Tag 1: Hey ho – let´s go!
„Der Westen rockt!“ – das offizielle Area4-Motto wurde in diesem Jahr zum vierten Mal ausgerufen. Nachdem mein Plan, dem Festival am Rande des Ruhrgebietes einen Besuch abzustatten, im vorigen Jahr mangels Mitreisender gescheitert war, waren wir diesmal immerhin zu zweit unterwegs und erreichten bei herrlichem Sommerwetter den Sportflugplatz Borkenberge, unweit des Kleinstädchens Lüdinghausen. Als wir schließlich das Festivalgelände erreichten, waren die ersten Eindrücke durchaus positiv: Kaum Anreisestau, eine akzeptable Entfernung zwischen Parkplatz und Campinggelände sowie keinerlei Wartezeiten bei der Bändchenausgabe. So macht ein Festival bereits von Beginn an Spaß! Lediglich die Zeltplatzkapazitäten waren etwas eng bemessen, denn wir mussten schon ein paar Minuten suchen, bis wir endlich ein Plätzchen fanden, in das wir unser Igluzelt reinquetschen konnten.
So verpassten wir sowohl C.J. RAMONE als auch ZEBRAHEAD. Schade, denn ich hätte mir zu gerne den ehemaligen RAMONES-Bassisten angesehen, da ich doch wissen wollte, ob er es mit seiner Band schafft, die alten Klassiker seiner früheren Band würdevoll wiederaufleben zu lassen, oder ob er so einen desaströsen Auftritt hinlegt wie sein zugekokster Vorgänger Dee Dee vor fünf Jahren in der Hamburger Fabrik…
TURBOSTAAT präsentierten sich ähnlich wie eine Woche zuvor beim Dockville-Festival als spielfreudig, für mich sind sie jedoch nach wie vor keine Festivalband, sondern gehören in kleine, verschwitzte Clubs. Die MAD CADDIES dagegen wurden von einem Großteil der ca. 21.000 Besucher als eines der Festivalhighlights schlechthin angesehen und traten mit ihrer Reggae-Ska-Punk-Swing-Dixieland-Kombination eine große Tanzparty los. Ich war ja nie der ganz große Fan dieser Band, aber ich muss gestehen, dass ich nicht viele Gruppen kenne, die so gute Laune und ausgelassene Stimmung verbreiten wie die Kalifornier.
Da sich mittlerweile der Magen zu Wort gemeldet hatte, beschlossen wir im Anschluss, erstmal ein paar Steaks auf den Grill zu grätschen. Hierbei fiel auch erstmalig das diesjährige Konzept des Area4-Festivals, nur eine Bühne zu haben, positiv ins Gewicht: Zwar spielen so insgesamt deutlich weniger Bands an den drei Tagen, aber dafür gibt es andererseits keine Überschneidungen, und man kann seine Grill- und sonstigen Pausen viel besser planen, da zwischen den Bands ja auch noch eine halbstündige Umbaupause liegt. Kurz gesagt, man verfällt nicht so schnell in irgendeinen Zeitdruck, sondern kann den Tag deutlich entspannter angehen. JET haben wir uns also geschenkt, mit den im Anschluss spielenden DEFTONES konnte ich noch nie besonders viel anfangen, beim Publikum kamen sie jedoch gut an. Und dann: THE OFFSPRING. Ich hätte nicht gedacht, dass ich die Band auf ihre (oder meine?!) alten Tage noch mal live sehen werde. Und ihr könnt mir sagen, was ihr wollt, „The kids aren´t allright“ ist einfach ein genialer Punkrock-Song und knallt auch live wie Sau! Na klar, „Come out and play“, „Gotta get away“, „Americana“, „Pretty fly“ und zum Abschluss „Self esteem“ wurden auch gespielt, und unterm Strich war es wirklich spaßig, auch wenn der Auftritt insgesamt etwas bieder gewirkt hat. Man muss sich eben damit abfinden, dass die Kalifornier ihre besten Jahre hinter sich haben.
DIE TOTEN HOSEN übernahmen im Anschluss den Headliner-Job des ersten Abends. Jeder, der noch stehen konnte, fand sich zu später Stunde vor der Bühne ein, und die Düsseldorfer zeigten wie gewohnt eine souveräne Show, die selbst Kritikern der Band zumindest einen anerkennenden Achtungsapplaus abnötigt. Viele Zuschauer waren nur wegen der Hosen angereist, und sie bekamen Stadionrock vom Feinsten geboten. Zwischen Songs wie „Liebeslied“, „Sascha“, „Paradies“, „Pushed again“ oder „Opel Gang“ nahm sich Campino auch noch die Zeit, gegen den geplanten Nazi-Aufmarsch am 5. September in Dortmund zu mobilisieren. Auf seine obligatorische Kletterpartie am Bühnengerüst hat er diesmal jedoch verzichtet. Ich dagegen kletterte im Anschluss immerhin in meinen Schlafsack.
Tag 2: Welcome to Dixie-Land!
Erinnert sich noch jemand an die Gameshow „Familien-Duell“ mit Werner Schulze-Erdel? Hätte es in einer Episode geheißen „Wir haben hundert Leute gefragt: Was befindet sich auf einem Festivalgelände?“, dann wäre das Dixie-Klo garantiert unter den Top 3-Antworten gelandet. Auf dem Area4 sorgten die nicht gerade für ihre famose Luftzirkulation bekannten Fäkalienzellen bereits am Morgen des zweiten Tages für Gesprächsstoff. „Ich wollte heute Morgen aufs Dixie, da war die ganze Klobrille vollgekotzt“, erzählte mir mein Zeltnachbar mit einer seltsamen Mischung aus Faszination und Ekel in der Stimme. Bitte??? Wer zur Hölle geht denn zum Kotzen auf ein Dixie-Klo?!?! Lieber würde ich meinem gesamten sozialen Umfeld inklusive Eltern und Arbeitgeber vor die Füße reihern, als meinen Kopf direkt über ein bis oben hin voll geschissenes Dixie-Behältnis zu halten. Entsprechenden Applaus ernteten etwas später zwei verschwitzte, als leicht korpulent zu beschreibende Typen vom Toilettenreinigungsdienst, als sie mit Abpumpschlauch und Hochdruckreiniger dem Grauen zu Leibe rückten und zur klammheimlichen Gehaltsaufbesserung einfach mal hastig ein paar herumliegende Pfanddosen in einen extra dafür mitgebrachten Beutel stopften. Ein Bild, was selbst die ärgsten Widersacher in der derzeit geführten Mindestlohndebatte mitleidig einlenken lassen würde…
Musikalisch wurde der Tag von einer Nachwuchsband namens REVOLVING DOOR eröffnet. Während am gesamten Vortag keine einzige Frau auf der Bühne stand, so gab es derer jetzt dank zwei Sängerinnen und einer Bassisten gleich drei auf einen Schlag, und ihr Alternative Rock kam gar nicht mal schlecht an. Wenn sie nun noch etwas an ihrem persönlichen Auftreten arbeiten und die Mischung aus Unbeholfenheit und Rockstargetue abschütteln, dann könnte man sie sich vielleicht in Zukunft auch mal ohne Bandwettbewerbs-Gewinner-Bonus auf einer Festivalbühne vorstellen. EVERLAUNCH stimmten mit ihrem britpoppigen Sound eher seichte Töne an und bildeten somit den absoluten Gegenpol zu den Metalcorelern CALLEJON, die mit einem Aushilfsdrummer angetreten sind, da ihr Duracell-Häschen beim With Full Force-Festival von einer Rampe geplumpst ist und sich den Arm gebrochen hat. Für meinen Geschmack war das für diesen Tag allerdings etwas zu viel Geschrei, und so zog es mich erst zu RIVAL SCHOOLS wieder vor die Bühne. Die eigentlich im Jahre 2003 aufgelöste Band um die Hardcore-Ikone Walter Schreifels (ehemals bei GORILLA BISCUITS, QUICKSAND und YOUTH OF TODAY aktiv) hat sich letztes Jahr wieder zusammengetan und lockte mit ihrem Post-Rock leider nur ein paar hundert Leute vor die Bühne.
Ganz anders sah es dagegen bei den BROILERS aus: Nach der Veröffentlichung ihres letzten Albums „Vanitas“ und der damit verbundenen Abkehr vom typischen Oi!-Sound hatte ich einige Befürchtungen, dass sie es sich mit einem großen Teil ihrer bisherigen Fans verscherzen könnten. Die Verkaufszahlen und zahlreiche ausverkaufte Konzerte in der Folgezeit bewiesen jedoch das Gegenteil, und auch beim Area4 wurde deutlich, dass die Düsseldorfer mit dieser Veröffentlichung viele neue Anhänger dazu gewonnen und sich mittlerweile auch außerhalb des typischen Oi!-Klientels etabliert haben. Mit fast ausschließlich von besagtem Album stammenden Songs wie „Zurück zum Beton“, „Ruby light & dark“, „Meine Sache“ oder „Weißt Du es schon“ rissen sie das Publikum mit und überraschten am Ende noch mit einer reggaelastigen Coverversion des SLIME-Songs „Zusammen“. Unter den „kleineren“ Bands waren die BROILERS ganz klar die Gewinner des Wochenendes und wurden noch Minuten nach ihrem Auftritt mit lauten Sprechchören gefeiert.
Eine der Bands, auf die ich mich im Vorfeld am meisten gefreut habe, waren THE GET UP KIDS. Irgendwie hatte ich es noch nie geschafft, die Emo-Helden live zu sehen, doch das sollte sich nun ändern. Doch was war das? War das tatsächlich die Band, die ich in der Vergangenheit so sehr zu schätzen gelernt habe? Wo war die ungestüme Energie des „Four minute mile“-Albums, wo die mitreißende Atmosphäre, die die „Something to write home about“-LP ausgezeichnet hat? Von diesen Stärken war an diesem Tag nicht viel zu sehen, stattdessen wirkten die Amis verdammt lustlos und konnten ihre an sich genialen Songs nicht ansatzweise so überzeugend wie auf Tonträger rüberbringen. Wie mir im Nachhinein zu Ohren kam, sollen sich die Bandmitglieder einen Tag später beim Konzert in Hamburg ziemlich in der Wolle gehabt und auf der Bühne einen kleinen Frontenkrieg untereinander ausgetragen haben. War wohl kein so gutes Wochenende für die Gruppe und ihre Fans, mal sehen ob sich die Bandmitglieder wieder versöhnen, oder ob das Kapitel GET UP KIDS nun ein für allemal ad Acta gelegt wird. Die folgenden THURSDAY waren dagegen eine Bank und zeigten ihren Vorgängern, wie es richtig geht. Post-Hardcore at its best! Spätestens als bei „Resuscitation of a dead man“ RISE AGAINST-Frontmann Tim McIlrath auf die Bühne sprang und inbrünstig mitsang, hatten sie das komplette Publikum auf ihrer Seite.
Nachdem ich auf den Auftritt der EAGLES OF DEATH METAL verzichtet hatte, gesellte ich mich dann erst wieder zu AFI aufs Gelände. Während die Band in den USA regelrechte Superstars sind und mit ihrem Album „Decemberunderground“ wochenlang die dortigen Charts anführten, reicht es in Deutschland bisher leider nur zum Co-Headliner. Erwartungsgemäß verzichteten AFI weitestgehend auf die schnellen Hardcore-Knaller ihrer Anfangsjahre (lediglich „A single second“ vom „Shut your mouth and open your eyes“-Album war, soweit ich weiß, vertreten) und beschränkten sich überwiegend auf die Lieder ihrer letzten beiden Alben wie „The killing lights“ oder „Miss murder“. Ganz ehrlich, ich liebe diese Band, auch wenn das Bühnengepose gelegentlich etwas grenzwertig rüberkam.
Zum Ende des zweiten Abends spielten schließlich RISE AGAINST, die ähnlich wie die Hosen am Vortag ihrer Headlinerrolle gerecht wurden und noch einmal richtig viele Leute vor die Bühne lockten. Da ließen sich die Jungs natürlich nicht lumpen und zimmerten aus Songs wie „Collapse (Post-America)“, „The good left undone“, „Blood-red, white & blue“, oder „Prayer of the refugee“ nicht nur eine Bomben-Setlist zusammen, sondern kredenzten gleich zwei Zugabenblöcke, ehe sie mit „Ready to fall“ den zweiten Tag eines bis hierher tadellosen Festivals beendeten.
Tag 3: Endspurt
Eine sehr schöne Innovation beim Area4-Festival ist das eigens eingerichtete Festival-Radio. Auf der Frequenz 106,0 Mhz konnte sich der geneigte Festivalbesucher mit dem neuesten Festivaltratsch versorgen, Interviews mit Bands lauschen und sich mit Musik der spielenden Acts auf deren Auftritte einstimmen. Lustigerweise waren unsere Zeltplatznachbarn aufgrund einer gewissen Stimmenähnlichkeit der festen Überzeugung, dass sich hinter meinem Kollegen und mir die beiden Moderatoren des Festivalradios verbergen. Da sie sich partout nicht vom Gegenteil überzeugen lassen wollten, taten wir das Naheliegendste: Wir spielten das Spielchen einfach mit. Und so erzählten wir unseren Nachbarn von fiktiven Anekdoten, die wir aus den geführten Interviews rausschneiden mussten, setzten das Gerücht in die Welt, dass in der letzten Nacht zwei Leute auf dem Festivalgelände erfroren seien und verschwanden irgendwann unter dem Vorwand, die Redebeiträge für die nächsten sechs Stunden vorproduzieren zu müssen…
In Wahrheit machten wir uns natürlich auf den Weg zur Bühne, wo die BADDIES zur Mittagszeit den noch nicht ganz fitten Festivalbesuchern ein wenig Leben einhauchen wollten. Die Engländer, seit längerem als brandheißer Insidertipp in Sachen Indie-Rock, haben es aber bislang noch nicht geschafft, diesen Status zu verlassen. In meinen Augen sind die Jungs zwar nicht schlecht, ragen aber auch nicht aus der Masse an guten Insel-Bands hervor. Wirklich Leben aufs Festivalgelände brachten erst PANTEÓN ROCOCÓ, die mit ihrem Gute-Laune-Latin-Ska-Punk glatt Ziegenpisse in Benzin verwandeln könnten und nahezu das gesamte Gelände zum Tanzen brachten. Gute Band + guter Auftritt = super Stimmung!
Wann und wo ist eigentlich der Circle Pit wieder aus der Versenkung aufgetaucht? Seit spätestens letztem Jahr scheint die zwangsverordnete Anweisung zum Gruppentanz wieder zum Pflichtprogramm jeder größeren Punk/Rock/Hardcore/Metal-Band zu gehören. Die schwer rockenden LIFE OF AGONY instruierten die Massen ebenso zum gemütlichen Pogokränzchen wie die darauf folgenden ANTI-FLAG, die ihr Publikum gleich dreimal zur Kreisbildung aufforderten. Generell hauen die Pittsburgh-Punks bei ihren Ansagen und Publikumsanimationen ja mittlerweile ziemlich auf den Putz, was bei mir doch ein gewisses Unbehagen hervorruft. Einerseits der ständige Appell an die Individualität des Einzelnen, und dann andererseits die Aufforderung zum bedingungslosen Mitklatschen und sonstigem Firlefanz – das passt irgendwie nicht zusammen. Ansonsten gehören die Jungs aber natürlich immer noch zu den besten Punkrock-Bands dieser Tage und hauten mit „Turncoat“, „Die for your government“, „The press corps“, „Sodom, Gomorrah, Wahington D.C.“ oder dem CLASH-Hit „Should I stay or should I go“ eine Hymne nach der nächsten raus. Am Ende wurde noch die Security in Angst und Schrecken versetzt, als ANTI-FLAG einige Zuschauer auf die Bühne holen wollten, woraufhin die Absperrung einfach überrannt wurde und letztendlich locker 30 – 40 Leute auf der Bühne herum sprangen.
Nach soviel Action hatten KETTCAR natürlich einen schweren Stand: „Nach ANTI-FLAG wirkt unser Auftritt jetzt wahrscheinlich wie eine gemütliche Dichterlesung“, gab Markus Wiebusch selbstironisch zu Protokoll, nachdem die Hamburger mit „Deiche“ eröffnet hatten. Obwohl noch nicht einmal halb so viele Leute wie zuvor vor der Bühne standen, ließ sich das Publikum von Songs wie „48 Stunden“, „Landungsbrücken raus“, „Im Taxi weinen“, „Graceland“, „Balkon gegenüber“ oder „Kein Außen mehr“ schnell in den Bann ziehen. Das reguläre Set endete schließlich mit dem, wie üblich von Keyboarder Lars gesungenen, Stück „Am Tisch“, und nach der Akustikgitarrenzugabe „Balu“ war dann endgültig Schicht im Schacht. Zumindest für uns. Denn so gerne wir das FARIN URLAUB RACING TEAM und FAITH NO MORE gesehen hätten, vor uns lagen noch 300 Kilometer und eine anstrengende Arbeitswoche. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich dieses gelungene Festival noch lange in Erinnerung behalten werde. Und sollte das Line-Up im kommenden Jahr mit ähnlichen Hochkarätern aufwarten, dann bin ich ganz sicher auch wieder mit dabei.