein Hit sein“ und ist – überraschenderweise – ein Hit. Aber wäre es nicht viel punkrockiger gewesen, den Song an erster oder dritter Stelle des Albums zu platzieren? Damit hättet ihr es euren despotischen Label-Bossen doch einmal so richtig gegeben…
St.Ephi: Die Tracklist ist ja nicht zufällig, da haben wir uns ja schon ein paar Gedanken bei gemacht. Und „Der zweite Song“ passte einfach auch aus kompositorischen Gründen perfekt an die zweite Stelle. Den Song mit Absicht eben nicht an die zweite Stelle zu setzen, hätte sich dann auch irgendwie albern und konstruiert angefühlt.
Mr. Nice Kai: Ich hätte den Song schon gerne an dritter Position gesehen. Aber selbst das wäre eher albern als witzig gewesen. Grundsätzlich bin ich aber auch ein Freund davon, die Songs einfach in der Reihenfolge aufs Album zu bringen, in der sie entstehen. Zumindest ein kleines bisschen Scheißegal-Haltung.
Levi’N’Ivel: Das ist so ein klassischer Fall von zweimal um die Ecke denken. „Den zweiten Song“ nicht an die zweite Stelle zu setzen, lässt schmunzeln, aber ist auch offensichtlich. „Den zweiten Song“ an zweite Stelle zu setzen, ist danach dann wieder ziemlich punkrockig.
UvH: Ich hatte zum Beginn des Ganzen eine Liste mit Songtiteln erstellt, zu denen ich dann Stück für Stück auch Songs geschrieben habe. Auf Platz zwei dieser Liste stand: „Der zweite Song muss unbedingt ein Hit sein“. Dass sich das nun auch so auf der Trackliste widerspiegelt, ist daher nur konsequent.

Ich erinnere mich noch an eine Zeit, in der die gute alte Schallplatte akut vom Aussterben bedroht war und viele Bands Bonus-Stücke auf die LP-Version ihrer Alben gepackt haben, um einen besonderen Kaufanreiz gegenüber der CD-Variante zu schaffen. Ihr hingegen habt mit „Mein Nachbar“, „Das ist doch noch kein Rock’n’Roll“ und „Berlin ist gar nicht mal so toll“ drei zusätzliche Songs aufgenommen, die auf dem physischen Tonträger nicht enthalten, sondern lediglich digital verfügbar sind. Weshalb habt ihr euch für diesen Weg entschieden?
St.Ephi: „Ey!“ hat jetzt mit zwölf Songs eine Spielzeit von knapp 40 Minuten; länger sollte eine Punkrock-Platte auf keinen Fall sein.
Levi’N’Ivel: Ist punkrockig.
Mr. Nice Kai: Man muss ja auch den zweitschlimmsten Fall einplanen. Sollte es zu einem erneuten Lockdown kommen, müssen wir Bönx nur überzeugen, eine EP zu veröffentlichen und stopfen so das Promo-Loch.
UvH: Wie schon oben erwähnt, hatten wir 20 Songs als vorproduzierte Demos, als wir angefangen haben, das Projekt real werden zu lassen. Durch die Pandemie haben wir es aber nicht geschafft, alle Titel als Band anzugehen. Da wir die Aufnahmen ja ohne Zeitdruck machen konnten, entschieden wir uns, alle Titel aufzunehmen, die wir schon in unseren wenigen Proben gespielt hatten. Mir wäre es am liebsten gewesen, wir hätten auch noch die anderen Lieder aufnehmen können, die schon vorproduziert waren (vor allem „Bullengraben“), aber so haben wir noch mehr Material, aus dem wir dann für das zweite Album auswählen können (denn inzwischen sind natürlich schon wieder einige neue Demos fertig).

Letzte Frage für heute: Am 27. Mai habt ihr gemeinsam mit euren Label-Kollegen INWIEFERN ein Streaming-Konzert im Cassiopeia gespielt. Wie fühlte es sich an, ohne Publikum aufzutreten? Und was sind in Anbetracht dieser Erfahrung die wichtigsten Faktoren, weswegen Konzerte mit Publikum einfach geiler sind?
Levi’N’Ivel: Meine Bühnenerfahrung beschränkt sich bisher auf Orchesterauftritte mit den Eltern und Geschwistern im Publikum, die sind ungefähr so aufregend, wie eine nicht wahrgenommene Kamera, die das live überträgt…ich fand aber auch das Streaming-Konzert (und die Möglichkeit, sich das selbst nochmal anzuschauen) schon echt geil und bin heiß auf Konzerte mit präsentem Publikum!
St.Ephi: Es fehlt ganz klar das Feedback der Leute. Dazu zählen das Gegröle, der Geruch und der Schweiß. Streamingkonzerte und Sitzkonzerte mit Abstand und Maske gehören hoffentlich bald der Vergangenheit an. Das kann nix.
UvH: Ich bin durch meine Jahre als Liedermacher, der überall aufgetreten ist, wo Fahrgeld und drei Bier zugesichert wurden, damit vertraut, vor leeren Hallen zu spielen. Allerdings war das in dieser Zeit nicht das Konzept, sondern eher eine unangenehme Nebenerscheinung. Ich fand das richtig schwierig vor einem leeren Raum zu spielen und keine Ahnung zu haben, ob sich das jemand anschaut oder wie ggf. die Reaktionen im Publikum sind. Bei richtigen Konzerten (wenn Publikum kommt) gibt es diese direkte Interaktion mit dem Publikum. Ein richtiges Konzert ist eben nicht nur eine Band auf der Bühne, sondern auch ein Laden voller begeisterter Menschen, die mitsingen, klatschen, tanzen oder besoffen auf die Bühne kommen und mir an den Nippeln ziehen (wobei ich hoffe, dass wir schnell so große Bühnen bekommen werden, dass letzteres nicht wieder vorkommt). Vergleichbar war das Erlebnis im Cassiopeia mit Drogennehmen ohne Freunde. Der Rausch ist zwar spürbar, es ist aber nicht ansatzweise so geil, alleine high zu sein, wie mit Freund:innen.
Mr. Nice Kai: Für mich war es ein klarer Vorteil, dass nicht ständig Leute auf die Bühne kommen, die einem das Bier austrinken. Das stimmt bei INWIEFERN jetzt nicht zu 100%, aber das ist ein anderes Thema. Auf der anderen Seite kommt man bei einem Konzert mit Publikum nicht in die prekäre Lage, dass die Bühnenkiste am Ende gegebenenfalls nicht leer sein könnte. Da wird’s nämlich unangenehm. Außerdem ist ein betrunkenes Publikum in einem viel zu lauten Raum sehr viel gnädiger als Menschen zuhause vor ihren Rechnern. Und bei einem Konzert mit Publikum kommt man hinterher für gewöhnlich nicht auf die Idee, sich das hinterher nochmal anzuhören. Das verbuche ich im Punk auch als großes Plus.

https://www.facebook.com/KalleBand/

Bernd Cramer

Konzert-Junkie & Vinyl-Liebhaber. Schreibt über Musik, ohne zu Architektur zu tanzen.