Ja, man kann schon sagen, dass sich das Immergut-Festival in Neustrelitz mittlerweile zu einer festen Institution gemausert hat. Auch wenn viele Besucher die Bands in diesem Jahr vergleichsweise schwach fanden und das Wetter nicht so mitspielte wie in den meisten Jahren zuvor, werden diejenigen, die jedes Jahr kommen, ganz sicher auch wieder im nächsten Jahr dabei sein. Ähnlich geht es mir.
Denn das Immergut ist einfach charmant. Zwar würde auch ich mir desöfteren lieber so manche laute Band dazuwünschen, aber andererseits sorgt der größtenteils recht sanfte bis folkige Indiepoprock für ein entspanntes Publikum und eine angenehme Atmosphäre. Besoffene, herumgröhlende Asis sieht man kaum, randaliert wird auf dem Immergut glücklicherweise auch nicht und selbst die Deutschland-Fahnen sind, bis auf drei Exemplare, nach der WM-Euphorie und MIA-Anwesenheit im letzten Jahr netterweise wieder verschwunden. Allerdings soll auf dem Camping-Platz erstmals vermehrt geklaut worden sein. Ärgerlich, vor allem, wenn dies keine Festival-Gänger sind, die ebenfalls Zutritt zum Camping-Gelände haben.
Doch beginnen wir ganz vorne. Irgendwie schien beim Immergut-Booking in diesem Jahr der Wurm drin. Zwar wurden die letzten Bands auch in den vergangenen Jahren immer recht spät bestätigt, aber diesmal erfuhr man erst auf dem Gelände von den letzten Bestätigungen und Änderungen. Aha, JEANS TEAM fallen aus und werden durch MUFF POTTER ersetzt? Cool! So zumindest der erste Gedanke. Und SEIDENMATT durften eine der Headliner-Positionen einnehmen. Ungewöhnlich zwar, aber im Nachhinein gar keine falsche Entscheidung. Aber zu beiden Bands später mehr.
Leider haben uns inzwischen feste berufliche Einstellungen in ihren Fesseln, so dass wir vergleichsweise spät in Hamburg starteten. Allerdings waren die Autobahnen und Landstraßen frei, und die jährlich zum Immergut aufgestellten Blitzer blieben von uns nicht unbemerkt. So kamen wir flott durch, ohne draufzahlen zu müssen. Erste Hürde genommen! Dafür war der Caravan/Zelt-Platz schon bis zum letzten Quadratmeter gefüllt, so dass wir Zelt und Van trennen mussten und in zwei Gruppen zelteten. Frieder bei den Mädels, Christian, Gesa und ich bei FARADAY.
Während wir unsere Interims-Behausungen aufbauten, entgingen uns leider die ersten Bands. A HAWK AND A HACKSAW schienen mit ihrer postsowjetischen Folklore zwar kein großer Verlust, aber POLARKREIS 18 hätten wir uns alle schon gern angesehen. TELE verpassten wir mit Absicht, über das Konzert von FRISKA VILJOR hörten wir im Nachhinein allerdings nur Gutes. Die sollen im Zelt für eine unglaubliche Stimmung gesorgt haben und räumen derzeit auch mit enormem Vorsprung die alljährliche Online-Umfrage nach der besten Immergut-Band des Jahres ab – noch vor den SHOUT OUT LOUDS und TOCOTRONIC! Auch die Band selber sprach von ihrem besten Konzert überhaupt. Mist, die haben wir wohl wirklich verpasst!
SUPERPUNK verfolgten wir nur nebenbei – die Jungs klingen aber auch immer schief und waren ein wahrlich enttäuschender Ersatz für die kurzfristig verhinderten EXPLOSIONS IN THE SKY. Danach dann zu FINN ins Zelt. Da wurde es richtig sentimental und intim. Eine Freundin von mir steht total auf den, und ja, die Musik war schon sehr einnehmend. Allerdings tippe ich darauf, dass die Bandmitglieder vor dem Auftritt untereinander gewettet hatten, wer die schrecklichsten Klamotten anzieht. Ein klares Unentschieden zwischen der Dirndl-Dame am Keyboard, dem Bassisten im Skelett-Kostüm, Finn selbst in Umstandsmode, und Flo Fernandez am Bass sieht in seinem nerdigen Outfit eh wie ein kanadischer Trucker aus. Aber das alles ändert nichts an der Schönheit der Musik, die sich irgendwo zwischen Emo-Pop, Indie und Elektronik bewegt und nicht zufällig bei dem feinen Sunday Service Records unter Vertrag ist.
Von ARCHITECTURE IN HELSINKI war ich im Anschluss daran positiv überrascht. Fälschlicherweise hatte ich die Band bisher immer in diese BROKEN SOCIAL SCENE-Ecke gerückt, wo ein Kollektiv an wahnsinnigen Musikern für folkige Eintracht sorgt. Tatsächlich hatten die Australier aber mehr mit BONEY M und BECK gemeinsam als mit Indie-/Anti-Folk. Dabei klang ein jeder Song anders als der vorherige. Das Immergut-Begleitheft umschreibt es ganz passend als „musikalisches Spielwarenlager“. In dem man vorzüglich tanzen kann. Vielleicht hatte Karina ja doch nicht ganz Unrecht, als sie ihr letztes Album „In case we die“ in den Himmel lobte.
Absolut enttäuscht zeigten sich danach viele von MUFF POTTER. Wobei wir uns doch eigentlich drauf gefreut hatten. Mit den neuen Songs von „Steady Fremdkörper“ driftet die Band aber verdächtig in Richtung unsympathischer Stadion-Rock ab. Das hat mit den ersten Sachen kaum noch etwas zu tun, und spätestens jetzt ist der ewige TURBOSTAAT/ MUFF POTTER-Vergleich vollkommen fehl am Platze – auch wenn er eigentlich noch nie so richtig zutraf. Meine persönliche Enttäuschung des Festivals. Schade!
Die vorzüglichen, selbstgemachten Hamburger konnten meine Stimmung jedoch wieder aufhellen, ebenso die vorzüglichen SEIDENMATT auf der Hauptbühne. Vom Bekanntheitsgrad waren sie als Headliner auf der großen Bühne sicherlich nicht so gut aufgehoben, was die Qualität und die Opulenz ihrer Songs angeht, sind sie dieser Position jedoch mehr als würdig. Gerade in Kombination mit der Lightshow wirkt das Musikalische so noch imposanter. Fantastisch!
Den Abschluss an Live-Musik machten im Zelt dann NAKED LUNCH vs. MONTA. Erstere haben sich inzwischen leider von ihren lärmigen Anfangstagen entfernt und blicken inzwischen immer mehr in Richtung Radioformat. Nicht schlecht zwar, aber irgendwie auch belanglos. Gefällig wird es zwar auch, wenn MONTA, alias Tobias Kuhn, alias Sänger von MILES dazu singt, allerdings hat der Mann eine sehr markante, schöne Stimme, und da erliege selbst ich manchmal dem inneren Pop-Schweinehund.
Richtig Party gab es erst danach. EROBIQUE, DJ aus dem Hause INTERNATIONAL PONY, sorgte im Anschluss an die Bands für eine fantastische Stimmung unter den Tanzwütigen und war auch selbst in bester Party-Manier. Da dürften vor seinem Set sicherlich schon so einige Bierchen die Kehle hinuntergeflossen sein. Ob man MOONBOOTICA und diverse andere Hamburger Kollegen kenne, wollte er wissen. „Klar“, so die Antwort. Und los ging es. Nicht mit Indie-/Alternative-Hits aus der Konserve, sondern mit den diversesten Stilen zwischen Funk, Soul, House und Disco – da wurde das Party-Zelt zum guten Club gemacht. Fein, fein, fein! Und Spaß hatte nicht nur die Masse, auch EROBIQUE selbst wollte nicht mehr von der Bühne, als die Auflagen der Stadt Neustrelitz in Form eines Securitys dem ganzen Treiben ein Ende setzen wollten. Stecker wieder rein, Monitor-Box in Richtung Dancefloor gedreht und weiter! Wahrscheinlich nahm er damit auch die Vertragsstrafe in Kauf. Geil!
Kein Sonnenschein, stattdessen Wolken und mittelmäßige Temperaturen sollten den zweiten Tag bestimmen. Aber das hat auch seine Vorteile: man kann zum Beispiel länger schlafen als sonst, weil die Temperatur im Zelt nicht schon morgens um neun den Siedepunkt erreicht. Ja, lieber Nachbarn, ich gebe es zu: ich war das schnarchende rote Zelt. Tut mir leid, aber ich musste auch ein wenig schmunzeln, als ich Euch schimpfen hörte.
Hm, aber wie den Nachmittag verbringen, wenn der See heute nicht so laut ruft? Ich war in Neustrelitz selbst, habe einen günstigen Imbiss ausgemacht und einen Tierpark mit Zwergziegen, Waschbären und Haustieren. Auch was Feines.
Die mir bis dato unbekannten LICHTER sorgten als erste Zeltband für ein paar dissonante Klänge mit melodischen Gesangsmelodien und wohligen Arrangements. Eigentlich sehr schön, aber irgendwie konnte ich mich mit den deutschsprachigen Texten nicht so sehr anfreunden. Die verschoben die Sinnbus-Ähnlichkeit nämlich leider ein wenig in Richtung MADSEN und Co.
Als nächstes standen bei uns dann erst wieder MALAJUBE aus Kanada auf dem Plan Die sollte man sich tatsächlich besser nicht entgehen lassen! Dass die Band jedoch für eine solche Furore sorgen sollte, hätten die Jungs aus Quebec wohl selbst nicht gedacht. Auch der französischsprachige Gesang schien beim Publikum keineswegs auf Ablehnung zu stoßen. Vielmehr hatte man den Eindruck, als ob die Menge so sehnsüchtig auf laute Musik wartete wie die Pflanzen in einer Wüste nach Wasser lechzen. So durften MALAJUBE auch das machen, was (fast) allen anderen Bands des Immergut wegen des strikten Zeitplans vergönnt war: eine Zugabe geben. Hätten die Kanadier vorher geahnt, wie gut sie ankommen, hätten sie hundert Platten mehr eingepackt und den Verkauf ihres Lebens gemacht. So mussten leider die meisten Leute das Labelzelt wieder enttäuscht verlassen, die im Anschluss an das Konzert eine Platte ergattern wollten.
Aber nicht schlimm, draußen durften alsbald TIED & TICKLED TRIO die Bühne entern und weiter für Tanzstimmung sorgen. Ich hatte die Band um die zwei NOTWIST-Brüder vor fünf, sechs Jahren in Groningen gesehen, damals allerdings feststellen müssen, dass sie mir zu freejazzig waren. Aber mittlerweile sind ein paar Jährchen ins Land gezogen, die Band hat die Türen in Richtung Zugänglichkeit geöffnet, und siehe da: sie gefallen! Und wie! Verloren sie sich zu Beginn des Sets noch ein wenig im Dub, wurde die Musik im Laufe des Gigs immer hypnotischer und fesselnder. Zwar sind sie für die breite Masse wohl doch zu speziell, aber die Anwesenden schienen begeistert. Mein persönliches Highlight des Festivals!
Es tat mir ja fast leid, aber zu dritt schafften wir es am Ende doch noch, Frieder davon zu überzeugen, dass KRISTOFER ASTRÖM ohne seine FIRESIDE ziemlich langweilige Country-Musik macht. Eigentlich ist Frieder ja Fan, am Ende gab er gnatschig zu, dass er ihn so gut nun auch nicht fände. Armer Frieder.
Als VIRGINIA JETZT!-Fan durfte sich danach natürlich keiner mehr outen – wir schauten kurz rein, drehten im selben Moment aber auch wieder um.
Dass ich SHOUT OUT LOUDS nicht besser kenne, war im Nachhinein fast ein bisschen schade. Ansonsten wären die doch recht eingängigen Songs wahrscheinlich noch besser angekommen. Immergut-typischer Indie-Folk-Pop, der bei mir zu Hause zwar nur selten läuft, in diesem Moment aber für eine ganz angenehme Stimmung sorgte. Der Sänger erinnerte mich mitunter ein wenig an Robert Smith, ansonsten schienen mir die Schweden aber doch ein wenig fröhlicher als THE CURE.
SOPHIA zählen ja eigentlich zu meinen Lieblingsbands, solo entwickelt sich Robin Proper Sheppard aber immer mehr zum selbstverliebten, pathetischen Unsympathen. Ich fand es unerträglich, da halfen auch die Backing-Streicher nicht weiter.
Den krönenden Abschluss bildeten dann die großen TOCOTRONIC. Inzwischen beim Major gelandet, aber nicht aus Geldgier, sondern weil Lado schlicht und einfach Pleite ging. An TOCOTRONIC lag’s wohl nicht – die hielten ihnen bis zuletzt die Treue. Im Laufe der Jahre haben sich die drei, mittlerweile vier Hamburger von einer revoltierenden, ungestümen Jugendbande zu einer zwar nachdenklichen und durchaus kritischen, aber musikalisch abgeklärten Band gemausert. Zwar vermisst man da heute ein wenig die treibende Energie von früher, aber dafür spielen sie musikalisch auf einem höheren Niveau. Woran sicherlich auch Rick Mc Phail nicht ganz unbeteiligt ist. Inmitten von fünftausend Fans kein unbeeindruckender Moment.
Das war’s in diesem Jahr vom Immergut – und eine positive Sache hatte das mittelmäßige Wetter auch: weniger Mücken. Bis nächstes Jahr, Neustrelitz ist Immergut!