Für einen rational denkenden Menschen mit einem zumindest ansatzweise ökologischen Gewissen gibt es viele Gründe, dem Energiekonzern Vattenfall ablehnend gegenüber zu stehen: Sei es aufgrund der massiven, profitorientierten Einwirkung des Konzerns auf die Bundesregierung bei der Laufzeitverlängerung deutscher Atomkraftwerke, dem krampfhaften Festhalten am unverantwortlichen Weiterbetrieb deutscher Schrott-Reaktoren wie Krümmel und Brunsbüttel (inklusive zahlreicher kleiner und mittelschwerer Störfälle) oder auch wegen des Baus des vom Unternehmen zu Unrecht als „umweltfreundlich“ angepriesenen Klima-Killer-Kohlekraftwerks in Hamburg-Moorburg. Wenn sich ein solcher Konzern dann auch noch in der Öffentlichkeit als großer Wohltäter präsentiert und zum wiederholten Male die „Vattenfall Lesetage“ ausruft, dann dürfte bei genauerem Hinterfragen selbst gutgläubigen Menschen langsam dämmern, dass es sich hier in erster Linie um einen Versuch der Image-Makulatur und nicht um einen ernstgemeinten Beitrag zur Kulturförderung handelt.
Quasi als Gegenreaktion zu dieser vattenfallschen Nebelkerze haben engagierte Menschen im vergangenen Jahr erstmalig die Veranstaltungsreihe „Lesen ohne Atomstrom“ ins Leben gerufen, die auch 2012 ihre Fortsetzung fand und in einem Konzert mit MADSEN, JAN DELAY, KETTCAR und anderen Künstlern ihren Höhepunkt finden sollte. Bereits seit Wochen war die Fabrik in Hamburg-Altona ausverkauft, was angesichts der Tatsache, dass wahrscheinlich jeder der angekündigten Acts schon im Alleingang die Halle gefüllt hätte, nicht weiter überraschte. So sangen die Hamburger Dancehall-Lokalmatadore I-FIRE gleich in ihrem ersten Stück „Wo sind all die Rudeboys hin?“ und stellten sogleich fest, dass diese zu einem nicht unerheblichen Teil im Publikum vertreten waren. Im besten SEEED-Style toastete sich die multikulturelle Band durch ihren Auftritt und legte zudem eine ebenso stimmungsvolle wie auch energiegeladene Bühnenshow aufs Parkett.
Die OHRBOOTEN waren anschließend ebenfalls im Zeichen des deutschsprachigen Offbeats unterwegs und hatten zum Glück nicht nur ihre Womanizer-Hymne „An alle Ladys“, sondern auch eine ganze Reihe (sozial-)kritischer Töne und nicht zuletzt den einen oder anderen Vattenfall-Seitenhieb im Gepäck. Apropos: Die Umbaupausen zwischen den Bands wurden für Video- und Redebeiträge genutzt, die sich mit dem Thema Vattenfall und vor allem dem Widerstand gegen die Atomtransporte im Wendland befassten.
Als nächstes waren KETTCAR an der Reihe. An diesem Abend hatte Sänger Marcus Wiebusch anstelle der zuletzt so häufig verwendeten Akustik-Klampfe fast ausschließlich seine alte Gibson SG um den Hals hängen, und der fachkundige Fan schlussfolgert hieraus zu recht, dass in dem leider relativ kurzen Set der Hamburger Indie-Formation vor allem die etwas älteren, rockigeren Songs im Vordergrund standen: Während vom neuen Album lediglich zwei Stücke zum Einsatz kamen, wurden überwiegend altbewährte Selbstläufer wie „Deiche“, „Graceland“, „Kein Außen mehr“ oder „Balkon gegenüber“ dargeboten und aus vielen Kehlen lauthals mitgesungen, ehe sich die Band mit „Landungsbrücken raus“ wieder von der Bühne verabschiedete.
Eigentlich sollten MADSEN die Headliner-Position der Veranstaltung übernehmen, doch leider mussten diese ihren Auftritt wenige Tage zuvor krankheitsbedingt absagen. Stattdessen musste umdisponiert werden: JAN PLEWKA und seine Band boten JAN DELAY (der wiederum eigentlich als Special Guest zusammen mit MADSEN auf der Bühne stehen sollte) kurzfristig an, unter dem Arbeitstitel JAN & JAN ein gemeinsames Programm zu improvisieren. So kam das Publikum an diesem Abend nicht nur in den Genuss der üblicherweise vom SELIG-Sänger intonierten RIO REISER bzw. TON STEINE SCHERBEN-Coversongs wie „Wir müssen hier raus“, „Alles Lüge“, „Keine Macht für Niemand“ oder „Junimond“, sondern wurde auch Zeuge einer außergewöhnlichen Kooperation, in der unter anderem auch das DAS BO-Cover „Türlich, türlich“ den Weg ins Programm fand und der JAN DELAY-Song „Vergiftet“ unter Zuhilfenahme von aus dem Publikum zugerufenen und auf Flipchart festgehaltenen Vornamen und AKW-Standorten zurechtimprovisiert wurde.
Trotz der bedauerlichen Absage von MADSEN war das Konzert ebenso wie die dazugehörige Lesereihe ein voller Erfolg und findet hoffentlich auch in den nächsten Jahren eine breite, Spektren-übergreifende Zustimmung – zumindest so lange bis die von JAN PLEWKA und JAN DELAY gemeinsam gesungene Prophezeiung wahr wird: „Es ist vorbei – Bye, bye Vattenfall!“