Jazz zählte bislang nicht unbedingt zu meinen Lieblingsmusikrichtungen. Jedenfalls hätte mich der Begriff „Jazzfestival“ nicht per se angesprochen. Dass ich trotzdem beim Überjazz-Festival dabei war, habe ich ÓLAFUR ARNALDS zu verdanken, der mich auf dem letztjährigen Reeperbahnfestival vollends überzeugen konnte. Wer die Musik des jungen Isländers kennt, wird sich sicher wundern, warum man ihn überhaupt für ein solches Event bucht. Genau deshalb heißt es Überjazz-Festival – mit dem Untertitel „Jazz ist tot – es lebe der Jazz (aber anders)“
Geboten wurde alles – vom klassischen Jazz bis Soul, von „Death Metal Jazz“ bis Klassik, von Afrojazz bis R&B. Dass CHILLY GONZALES seine Teilnahme wieder absagte, ist zwar schade, aber auch ohne den Kanadier wurde ich blendend unterhalten.
Als ich gegen acht Uhr in der ehemaligen Maschinenfabrik aufschlug, war die Veranstaltung bereits so gut gefüllt, dass man seine Garderobe nicht mehr abgeben konnte. Das Publikum war sehr gemischt. Vom graubärtigen Senioren, Marke ehemaliger Sozialpädagogiklehrer, bis zum jungen Kunsttypen mit nerdiger Hornbrille war alles vertreten. Auffallend war, dass nicht nur viele internationale Künstler vertreten waren, sondern auch bei den Gästen im Foyer die verschiedensten Sprachen zu hören waren. Zuerst zog es mich ins K6, die größte Halle mit einer hohen Tribüne und einem Fassungsvermögen von 800 Zuschauern. Das fühlt sich von oben fast an wie im Stadion. Unten spielten JASON MORAN & THE BANDWAGON. Im Programmheft wurden sie als moderne und innovative Vertreter der aktuellen Jazzszene beschrieben, die u.a. mit dem WU-TANG-CLAN zusammen arbeiten und sich bei ihren Samples sowohl bei Monk, Hendrix aber auch türkischen Klingeltönen bedienen. Live bemerkte man von den Innovationen jedoch nur wenig. Das Auffälligste an dem Trio war die rote Wollmütze des Pianisten, die einen schönen Kontrast zu seinem dunklen Jacket bildete, und sein Rumgekippel. Ansonsten boten sie in meinen unerfahrenen Ohren klassischen Klimperjazz – technisch gut, aber bereits nach kurzer Zeit etwas ermüdend.
Nach einem Gläschen Rotwein schnell rüber zu ÓLAFUR ARNALDS ins kmh, der kleinsten Halle ohne Bestuhlung und mit Clubatmosphäre. Das Publikum im Vergleich einen Tick jünger, die Musiker schätzungsweise auch alle unter dreißig. Nachdem Ólafur zusammen mit vier Streicherinnen die Bühne betrat, forderte er sein Publikum im schlecht verständlichen Englisch dazu auf, sich doch hinzusetzen. Er sei keine Stehkonzerte gewohnt, und siehe da, die meisten Anwesenden folgten seinen Worten und blieben die folgende Stunde brav auf dem kalten Betonboden oder dem Bühnenrand sitzen. Und nicht nur das: es war absolut ruhig, kein Handy klingelte, es wurde fast nicht geschwatzt – gute Bedingungen für die zarten, oft sehr leisen Piano-Klänge, die perfekt mit den Streichern arrangiert wurden. Nach den ersten Songs wurden sie durch elektronische Beats, verschiedene Lichteffekte und Visuals unterstützt. Das sorgte für eine kühle, teils befremdliche Distanz zu den warmen Klängen, macht die Musik des Isländers aber gleichzeitig auch so besonders. Ein tolles Konzert.
Anschließend machte ich einen kurzen Abstecher bei LIZZ WRIGHT. Die Klänge von ÓLAFUR ARNALDS noch im Gedächtnis war mir dies aber viel zu poppig. Daran änderte auch die gute soulige Gospelstimme von Frau Wright nichts. Also weiter zum K2. Dort folgte der Auftritt vom Altmeisters des Ethio Jazz: MULATU ASTATKE & THE HELIOCENTRICS. Aha. Nach der Menschenmenge vor dem Saal zu urteilen kein Unbekannter mehr. Und das zu Recht: es folgte ein sehr rhythmisches Konzert, mit genügend Raum für Improvisationen aller beteiligten Musiker. Die Musik zwischendurch recht skurril, gleichzeitig aber sehr nachvollziehbar und nie so fordernd wie beispielsweise im Free Jazz. Passend dazu auch die Sitzaufteilung im k2: eine Tribüne im Hintergrund, davor Stehplätze, die viel Platz zum Tanzen boten, der dafür gerne genutzt wurde. MULATU ASTATKE selbst wechselte zwischen Vibraphon, Orgel und Percussions hin und her, während die HELIOCENTRICS sich nicht nur als Backing Band verstanden, sondern auch allein ein gutes Bild abgaben. Meine persönliche Überraschung des Tages!
Ebenfalls sehr überrascht war ich von MATTHEW HERBERT, besser berkannt als Elektro-DJ, der heute von einer kompletten Big Band begleitet wurde. Das hatte zur Folge, dass er anfangs in der Zahl der Instrumente etwas unterging und nur durch Synthie-Störgeräusche auffiel. Im Laufe des Sets wurde das aber besser und der Zuschauer konnte interaktiv daran teilhaben, wie MATTHEW HERBERT Geräusche sampelt, bearbeitet, verfremdet wieder ausspuckt und letztendlich geschickt in die Songs integriert. Dass Herr Herbert aber nicht nur kranke Sounds und lustige Bewegungen zu bieten, sondern auch etwas zu sagen hat, bewies er in einem Song, den er den Toten im Irak-Krieg widmete. Symbolisch wurde ein Piepton für Hundert Tote eingespielt – erschreckend, wie viele Pieptöne in den nächsten Minuten folgten. Lustiger ging es in einem Stück zu, für das er an jeden Musiker der Big Band eine Bildzeitung verteilte, die diese anschließend zu Konfetti und Papierknäuel verarbeiteten und sich gegenseitig damit bewarfen. Eine Botschaft, die nicht nur gegen die Boulevard-Presse gerichtet war, sondern sich gleichzeitig rhythmisch in den Song einbauen ließ. Was für eine Show!
Auf Showeffekte setzte auch die letzte Band des Abends: die SOIL & „PIMP“ SESSIONS aus Japan. Sechs lustig verkleidete Männer, die sich nicht sicher waren, ob sie eher als italienische Mafiosi oder Punkband durchgehen möchten. Es folgten SCOOTER-ähnliche Ansagen per Megaphon, da wurde auch mal rockstarmäßig das Schlagzeug erklommen und vor allem auf LAUT!!! gesetzt. Unschwer zu erraten, dass das Publikum sich zu später Stunde von einer solchen Performance mitreißen ließ. Dass dabei musikalisch aber eher unspektakuläre Sachen geboten wurden, fiel kaum auf. Ich ließ in Gedanken aber lieber noch mal die Konzerte von ÓLAFUR ARNALDS, MULATU ASTATKE und MATTHEW HERBERT Revue passieren und machte mich auf den Heimweg. Ein großartiges Festival, bei dem ich im nächsten Jahr sicherlich beide Tage mitnehmen werde.