Man mag es kaum glauben, aber das süße kleine Immergut-Festival in der idyllischen Mecklenburger Seenplatte, das es doch noch gar nicht so lange gibt, hat inzwischen schon elf Jahre auf dem Buckel. Die Grundschulzeit ist somit vorbei, jetzt beginnt also der Ernst des Lebens. Oder? Nach dem zweistelligen Geburtstag, der im letzten Jahr eine Art „Best Of“-Festival darstellte, wechselten auch die Strippenzieher im Hintergrund. Gespannt ist man da natürlich vor allem auf die neuen Booker. Setzen sie das bewährte Konzept nach dem Motto „Never change a winning team“ fort, oder bedarf es einer Neuausrichtung? Jogi Löw scheint mit seiner reformierten DFB-Elf nach dem ersten Gruppenspiel ja auch nicht falsch gelegen zu haben.
Aber im Prinzip war das Immergut mit seiner bisherigen Strategie von Beginn an erfolgreich. Ein charmantes, kleines Indie-Festival mit begrenzter Zuschauerzahl, einer mehr oder weniger indiepoppigen Ausrichtung und genügend Abwechslung drum herum (Fußball, Labelzelt, Festivalradio, einem Pendelzug zum See oder in die Stadt). An der Grundausrichtung wurde glücklicherweise nichts geändert, aber doch gab es ein paar kleine Details, die darauf hindeuteten, dass etwas neu war.
Erstmals stand das Immergut unter einem Motto: alles Indianer! Was das heißen mag? Man durfte sich überraschen lassen. Und es gab eine dritte, kleine Bühne. Für Akustik-Gigs, Lesungen und Ähnliches. Und ausgestellt wurde erstmals auch. Zwar nur im Labelzelt, aber immerhin. Im nächsten Jahr vielleicht auch schon etwas größer.
Doch kommen wir zum Immergut 2010. Zunächst einmal stellte sich die Frage, ob ich überhaupt hingehe. Von den alten Freunden wollte kaum noch jemand mit, und auch ich philosophierte im letztjährigen Bericht ja ein wenig melancholisch, ob ich das Immergut nicht einem jüngeren Publikum überlasse. Aber selbst wenn die anfängliche Entzückung im Laufe der Jahre ein wenig nachließ, zog es mich doch wieder nach Neustrelitz. Wahrscheinlich ist das so etwas wie der Übergang vom „verknallt sein“ zu „Liebe“. Zwei gute Freundinnen wollten mich ab Hamburg begleiten, und ein paar Berliner sollte ich vor Ort treffen. Das klingt schon mal gut. Doch ein paar Tage vor dem letzten Maiwochenende dann die unschöne Meldung: am Freitag Schulung. Das bedeutete nicht nur einen späteren Feierabend, sondern außerdem einen anderen Abfahrtsort: Münster statt Hamburg. So ein Ärger! Machen wir es kurz: die Fahrt entlang der Stau-Hochburg A1 kostete mich etwa 6,5 Stunden, am schönsten waren die letzten fünfzig Kilometer Landstraße mit abendlichem Bodennebel und einem herrlichen Sonnenuntergang. Über AN HORSE resümierte Eva: „Ich habe nichts zu sagen. Es hat geregnet und ich hab nix gesehen. Aber es war gut.“ Wie gut das Duo aus dem australischen Brisbane wirklich war, erfuhr ich erst eine Woche später auf dem Schaufenster-Konzert bei Michelle Records. „ALKALINE TRIOs Stimme in weiblich“, befand Martin, „so charmant wie die WEAKERTHANS“, dachte ich.
THE GO! TEAM war die erste Band, die ich dann auf der Hauptbühne, der sogenannten Waldbühne, zu Gesicht und Ohr bekam. Die entschädigten mit ihrem hibbeligen Indie-Schrammel-Poprock für die lahme Anreise. So quietschbunt wie ihre Plattencover gestaltete sich auch die Performance auf der Bühne. Für meinen Geschmack fast ein bisschen zu viel der guten Laune. Ihnen folgten im Zelt CHIKINKI, die so verdammt britisch klingen, dass es die Freude für jeden Revolver-Club-Gänger sein müsste. Wenn mich nicht alles täuscht, wurde mir die Band bereits vor vielen Jahren empfohlen. Und tatsächlich: die Bandgründung liegt noch vier Jahre vor dem ersten Immergut.
Für BONAPARTE konnte ich mich bisher noch nie so recht begeistern. Zu viel Show, zu platte Songs. Aber auf dem diesjährigen Immergut musste ich gestehen: sie machen das, was sie wollen, sehr gut und sehr konsequent. Und ihre Show, ihre Songs und ihre Kostüme sind schon wesentlich ausgefeilter als auf der letztjährigen Festivalreihe. Ein groteskes Spektakel in Perfektion!
Fast genauso perfekt agieren TURBOSTAAT, die inzwischen seit mehr als zehn Jahren in gleicher Besetzung durch die hiesigen AJZs touren. Ein wenig Wehmut schwingt jedoch mit, wenn man bemerkt, wie sich die fünf Jungs immer mehr von ihren Punkwurzeln entfernen und in Richtung Massenkompatibilität tendieren. Auch wenn Steffen „Das Island Manöver“ gut gefiel, freute ich mich doch mehr über die älteren Songs.
Bevor im Zelt zum Karrera Klub gebeten wurde, legte das Duo CANNIBAL KOFFER, nein, keinen Death Metal, sondern ziemlich gute Akustik-Coverversionen aktueller Charthits hin. Ein ziemlicher Spaß, auch wenn das Publikum insgesamt etwas tanzfaul war. Obwohl die frostigen Temperaturen eigentlich dazu einluden, wenn man nicht nur zittern wollte.
Tag zwei zwang uns bereits frühmorgens aus den Schlafsäcken. Klare Nächte verheißen immerhin sonnige Tage. Also auf zum Fürstenseer See! Den kannten Katrin und Eva noch gar nicht, weil sie in den letzten Jahren nur das Stadtzentrum und den Hafengeburtstag aufgesucht hatten. Auch sie zeigten sich vom hellen Strand und dem klaren Wasser beeindruckt. Schade nur, dass es zum Baden noch zu kalt war. Wobei sich einige Wagemutige trotzdem in die Fluten stürzten – meistens aber auch genauso schnell wieder draußen waren.
Am zweiten Tag suchte ich auch die süße Birkenhain-Bühne auf. Am Abend zuvor war es mir draußen schlicht und einfach zu kalt. NORMAN PALM startete mit seiner Akustik-Gitarre um den Hals und wurde an den Synthies unterstützt. Das CURE-Cover fehlte leider, aber ein freundlicher Einstieg in einen langen Tag.
Als nächstes las AREZU WEITHOLZ hier eine halbe Stunde lang Gedichte über Fische vor. Makrelen, Karpfen, Aale, Zierfische, Forellen, Doraden, … Das Publikum schmunzelte und ich fragte mich, ob die Frau denn sonst keine Hobbys hat.
Kommen wir von den Fischen zu den Schildkröten, genauer gesagt zu TALKING TO TURTLES. Indie-Elektro-Folk aus Leipzig mit charmanten Ansagen und wohligen Klängen. Dass der Soundcheck etwas später begann und sich der Beginn etwas verschob, störte keinen. Und auch Olli findet ihr Debüt wunderbar.
Als nächstes wurde die Bühne für ein Pult und ein paar Bücher frei gemacht. ROCKO SCHAMONI war dran. Seine Bücher seien von einem Ghost Writer verfasst und er vom Verlag dazu gezwungen worden, daraus vorzulesen. Der erste Lacher auf seiner Seite, und man merkte, wie er zur Höchstform auflief und immer mehr Lesepausen mit Ausführungen über seine Erkältung, Hamburg an und für sich und zum Publikum füllte. Da wurden auch einzelne Passagen abgeändert und ins völlige Nonsens geführt. Doch als die Stimmung auf beiden Seiten am besten war, legten THE KISSAWAY TRAIL im Zelt mit ihrer Rockshow los und brachten ihn offensichtlich immer wieder aus dem Konzept. Merken fürs nächste Jahr: laute Musik und Lesung nicht unbedingt parallel legen!
JA, PANIK konnten an diesem Tag als erste Band auf der Hauptbühne leider nicht so recht überzeugen. Für die österreichische Version von SUPERPUNK begeisterte sich nur eine kleine Gruppe Menschen, vielleicht war die Bühne auch noch etwas zu groß für sie.
Viel zu klein war der Birkenhain hingegen für WILLIAM FITZSIMMONS, was aber vorhersehbar war. Trat er auf dem letztjährigen Dockville nur in Begleitung einer zweiten akustischen Gitarre auf, hatte der Singer/Songwriter aus Illinois diesmal eine komplette Backing Band dabei. Doch leider gab es arge Probleme mit dem Sound, so dass mich die Feedbacks schließlich forttrieben.
Ebenfalls sehr eng wurde es in der Zeltbühne bei MEDIENGRUPPE TELEKOMMANDER. Anscheinend haben sich ihre Livequalitäten herumgesprochen – und die sind anscheinend unabhängig davon, ob sie nur zu zweit agieren oder in klassischer Bandbesetzung.
Mittlerweile war es halb neun, aber noch immer herrlich sonnig. Und so lockte der Hype um den TWO DOOR CINEMA CLUB auch die meisten Festivalbesucher vom Grill oder vom See vor die Hauptbühne. Zurecht! Ist mir die Musik der Nordiren auf Dauer ein wenig zu poppig, passte live alles perfekt zusammen. Die Band selbst war beeindruckt von den vielen Crowd Surfern und ich von den tollen Gitarrenmelodien, die der Gitarrist links aus seinem Instrument zauberte. Wer die FOALS mag, sollte hier hellhörig werden!
Für die Weilheim-Fans waren in diesem Jahr LALI PUNA vertreten. Bereits zum zweiten Mal, spielten sie doch bereits 2004 schon mal an gleicher Stelle. Liebevolle Musik für liebevolle Menschen. Auch EFTERKLANG aus Dänemark drückten im Anschluss daran ihre Anerkennung für LALI PUNA aus. Und sie avancierten direkt zu meinen Lieblingen des Festivals. Ich muss gestehen, dass ich die Kopenhagener zuvor noch nicht kannte, aber das bereits die geschmackvolle Gestaltung der Hauptbühne Interesse bei mir weckte. Eine ganze Bühne voller Musiker, ständig passierte irgendwo etwas, und dennoch wirkte alles zusammen äußerst strukturiert und aufgeräumt. Und als Ergebnis gab es wundervolle, orchestrale Pop-Songs mit genügend Tiefgang und Abwechslung. Das Ganze hätte auch mit einer gewissen Arroganz perfekt gewirkt, aber die letzten Sympathiepunkte räumten EFTERKLANG mit ihrer offensichtlichen Spielfreude ab. Großartig!
Danach brauchte eigentlich nichts mehr zu passieren, aber um der wieder einsetzenden Kälte zu entgehen, begab ich mich in die Zeltbühne zu FM BELFAST. Kurz zuvor lernte ich Sebastian von http://www.sellfish.de kennen, den ich bis dato nur per Mail kannte. Der reiste sogar ganz aus Nürnberg an und motivierte mich, nicht schlapp zu machen. Die gleiche Absicht hatten offenbar auch FM BELFAST. Komplizierte Songs? Nix für diese Isländer. Hier wurde auf Eingängigkeit und Partytauglichkeit gesetzt, und das Konzept ging formidabel auf. Das passte die anschließende Verkündung, dass Lena den Grand Prix gewonnen hatte, nur zu gut. Behaupten sonst nicht immer alle, dass sich keiner dafür interessiere? Na, egal.
Als letzte Band auf der Waldbühne waren TOKYO POLICE CLUB an der Reihe. Amazon behauptet ja, dass TOKYO POLICE CLUB-Kunden auch das Album vom TWO DOOR CINEMA CLUB kauften. Leider war bei der Band aus Toronto aber doch merklich weniger los. Lieber schlafen? Oder lieber Disco? Es könnte auch daran gelegen haben, dass sie viele unbekannte Songs gespielt haben. Oder dass ihr Neunziger Indie-Einfluss einfach zu old school für den größten Teil des Publikums war. Schade eigentlich, mir hat’s gefallen.
Bevor ich müde ins Zelt fiel, schaute ich noch beim DJ-Set von BIBIO vorbei, den der Schreiber im Immergut-Heft so schmackhaft umschrieben hatte, dass ich nicht dran vorbei konnte. Und tatsächlich verpasste er der Elektronik einen völlig neuen Anstrich und machte sie tanzbar, ohne auf endlose Loops zu setzen. Ich wünschte mir in diesem Moment, noch wacher zu sein, aber es ging leider nicht mehr.
Abschließend bleibt zu sagen, dass das Immergut 2010 auch mit den neuen Bookern eine feine, verlässliche Sache ist. Die großen Headliner waren diesmal zwar nicht dabei, so dass sich das Festival in diesem Jahr nicht ausverkaufte, aber es hatte auch einen Vorteil: mehr Platz auf dem Campinggelände! Das „Alles Indiander“ Motto begegnete einem nur in Form einiger verkleideter Immergut-Gänger, mancher Feder im Haar und zwei Einbooten auf dem Festivalgelände. Und abgesehen von ein paar peinlichen Sprüche-Shirts gehen die Asis weiterhin zu den größeren Festivals. Gut so!