Es ist schon ein seltsames Gefühl, wenn man das neue Album einer Band rezensieren soll, deren Anfänge man noch in der eigenen Sturm- und Drangzeit miterlebt hat. Als im Sog der Punkexplosion jenseits des Kanals auch in Deutschland plötzlich Bands wie die Pilze aus dem Boden schossen, die raue, wilde, oft auch experimentelle Musik machten und zudem in Deutsch texteten. Das war damals neu. Das war aufregend. Eine dieser Bands war MITTAGSPAUSE. Nach drei knackigen Singles („Militürk“, später als „Kebabträume“ auch auf dem Debüt der DEUTSCH-AMERIKANISCHEN FREUNDSCHAFT, „Herrenreiter“ und „Abenteuer & Freiheit“) mit einem gewissen Peter Hein am Mikro, lösten diese sich auf. Teile der Band gingen dann in FEHLFARBEN, der ersten „Supergruppe“ der originären, noch nicht verpoppten und veralberten NDW, auf. Deren Debütalbum „Monarchie und Alltag“ aus dem Jahre 1980 ist ein Meilenstein deutschsprachiger Musik und besitzt zurecht auch heute noch Kult- und Heiligenstatus. Darf man als Band mit so einer Geschichte 2015 noch Alben veröffentlichen? Ja, aber nur, wenn man sich im Hier & Jetzt positioniert und keine nostalgische Kuriositätenshow abliefert.
FEHLFARBEN machen das perfekt! Wäre „Über…Menschen“ ein Debüt, die Wellen würden hochschlagen. Junge Wilde, wie z.B. TRÜMMER, wirken dagegen regelrecht blutleer und zahm. Peter Hein klingt wie früher, d.h. Ironie, Sarkasmus, Zynismus, Wut, immer gepaart mit einem ganz eigenen, sehr sympathischen Humor, ist so frisch, dass man nur den Hut ziehen kann. Es ist immer wieder ein Genuss, den Texten zu lauschen. Hein teilt dabei nicht nur aus, sondern hat auch den Mut zur selbstkritische Betrachtung: „Hör mal, ich brech doch keinen Streit vom Zaun mit Generationen, die sich eh nichts traun. Ich alter Sack hab doch nicht in der Hand, von wem ich genervt werd. Das ist der Dinge Stand “ / “ Ohne jedes Talent einen Welthit gestemmt. Als Rollator-Rebell im Kurhotel, als Nordic Walking Queen am Zapfhahn ziehn, als Rock’n’Roll-Buchhalter spiel mal Senator, als Punkspießer, bezahlter Rotweingenießer ohne Werbebudget in die Villa am See“ („Der Dinge Stand“).
Musikalisch haben sich FEHLFARBEN von ihrer post-punkigen Frühgeschichte gelöst, ohne sie zu verleugnen. Wie selbstverständlich wird einverleibt, was gefällt. New Wave, Disco, Reggae, Dub, Psychedelia und sogar akustische Gitarren, ohne das Gefühl zu vermitteln, man habe sich verzettelt. Da klingt schon gleich der erste Track („Untergang“) nach den guten Momenten von HI-FI (kennt die noch wer?), verziert mit einer gar lieblichen Quengelorgel. Das folgende „So hatten wir uns das nicht vorgestellt“ ist ein richtiger Hit mit quakigem X-RAY-SPEX-Saxophon. Und schon ist man beim eingangs zitierten „Der Dinge Stand“, wo einem das Grinsen dann plötzlich im Halse stecken bleiben. Weitere Highlights sind „Das Komitee“, „Rein oder raus“, das wie selbstverständlich in die Disco marschiert, nur um dann dort die Getränke umzuschmeißen, „Der Mann, den keiner kennt“ und „Schmerz, Wut, Genuss, Wut“. Die restlichen Songs greifen, wie oben schon erwähnt, mal Dub und mal Reggae auf, sind rein elektronisch, balladesk oder halbakustisch ausgelegt. Langeweile kommt hier ganz gewiss nicht auf. Produziert wurde das Album im Hotel von Keyboarder Frank Fenstermacher am Bodensee und bei Kurt Dahlke (Der Pyrolator) in Berlin. Gemischt wurde es von Timo Blunck, einer weiteren NDW-Legende (PALAIS SCHAUMBURG). Auffallend knackig klingt das Schlagzeugspiel von Saskia von Kitzing. Ihre alte Wut haben FEHLFARBEN nicht abgelegt, aber man ist etwas altersmilde gestimmt. Man findet sie aber eher in den Texten als in der Musik. Womit wir auch beim einzigen Kritikpunkt sind: etwas mehr Ecken und Kanten, etwas mehr Dreck wünscht man sich gelegentlich schon. Trotzdem bleibt „Über…Menschen“ ein wichtiges, ein beachtenswertes Album, gerade für jüngere Menschen, die unbefleckt von der Geschichte dieser Band sind.