Hui. Als Jens mir diesen monströsen Wälzer in die Hand drückte (über 600 Seiten stark), dachte ich nur: „Was hast du dir da wieder vorgenommen, nur, weil du das Thema des Buches feierst?“
Vielleicht ein paar Worte vorweg: Als ich damals, zu Beginn der 1990er Jahre endgültig in die Gothic-Szene rund um Köln-Bonn eintauchte, ging es mir so, wie es JOHN ROBB gleich im ersten Kapitel schildert. Das Rüschenhemd über die Jeans, die Winkelpicker an die Füße (ihr fragt euch nicht wirklich, ob diese Kleidungsstücke wohl schwarz waren, oder?) und noch ein wenig das Gesicht bleichen, die langen Haare zum Zopf binden, zum Schluss noch den Mantel drüber und auf ins Carpe in der Bonner Innenstadt, um sich mit den anderen verlorenen Seelen im Rhythmus unserer Idole bedächtig über die Tanzfläche zu schieben – vor, zurück, vor, zurück und dabei möglichst entrückt gucken. Und das fühlte sich so verdammt gut an.
Der britische Musikjournalist (und nicht zuletzt Musiker) JOHN ROBB hat sich nun dieser Musikrichtung, dieser Lebenseinstellung und dieser Szene angenommen und ihr dieses Prachtwerk geschenkt. Wobei der Begriff eigentlich und ehrlich gesagt mehr auf die deutsche Übersetzung (besten Dank und Glückwunsch an Joachim Hiller!) zutrifft, denn diese hat das Buch gegenüber der Originalausgabe noch einmal aufgeräumt – auch mit manchem Schreibfehler.
Wer die Geschichte des Genrebegriffs „Goth“ noch nicht kennt, dem seien die ersten satten 12 Kapitel ans Herz gelegt, denn diese widmen sich in erster Linie eben dieser Herkunft und den Begründer:innen der musikalischen Variante. Das, was wir damals alle schon dachten, aber gar nicht großartig überprüfen wollten, wird nun unter anderem bestätigt: THE DOORS sind ein Teil des mächtigen Dreigestirns des Ur-Goth, zu dem noch THE VELVET UNDERGROUND und THE STOOGES gehören. Erst danach beginnt die Beschreibung der „eigentlichen Goth-Bands“ wie SIOUXIE AND THE BANSHEES. Natürlich nehmen auch JOY DIVISION und THE CURE größere Kapitel ein und selbst ich als wirklich eingefleischter Fan beider Bands konnte hier noch einige Dinge erfahren, die mir vorher unbekannt waren. Auch den EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN wird ein eigener Teil gewidmet, ebenso wie den US-amerikanischen Auswüchsen des Goth. In allen Kapiteln beweist JOHN ROBB (und eben auch Hiller) seine Fähigkeit, die Leser:innen schnell zu fesseln und zu unterhalten – denn „Goth“ ist definitiv keine Aneinanderreihung von Lexikonartikeln, sondern vielmehr ein durchaus persönlicher Blick auf eine Musikrichtung, die viel zu wenig Aufmerksamkeit erhält. Okay, das ist sicherlich nur meine Meinung als Fan. Aber gut.
Das Buch ist durchsetzt mit vergnüglichen Anekdoten, tiefen Einblicken in verschiedenste Ecken (vor allem Großbritanniens) und Beschreibungen einer Zeit, die nun schon bis zu fast fünfzig Jahren zurückreicht. Selbsternannte Fachleute beanstanden zwar den einen oder anderen Bestandteil und diskutieren sich in den sozialen Medien die Finger wund, aber „Goth“ ist ein wundervoller Einblick in „die dunkle Seite des Punk“. Auch wenn ROBB zu den neueren (mittlerweile auch schon 20 Jahre alten) Auswüchsen eher schweigt und recht klar macht, dass aus seiner Sicht nur der Goth der 80er das wahre Ding ist. Darüber lässt sich selbstverständlich streiten.
Wenn du dich selbst der Gothic-Musik zugeneigt fühlst, aber auch, wenn du dich einfach nur mal grundlegend und intensiv informieren möchtest: Greife hier auf jeden Fall zu! Gelingt es dir, dieses schwere Buch bis nach Hause zu transportieren, wirst du es kaum noch aus der Hand legen wollen. Ich habe alleine schon Spaß daran, die Kapiteltitel zu erörtern.
