Die Fahrt von Hamburg nach Mannheim ist immer wieder eine kleine Weltreise. Noch gut hundert Kilometer weiter, und man wäre schon im Elsass. Aber lohnt sich so ein weiter Ritt für drei Tage Festival? Lassen wir das Maifeld Derby 2023 also noch mal Revue passieren:
Der erste Act, von dem wir noch die letzten Stücke mitbekamen, war gleich ein ungewöhnlicher: SAY SHE SHE machten 70s Funk, Disco und Soul der guten alten Schule, irgendwo zwischen ARETHA FRANKLIN, THE B-52S, CHIC und „neueren“ Bands wie TLC (die aber ja auch schon vor zwanzig Jahren das Zeitliche gesegnet haben).
Wer keine Lust auf langweilige Singer/Songwriter hatte, war bei JACK BOTTS genau richtig. Denn der Surfertyp aus Australien zeigte zusammen mit einem zweiten Gitarristen, dass man minimalistische Musik mit einer kräftigen Stimme und dem nötigen Drive durchaus spannend gestalten kann. Mit seinem zum Dutt hochgesteckten Haar und der digitalen Bassdrum ähnelten die beiden Barfüßler optisch dem typischen Backpacker-Image der Moderne. Zum Ende ihres Sets konnten sie sogar eine Handvoll Tänzer/Innen in den kleinen Graben vor die Parcours d’Amour-Bühne locken.
Wie groß die Diskrepanz zwischen Tonträgern und der Live-Performance sein kann, stellte sich anschließend leider bei SEVDALIZA heraus. Was in den Videos durch eine mystische, dunkle Aura und eine Schnittmenge aus SOLANGE und AGNES OBEL unser Interesse wecken konnte, wirkte live wie eine der vielen Eurodance-Performances beim Eurovision Song Contest. Als die Iranerin ihre traditionellen musikalischen Wurzeln auch noch zugunsten eines Covers von 2UNLIMITED eintauschte, zog es uns schleunigst weiter zur Hauptbühne.
Dort wussten SURF CURSE das Rad zwar nicht neu zu erfinden, konnten aber mit oldschooligem Indierock und lustigen Frisuren die Menge sofort für sich gewinnen. Dass sie zwischen den Songs auch noch ähnlich unterhaltsam waren wie zum Beispiel WE ARE SCIENTISTS, sorgte für weitere Sympathiepunkte. Dazu ein bis zu vierstimmiger Gesang und eine gewisse Ähnlichkeit zu Bands wie THE CRIBS, MENEGUAR und THE WOMBATS – Indieherz, was willst Du mehr?
Noch alterwürdiger ging es anschließend im Parcours d’Amour zu. Mit antiken dreisaitigen Langhalslauten, sogenannten Shamisen, und einer Deko, die den kitschigsten Asia-Restaurants Konkurrenz machen könnte, wussten MITSUNE durch japanischer Neo-Folk-Fusion die Zuschauer mitzureißen. Gegründet in Berlin, mit Mitgliedern aus Japan, Griechenland, Australien und Deutschland, transportierten sie die traditionelle japanische Musik sehr rhythmisch in die Neuzeit. Was anfangs zunächst ein wenig befremdlich wirkte, sorgte ziemlich schnell für beste Stimmung auf den Sitzplätzen, was auch die Musikerinnen und Musiker auf der Bühne offensichtlich positiv überraschte.
Deshalb bekamen wir von unseren Proberaumbuddies aus der Roten Flora leider nur noch wenig mit, aber offenbar konnten ERREGUNG ÖFFENTLICHER ERREGUNG mit ihrer Mixtur aus NDW und Post-Punk das Publikum im Hüttenzelt problemlos zum Tanzen animieren. Auch von DEATH GRIPS blieb uns leider nur noch das Ende vorbehalten. In einer Rezension las ich einmal die tolle Umschreibung “ein Giftcocktail aus HipHop, psychedelischem Crackcore und ohrenbetäubendem Noise mit der Attitüde des Punkrock“. Ja, das kam hin, und dass die drei Herren aus Sacramento als Bühnenbeleuchtung ausschließlich orangene LEDs auswählten, die ihren Auftritt wie ein Video in Schablonentechnik wirken ließ, tat der euphorischen Stimmung im Publikum keinen Abbruch.
Auch wenn wir mit Bands wie BAT FOR LASHES und OVERMONO eigentlich noch einiges an Programm vor uns hatten, beschlossen wir während des Auftritts von KERALA DUST den Heimweg zum Hotel. Gut möglich, dass auch die Show der Briten dazu beitrug, denn die Mischung aus Indierock, Artpop und Americana stellte sich live mal wieder recht anders dar. Ein bisschen fühlten wir uns an den Indiepop von BALTHASAR erinnert, wurden aber leider gar nicht mitgerissen. So entschieden wir uns etwas müde für den frühzeitigen Rückzug – was bei einem dreitägigen Festival manchmal nicht von Nachteil ist.
Tag 2. Verglichen mit dem Vortag kletterten die Temperaturen nochmals um zwei Grad, so dass die 30°C-Grenze erreicht wurde. Puh! Doch die Bands ließen keinen Müßiggang zu. Wir starteten mit LIME GARDEN auf der Hauptbühne. Optisch und musikalisch ging es zurück in die Neunziger, als Bands wie HOLE, L7, BABES IN TOYLAND und SALAD die Speerspitze der Grunge-Bewegung bildeten. Wer weiß, ob LIME GARDEN den Trend nicht noch mal reaktivieren können. In Sachen Eingängigkeit kann man den Mädels aus Brighton jedenfalls keine Verbesserungsvorschläge machen.
Ganz, ganz neu auf der Bühne ist übrigens KATYA. Die junge Wienerin gab zu Beginn ihres Auftritts auch zu, dass dies ihr bislang größter Auftritt sei. Doch die anzumerkende Nervosität machte sie durch ihre verträumten Stücke und die mal zarte, mal kraftvolle Stimme sofort wieder wett. Einen Song widmete sie ihrer verstorbenen Oma. Am Ende reagierte das Publikum wohlwollend mit ordentlich Applaus.
Für WHYBE mussten wir die Location gar nicht wechseln und konnten im schattigen Parcour d’Amour verweilen. Der junge Niederländer, der in einem seiner Videos mit einem Ganzkörpertattoo in Gestalt eines Baumes zu sehen ist, fiel auch heute durch sein Optisches auf. Mit einer altrosafarbenen Rüschenbluse und geschminkten Augen versetzte er das Publikum mit gefühlvollen Songs in eine tiefe Melancholie. In den zarten Momenten („The moon“) erinnerte das an RADIOHEAD, in den lauten Passagen mit geschrienen Vocals auch mal an NIRVANA in ihrer rebellischen Phase.
Im Palastzelt folgte der Auftritt der Israelin NOGA EREZ, und man hatte von Beginn an das Gefühl, hier einen richtig großen Popstar zu sehen. Der allerdings bislang nahezu unbemerkt an uns vorbeigezogen ist, während die jüngere TikTok-Generation ihn natürlich schon längst auf dem Schirm hatte. Mit ihrer tiefen Stimme, dem Oversize-Look und der düster-elektronischen Ausrichtung kam einem fast automatisch BILLIE EILISH in den Sinn. „Falls es Euch zu heiß ist, zieht doch einfach Euer Shirt aus!“ Dieser Tipp galt sicherlich nicht nur den Jungs, denn ihre lasziven Raps und die abgedrehten Sounds hatten durchaus etwas Subversives. Ein Popstar, der etwas mehr zu bieten hat als der sonstige Mainstream! Und wenn man sich online durch diverse Videos der Künstlerin klickt, stellt man erstaunt fest, dass NOGA EREZ in anderen musikalischen Sparten genauso firm unterwegs ist. Beeindruckend!
Bei ROLF BLUMIG machten wir nur einen kurzen Abstecher und sahen ziemlich gute Musiker/Innen, die fast ein bisschen ins Muckermäßige abdrifteten. Das Ganze erinnerte an eine akademische Schulung in der Popakademie, die gleichzeitig aber auf eine Menge Wahnsinn traf. Den Namen sollten sich deshalb auch Fans von PANDA LUX, THE HIRSCH EFFEKT und DIE NERVEN merken!
Für noch ein bisschen mehr Wahnsinn zog es uns natürlich zu den VIAGRA BOYS aus Schweden, von denen ich bislang nur Gutes gehört, sie aber noch nie live gesehen hatte. Und sie alle hatten Recht: Was! für!! eine!!! Show!!!!
Der Sänger mit freiem kompletttätowiertem Oberkörper und einem stattlichen Bierbauch, den Bassisten könnte man sich auch als Türsteher auf der Reeperbahn vorstellen. Dazu ein Gitarrist/Saxophonist in Hotpants mit Radrennfahrer-Sonnenbrille und ein Keyboarder mit Cowboyhut, der beim Howie Munson-Lookalike-Contest sicherlich den ersten Platz belegt hätte. Als wir ankamen forderte Sänger Sebastian Murphy das Publikum auf: „Wir sind eine arme Band aus der Schweiz – schmeißt einfach alle Eure Drogen auf die Bühne!“ Als eine Minute später ein Behältnis angeflogen kam und von ihm inspiziert worden war, brüllte er zurück: „That was empty, you fucker!“ Es folgte eine fast einstündige Punkrock-Show allererster Güte, inklusive mächtigem Circle Pit und guter Stimmung, wohin man auch schaute. Was sollte danach bitte noch kommen?
Am besten einen kompletten Themenwechsel, also schauten wir bei LOYLE CARNER ins Palastzelt rein. Gechillter HipHop, der zwar aus London kommt, genauso gut aber auch von der alten East Coast stammen könnte und parallel dazu gerne auch die Grenze zum Jazz und zum Soul als obsolet erklärt. Auf LOYLE CARNER können sich fast alle einigen, auch deshalb ein Gast, den man auf dem Maifeld Derby immer gerne wiedersieht.
Gleiches gilt natürlich auch für WARPAINT aus Los Angeles, die nach 2014 bereits zum zweiten Mal in Mannheim dabei waren, und die mit ihrer einnehmenden, warmen Art und der entsprechenden Musik, die sich irgendwo zwischen Indie, Dreampop und Shoegaze bewegt, einfach immer für ein gutes Gefühl sorgen. Dazu trägt sicherlich auch der mehrstimmige Gesang ein, der fast immer perfekt sitzt und das Publikum zum Träumen einlädt. Ein FUGAZI-Cover gab es auch noch und „einen Song für meinen Liebsten. Wir haben heute unser zehnjähriges Jubiläum“, wie Sängerin Emily Kokal die Menge wissen ließ. Sweet!
Nicht minder melodisch ging es bei unserem letzten Act des zweiten Abends weiter: PHOENIX aus Versailles! Was verbindet man nicht alles mit dieser tollen Band? Neben einer stets vollen Tanzfläche im Molotow erinnere ich mich zum Beispiel an einen sehr entspannten Junggesellenabschied im Schanzenpark. Das Wetter war frühlingshaft, wir saßen mit ein paar Jungs auf einer Decke, tranken Bier und hörten im Hintergrund PHOENIX. Warum können Junggesellenabschiede nicht immer so relaxt ablaufen? Es war herrlich.
Auch das heutige Konzert war großartig. Wer „Lisztomania“ bereits als Opener spielt, muss einige Hits in petto haben. Und so war es auch. Es kam mir so vor, als ob PHOENIX an diesem Abend nur Hit-Singles spielten. Dazu die Stimme von Thomas Mars, die noch immer so juvenil klingt wie vor rund 20 Jahren. PHOENIX und Maifeld – dass passt einfach wie Kirsche auf Torte!
Tag 3. Vor zehn Jahren noch unvorstellbar, aber wir hatten auf dem Maifeld Derby 2023 tatsächlich mehr Wasser als Alkohol getrunken. Aber das Festival hinterließ trotzdem so langsam seine Spuren. Allerdings lag die Erschöpfung größtenteils am Wettergott, der im Vergleich zu gestern glatt noch mal einen drauflegte. Für Temperaturen oberhalb von 30°C bin ich einfach nicht gemacht. So wurden die Bands am frühen Nachmittag leider verpasst, und wir starteten mit SORRY. Sorry!
Dass die Briten trotz der Hitze eine ordentliche Indie-/Schrammelrock-Show hinlegten und Sängerin Asha Lorenz keineswegs auf ihr Markenzeichen, eine schwarze Pelzmütze, verzichtete, beeindruckt mich noch heute.
Auch beim PETER MUFFIN TRIO im Hüttenzelt war einiges los, obwohl mal selbst als Zuschauer ohne jegliche Aktivität in Sekundenschnelle komplett durchnässt war. Was auch damit zusammenhing, dass die Seitenwände in diesem Jahr nicht geöffnet wurden. Keiner weiß, warum. Hinter dem PETER MUFFIN TRIO verbergen sich Julian Knoth (der Bassist von DIE NERVEN; hier aber an der Gitarre), sein Bruder Philipp an den Drums und Bassistin Caroline d’Orville. „Schön, dass ihr alle gekommen seid. Hier ist ja mehr los als letztes Jahr bei den Nerven“, scherzte Julian. Eine bestimmte Ähnlichkeit zu seiner Hauptband war vernehmbar, insgesamt ging es aber einen Tick garagenrockiger zu.
Vom kleinen Zelt wechselten wir ins große und kriegten dort noch die letzten Songs von BAXTER DURY mit, dem Sohn des großen IAN DURY. Tatsächlich gibt es hier gewisse Parallelen zu seinem Vater, auch bei Baxter erkennt man neben etwas Wahnsinn eine gewisse Funkiness und Discotauglichkeit, irgendwo zwischen BECK, THE STREETS und TOM BARMAN. Im letzten Song kam sogar noch etwas French House à la DAFT PUNK hinzu.
Apropos Punk: ein bisschen wie Sid Vicious sah der kanadische Künster EKKSTACY aus, der mit seinen rosafarbenen kurzen Haaren, dunkler Hautfarbe, recht vielen Tattoos und offensichtlichen Messerstichnarben auf seinem Sixpack-Bauch ein wahrer Hingucker war. Aber auch seine weiteren drei Mitmusiker/Innen konnten Blicke auf sich ziehen, wirbelten der Gitarrist und der Bassist doch in bester Rockmanier ständig über die Bühne, während die Schlagzeugerin im Bikinioberteil auftrat. Die Musik ist irgendwo zwischen THE CRIBS und den SMASHING PUMPKINS einzuordnen, was einen schönen Kontrast zur warmen Stimme des Sängers abgab. Live eine ganze Ecke rockiger als auf Platte, die sich mehr im düsteren Bereich abspielt.
Eine gewisse Düsternis kann man auch JUNGSTÖTTER nicht absprechen, der in der Geschichte des Maifeld Derby bereits mehrfach mit seiner Band SIZARR in Mannheim aufgetreten ist. Die Stimme von Fabian Altstötter klingt nach wie vor markant tief und leicht heiser, etwa so, als ob man TOM WAITS mit NICK CAVE kreuzen würde. Die Musik von JUNGSTÖTTER wirkt verglichen mit SIZARR merklich gereift, ähnlich wie ein guter, lange gelagerter Rotwein, bei dem die Sekundär- und Tertiäraromen langsam die Oberhand gewinnen. Sehr emotional und gefühlsbetont, eigentlich eher für die späten Stunden gedacht.
Da wir im Parcour d’Amour noch ein Weilchen länger verweilten, hatten wir den Anfang von M83 leider verpasst, wurden aber im Palastzelt mit dem Stück „Noise“ überrascht, das ein Postrock-Inferno entfachte, das MOGWAI nicht besser hinbekommen hätten. Hatten wir die Band bisher also ganz falsch verstanden? Durch Singles wie „Midnight city“ hatten wir die Franzosen bislang mehr in der Elektro-Synth-Dreampop-Ecke verortet, aber nach dem Set würden wir die Stilistik mindestens noch um die Sparten Postrock und Psychedelic erweitern. Einer der überraschendsten Auftritte des diesjährigen Maifeld Derbys, subjektiv betrachtet auch einer der besten.
TAMINO kannten wir bereits vom Reeperbahn-Festival 2018, wo er am Ende den Nachwuchs-Anchor Award abräumte. Damals war er noch klar in der traditionellen Musik seiner Eltern verwurzelt (sein Vater stammt aus Ägypten, seine Mutter aus dem Libanon), inzwischen hat er sich aber auch gegenüber der westlichen Musik geöffnet. Das macht seine Musik etwas zugänglicher, vielleicht auch etwas poppiger. In Kombination mit seiner warmen Stimme läuft TAMINO am Ende aber auch immer Gefahr, die Gratwanderung zwischen gefühlvoll und schmalzig zu verlieren.
Den würdevollen Abschluss des diesjährigen Maifeld Derbys machten INTERPOL aus New York, die inzwischen auch schon seit 26 Jahren aktiv sind. Bei ihrem Konzert kamen vor allem die Fans auf ihre Kosten, die die Band schon lange begleiten. Der Fokus lag eindeutig auf den älteren Platten – etwa zwei Drittel der Setlist stammten von den ersten beiden Alben „Turn on the bright lights“ und „Antics“, die INTERPOL Anfang der Zweitausender den großen Durchbruch bescherten. Die Bühnenshow war wie gewohnt minimalistisch, aber daran störte sich hier keiner, wenn die Gedanken der Fans eh in der Vergangenheit schwelgten.
So lautet unser abschließendes Fazit erneut: die Fahrt nach Mannheim hat sich definitiv wieder gelohnt! Denn die Mischung aus relevanten (aber nicht totgehörten) Bands, Newcomern und Geheimtipps ist jedes Mal wieder großartig. Hat man bei stilistisch ähnlich ausgerichteten Festivals manchmal den Eindruck, dass eher die Booker bestimmte Bands pushen wollen, fühlt sich das Programm beim Maifeld Derby stets geschmackvoll kuratiert an. So darf es gerne weitergehen! Wir sehen uns wieder 2024!