Das einzigartiges Traumzeit-Festival verabschiedet sich mit einem lässigen „Okidoki, folks!“
Dem Festival im Landschaftspark in Duisburg-Nord (22.06.-24.06.2018) sollte man im Jahresplaner einen festen Platz einräumen. Selbst wenn nicht die Lieblingsband spielen sollte: Reisen bildet. Anders als bei vielen Großveranstaltungen, mit immer gleich aussehenden überdimensionierten Bühnen und endlosen Dixieklo-Reihen, findet man hier einen bunten Potpourri (oder sollte man sagen Poppouri?) aus wohlklingenden Popteilchen vor atemberaubender Kulisse, gemischtem Ruhrpoppublikum mit populärem Emscherpopcharme, pur Pop also. Entschuldigung.
Im über 100 Jahre alten Hüttenwerk, 1901 als „Rheinische Stahlwerke zu Meiderich bei Ruhrpoport“ gegründet, wurden mehr als 37 Millionen Tonnen Spezialpoproheisen produziert. Hüsterchen. Mein Onkel Helmut, Gott habe ihn selig, arbeitete ein Jahrzehnt lang als Kranführer am Hochofen. Dort war es so heiß, dass der Großteil der drei Schachteln Camel, die er damals täglich rauchte, ohne Inhalieren verdampfte. Hm. Eine Camel-Packung hatte damals 35 Zigaretten, ohne BigPack zu heißen.
Anfang Juni fand das „Best Kept Secret“-Festival in Hilvarenbeek (NL) statt, ein seltsamer Festivalname, so offensiv kokettierend selbstverräterisch. Ich hoffe, die Traumzeit-Camper sehen es mir nach, Achtung: der Best-Kept-Secret Campingplatz Festivaldeutschlands befindet sich auf dem Sinterplatz im Landschaftspark Duisburg, drei Fußminuten von der Bühne „Cowperplatz“ entfernt. Unter Kiefern, Birken und Eschen fanden etwa 700 Besucher in Bullis und Zelten Platz, die WCs waren sauber, die Duschen warm, die Brötchen günstig, der Kaffee heiß. Pop! Äh, top!
Insgesamt spielten 37 Bands auf vier Bühnen. Neben dem „Cowperplatz“ (Open-Air, freitags noch mit Soundproblemen, danach okay) wurde noch die „Giesshalle“ (überdacht, Stadionkurvenflair), die „Gebläsehalle“ (Indoor, bestuhlt, einzigartig, Klangspektakel) und eine kleine Bühne am „Gasometer“ (Open-Air, satter Sound) bespielt. Allen Bühnen gemein ist ein atemberaubernder Blick in die nachts illuminierte Hüttenwerkkulisse oder die Kuriositäten der Indoor-Arrangements mit endlosen Röhren, urtümlicher Elektrotechnik, mannshohen Zahnrädern und James-Bond-Verfolgungsjagdgroßen-Lüftern. Die Gasometer-Bühne war die „Local Hero“ und „Talent Stage“ und auch ohne Eintrittskarte besuchbar, so wie auch die vielen ausgewählten Pop-Street-Food-Stände von poppigem Ziegenkäse über Soulcorn bis zu Po(p)mmes. Entschuldigung, das tut mir jetzt wirklich leid, das tut ja schon ein bisschen weh. No Pop-Scherze anymore.
Kommen wir zu den Bands.
AMOUR VACHÈ (Freitag, 19.30 Uhr Gasometer): Zwei Jungs und ein Mädel aus Düsseldorf, Essen und Duisburg. JON SPENCER BLUES EXPLOSION mit Lametta-Glitzerpop-Ausdruckstanzperpopformance. Da wurde auch Selbstgebasteltes in die Show integriert – lachen verboten, grinsen erlaubt. Grotesk viel Hall auf der Stimme, aber: Hier stellen Leute etwas auf die Beine, DIY à la Ruhrpoppott. Weiter so!
LILLY AMONG CLOUDS (Freitag, 20 Uhr Gebläsehalle): Gänsehautpop. Gänsehaut für die einen, weil es so unfassbar schöner Dreampop ist – für die anderen, weil die Langeweile und das Pathos kaum zu ertragen sind.
BROTHER GRIMM (Freitag, 21.45 Uhr Gebläsehalle): Der böse Wolf. Großer Kopf, langer Bart, Lederanzug. GRIMM arbeitet mit Effekten: sich selbst aufnehmen und im Loop wiedergeben, übereinanderlegen, mal einen Beat aufnehmen, dann eine Melodie mit der elektrischen Gitarre, Gesang dazu. Wie ein runter gepitchter HENRY ROLLINS oder BONNY PRINCE BILLY nach durchzechter Nacht. Keine Bühne kann groß genug sein für BROTHER GRIMMs One-man-Show. Großartig, ohne wenn und Faber!
FABER (Freitag, 22.30 Uhr Cowperplatz): Enttäuschend, weil neuerdings Popprofi. Das angekündigte Straßenmusik-Happening blieb aus. Hier ist einer in der Aufstiegsrunde zur Champions League angekommen und weiß das auch. Viel Bandgeschmuse und Tamtam, Dauergrinsen. Wer Paris Saint-Germain live sehen will… Bitteschön, FABER spielt mit.
SLOWDIVE (Freitag, 23.45 Uhr Giesshalle): Diese britische Band ist eine Marke. Brachiale Gitarrenwände wechseln mit verträumtem Pop. Sängerin Rachel GOSWELL wiegt sich im wallenden Kleid, sie könnte auch eine holländische Mutti der entspannten Gullit-Generation sein. Da mir einige Solo-Sachen von Neil Halstead wirklich gut gefallen und die Band auch schon seit den späten 80ern aktiv ist, stehe ich bewundernd in der Südkurve.
XAVIER DARCY (Samstag, 16 Uhr Giesshalle): Morgens bereits beobachtet: da konnte das Rockröhrchen Darcy beim Einchecken dem Ordner nicht die Hand reichen, da er blankgeputzte Schühchen in den Händen trug. Auf der Bühne dann das passende Outfit, Rampensau mit Stretchjeans in Kindergröße. Höhepunkt: Cover von MADONNAs „Girls just wanna have fun“. Wenn man so etwas mag: gut gemacht. Ja.
MATT GRESHAM (Samstag, 16.45 Uhr Gebläsehalle): Bis auf den allerletzten Platz gefüllte Gebläsehalle. Leider gibt es so viele Greshams auf dieser Welt, was wollen sie bloß sagen? Harte Schale, weicher Kern? Tolle Hallenakustik, unabhängig vom Platz in der Gebläsehalle.
BLUMFELD (Samstag, 19 Uhr Cowperplatz): Jochen Distelmeyer wechselt zwischen Leichtigkeit und frühe 90er Wut… zwischen Bryan Ferry und Kristof Schreuf (BRÜLLEN). Tobias Levin geistert wie gewohnt zwischen fein drapierten Jazzakkorden und Feedback über die Bühne. Highlight.
MOGWAI (Samstag, 21.45 Uhr Cowperplatz): Das zu erwartende Wall-Of-Sound Inferno. Lanz-Bulldog-Massage für die Magengrube. Eine bessere Kulisse kann man sich für MOGWAI kaum vorstellen. Wiederkommen!
MOGLI (Samstag, 23.05 Uhr Gebläsehalle): Etwas verkitscht, aber mit einer schönen Stimme gesegnet. Die Sängerin ist durch die Dokumentation „Expedition Happiness“ semi-berühmt. In der Gebläsehalle herrschte eine andächtige Stimmung.
Den Sonntag konnte ich dann leider nicht mehr mitnehmen. Somit auch nicht THE JESUS AND THE MARY CHAIN, ein herber persönlicher Verlust.
Stattdessen ging es Samstagnacht mit dem Taxi zum Duisburger Hauptbahnhof, 80km/h innerorts, halsbrecherische 140 Sachen auf dem kurzen Autobahnstück. Beim Blick aus dem Seitenfenster fällt mir Onkel Helmuts Kommentar zum Grün an den Autobahnen ein: dieses ist besonders üppig, da Pflanzen CO2 benötigen. Autobahnbau quasi praktizierter Umweltschutz. Sehr nachhaltig (in meinem Gedächtnis geblieben).
Und woher kommt nun das „Okidoki, folks“ aus dem Untertitel dieser Nachlese? Von DISTELMEYER natürlich. Und noch etwas gibt er uns mit:
„Ihr seid genau richtig so wie ihr seid. Lasst euch nichts einreden.“
Popstop.
Link: www.traumzeit-festival.de