Fast 30 Jahre sind nun vergangen, seit ein gewisser Ian MacKaye sein ganzes Unverständnis gegenüber der Unreflektiertheit einer Subkultur, von der er geglaubt hatte, sie würde eine kritische und tolerante Alternative bieten, in Songs verpackte und der Punk/HC-Szene mit einer solchen Wucht vor die Füße schleuderte, dass die Erschütterungen bis heute nicht verklungen sind.
»I’m a person just like you – but I’ve got better things to do – than sit around and fuck my head – hang out with the living dead« und »(I) Don’t smoke – Don’t drink – Don’t fuck – At least I can fucking think«, so lauteten die Zeilen in den Songs »Straight edge« und »Out of step« von MINOR THREAT, die heute den Gründungsmythos von Straight Edge konstituieren.
Ian MacKaye, der mit seinem enthaltsamen und selbstkritischen Lebensstil so gar nicht in das Bild amerikanischer High-School-Kultur passen wollte, war, als er Ende der 70er Jahre in Berührung mit der Punkszene kam, fasziniert von dem Bruch mit konventionellen Gedanken und Verhaltensweisen, den er dort vorfand und von dem freien Raum, der die Möglichkeit des Anderseins dort entstehen ließ.
Umso größer muss sein Unverständnis darüber gewesen sein, dass diese vermeintliche Freiheit auch nur wieder in den Grenzen galt, die Punk, der inzwischen selbst zu einer Konvention geronnen war, vorgab. Eine drogenfreie Lebensweise gehörte jedenfalls nicht dazu. Die vermeintliche Alternative schien in anderem Gewand nach den gleichen engstirnigen Mustern zu funktionieren, wie die Kultur, der er eigentlich entfliehen wollte.
In diesem Sinne sind wohl auch seine oben stehenden Zeilen zu verstehen: Als Statement dafür, sich fernab von Szenedogmen einen eigenen Kopf zu machen und die Dinge kritisch zu hinterfragen. Vor diesem Hintergrund entbehrt es nicht einer gewissen tragischen Ironie, dass ausgerechnet diese Worte häufig als Anweisung und Regelwerk (miss)verstanden wurden, ein Umstand von dessen Entwicklung sich Ian MacKaye folgerichtig bis heute distanziert hat.
In jedem Fall sollten sie das Fundament für das Entstehen einer neuen – ja, was eigentlich? – einer (Jugend-) Subkultur (?) einer (Gegen-) Bewegung (?) oder etwa nur einer Art Lifestyle oder Abgrenzungsetikette (?) bilden, die in ihrer extremen Auslegung zum Teil sehr konservative Züge annehmen, ja in einzelnen Fällen sogar faschistoide Tendenzen tragen sollte.
In diesem durch seine Widersprüchlichkeit schwer zerklüfteten Spannungsfeld bewegt sich Straight Edge bis heute. So unterschiedlich die individuellen Beweggründe für Straight Edge sind, so vielfältig sind auch die Umdeutungen, Erweiterungen und Diskussionen, mit denen Straight Edge in den letzten drei Jahrzehnten beladen wurde und die sich unter diesem Label tummeln.
Die Dokumentation EDGE von Marc Pierschel und Michael Kirchner stellt sich der Herausforderung einer Bestandsaufnahme und wagt sich in dieses undurchsichtige Diskursdickicht vor. Sie spürt der Entwicklung von den Anfängen bis heute nach und versucht dabei, so gut das eben geht, ein möglichst umfassendes und vollständiges Bild von dem Phänomen zu zeichnen. Dabei begeht der Film nicht den Fehler einer romantischen Verklärung des Themas. Stattdessen ist das Anliegen spürbar, dem stark aufgeladenen Diskurs sachlich und undogmatisch zu begegnen.
Auch die Herangehensweise des Films spiegelt diese neutrale Position wieder. Die ganze Dokumentation bleibt unkommentiert. Das Reden ist den Interview-Partner vorbehalten. Als inhaltlich und thematisch strukturgebendes Element, werden die Interviewsequenzen immer wieder durch kurze Passagen unterbrochen, in denen eine Person während der Recherche zum Thema Straight Edge gezeigt wird. Während ihrer Nachforschungen entsteht eine Mindmap, anhand derer gut strukturiert immer neue Aspekte des Themas eingeführt werden. Vor den Augen des Zuschauers entwickelt sich auf diese Art und Weise, wie bei einer wissenschaftlichen Recherche, ein zunehmend komplexer werdendes Bild von dem Thema.
Auch die Auswahl der Interview-Partner erscheint in Bezug auf das Vorhaben einer umfassenden Darstellung sehr durchdacht: Einerseits kommen die üblichen Verdächtigen – Mitglieder der bekannten Bands von damals bis heute – zu Wort, wie z.B. Ian MacKaye (TEEN IDLES / MINOR THREAT / FUGAZI), Ray Cappo (YOUTH OF TODAY / SHELTER), Karl Buechner (EARTH CRISIS), Russ Rankin (GOOD RIDDANCE) und Pat Flynn (HAVE HEART), durch die es möglich wird, die Entwicklung von Straight Edge nachzuzeichnen, zum anderen kommen aber auch eine Reihe anderer, unbekannter bzw. weniger bekannter Personen zu Wort, die sich für eine straighte Lebensweise entschieden haben, was der Erzählung zusätzliche Breite und Tiefe verleiht.
Ob es der 16-jährige Taylor Clements ist, der berichtet, aufgrund von Drogenerfahrungen in seiner Familie straight geworden zu sein oder der Tierschutz-Aktivist Peter Young, ob es Bull Gervasi, der ehemalige Bassist der Posicore-Band R.A.M.B.O oder der Umweltwissenschaftsstudent Priyesh Patel ist: Die unaufgeregte Erzählweise und das spürbare Interesse an den Menschen hinter dem Thema führt zu sehr persönlichen Einblicken und interessanten Perspektiven auf das Thema. Selbst für gut mit der Materie Vertraute dürften sich hier einige neue Erkenntnisse und in jedem Fall lohnenswerte Momente ergeben.
Positiv fällt weiterhin auf, dass mit Eva Hall in einer leider nach wie vor männlich dominierten Szene auch eine Frau zu Wort kommt und auch das Thema Machismo kritisch reflektiert wird. Darüberhinaus werden noch weitere kritische Punkte in Bezug auf Straight Edge angesprochen. In diesem Zusammenhang löblich ist es, auch radikale Tendenzen nicht unerwähnt zu lassen, wie sie sich beispielsweise bei VEGAN REICH finden. Gleichzeitig angemessen ist es jedoch, diese in den Bonus-Teil der DVD zu verbannen und sie so nicht überzubetonen.
Kurz: EDGE ist eine wirklich gute Dokumentation, die es schafft, in ästhetisch ansprechender Form, spannende und persönliche Einblicke zu vermitteln, das Thema aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und insgesamt einen guten Überblick über die zahlreichen mit dem Thema zusammenhängenden Aspekte zu geben. Respekt dafür.