Vor 15 Jahren war ich 15, lebte in einer Kleinstadt, und wenn ich neue Musik entdecken wollte, musste ich entweder beim örtlichen Dorfpunk vorsprechen oder eine halbe Stunde mit Bus und Bahn nach Hannover reisen und mich bei WOM durch die übersichtliche Vorauswahl in den Regalen arbeiten, um mich dann erst noch in die Schlange am Vorspieltresen einzureihen. Beim Umsteigen im Problembezirk Stöcken wurde einem womöglich noch das Kappy abgezogen. Heute gibt es eine Trilliarden Bands, die nur einen Mausklick weit entfernt sind – das ist Fluch und Segen zugleich. Einen Zeitgewinn bringt das virtuelle Stöbern im ständig verfügbaren Überfluss jedenfalls nicht gerade mit sich. Eher im Gegenteil. Aber dafür höre ich heute beim Joggen grandiose Schülerbands aus Pennsylvania, die wohl nicht mal in ihren eigenen Schulen sonderlich bekannt sind. Vor 15 Jahren entdeckte man Musik ja sogar noch per MTV, bzw. das M stand wenigstens noch für Musik und nicht für Müll. Meine Lieblingsmoderatoren waren Beavis and Butt-Head. Uhhhhh, this like, uhhh, sucks. Yeah, hehehehehe! Und heute? Gibt es einen schöneren Kommentar zur verzweifelten Lage der Musikindustrie als der vom weltweit größten Musiksender selbst, nämlich zur besten Sendezeit Reality-Soaps rauszuhauen, von denen man Ausschlag bekommt? Ein Genie-Streich! Aktionskunst als Hilfeschrei. „Ey sorry, Label, wir würden euer teuer produziertes Musikvideo ja gerne senden, aber wir haben leider schon diese Show am laufen, in der sich schreckliche Frauen mit zu hoch aufgepinselten Augenbrauen wüst beschimpfen. Habt ihr nicht zur Not noch ein knallbuntes Hochglanz-Video mit nem Affen, der darüber rappt, wieviel Zahlungsmittel und Sexualpartnerinnen er verbraucht? Das würde irgendwie noch in unser Konzept passen, uns selbst öffentlich das Klo runterzuspülen.“ Es bleibt also eh nur der Weg ins vollkommen überflutete Tal der sogenannten Independentmusik. Wie auf einem Festivalgelände, wo in tausend verschiedenen Zelten gleichzeitig gespielt wird, irrt man umher auf der Suche nach dem Oho-Effekt: was geht hier? Nö, langweilig. Was geht hier? Hä, spielen die nicht gerade drüben? Was geht hier? Ach du Elend. Was geht hier? Ihh, mit Mitklatschen. Was geht hier? Treffer!
– Ohooo, wer sind die denn?
– Das sind die MIMAS! Kommen aus Dänemark.
– Natürlich, Skandinavien. Geil, lustige Typen!
– Ja, echt mal unterhaltsam.
– Findet ihr? Mir sind die zu albern. Wie Clowns. Gleich springen sie noch durch brennende Reifen. Und dann kommen die armen Ponys mit den Partyhüten, die hektisch im Kreis laufen.
– Maul, das ist Spielfreude!
– Genau, die haben einfach Spaß und vor allem ordentlich Leidenschaft im Gesang.
– Jo, der Typ ruft´s schön befreit raus.
– Wenn dir der Gesang gefällt, empfehl ich dir auch sein Solo-Akustikprojekt DAD ROCKS.
– Ah, ok. Wie nennt man das hier eigentlich? Post-Irgendwas?
– Egal. Postrockfrickelfun.
– Funktioniert das auch auf Platte?
– Auf jeden Fall. Die neue, „Lifejackets“, ist eigentlich so ziemlich wie die davor: schön verrückt, nur etwas gleichförmig und jetzt nicht durchgehend grandios aber doch über weite Strecken zum Zunge schnalzen. Nur am Ende versuchen sie einen auf TRIP FONTAINE-Extase zu machen, das funzt überhaupt nicht.
– Macht nichts, nehm ich mit.
– Schau, sie spielen auch Trompete!
– Leider keine Zeit mehr, muss weiter durch die anderen Zelte, sonst verpass ich noch irgendwas.