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Überjazz Festival 2011 – Freitag & Samstag

Wie sagte schon der Saxophonist Steve Lacy? „Für mich muss sich Musik immer dort befinden – auf der Kante, zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten. Und man muss sie ständig ins Unbekannte vorantreiben, sonst verkümmert sie und man selbst auch.“
Das könnte auch das Motto zum zweiten Überjazz-Festival sein, dem Nachfolger der Hamburger Jazztage, das vom Jazzbüro Hamburg bewusst so geplant ist, dass die Grenzen des Jazz jedes Mal neu ausgelotet und überschritten werden. Denn Stillstand bedeutet bekanntlich Rückschritt.
Im Vergleich zum Vorjahr wurde das Festival um einen Tag und acht Bands erweitert, und man hatte die Wahl zwischen 32 internationalen Acts, die sich vier Bühnen teilten und zeitlich nicht selten überschnitten. Da lohnte es, wie auch beim Reeperbahnfestival, sich bereits vorher einen individuellen Plan zurechtzulegen, um die persönlichen Highlights nicht zu verpassen. Wobei die lokalen Begebenheiten, da sich alles unter dem Dach der ehemaligen Maschinenfabrik abspielte, ermöglichten, von fast jedem Künstler zumindest einen kurzen Blick zu erhaschen.
Wir begannen mit THOMAS MAREK, der den Beweis antrat, dass Stepptanz zu Livemusik nicht nur eine visuelle Unterstützung bietet, sondern gleichzeitig als Instrument dienen kann. Eine rhythmisch sehr versierte und schweißtreibende Show, bei der wir uns fragten, wo eigentlich das Mikro für die Steppsounds versteckt war. Möglicherweise unter der Bühne.
Anschließend wagten wir einen kurzen Blick ins K1, um uns das Ergebnis der 2. BUNDESJAZZWERKSTATT anzusehen. Hier wurden fünf Künstler neu zusammengewürfelt, die aus verschiedenen Städten kamen und ihre Eigenkompositionen vorab nur per Notenblätter austauschten, um heute ihren ersten gemeinsamen Auftritt zu absolvieren. Und die Resultate konnten sich absolut sehen lassen. Im letzten Song „Dein Wort“, das von Sänger Tobias Christl stammt, wurde der Gesang zu Beginn zum Instrument umgewandelt und der Song vollzog alle Wendungen von experimentell bis poppig und krautrockig. Da kamen einem durchaus Nicht-Jazzsachen wie DELBO und SIGUR RÒS in den Sinn. Schade, dass wir nur das Ende mitbekamen und der Gig auch ansonsten nur schlecht besucht war.
ueber-edvSönke Düwer, der Kopf vom ENSEMBLE DU VERRE, setzte sich bereits vor rund zwanzig Jahren mit Genreüberschreitungen auseinander, als er als Schlagzeuger in den Mojo Club geladen wurde. Die damaligen Einflüsse lassen sich auch beim ENSEMBLE DU VERRE wiederfinden, wo er die verschiedensten Elektrostile mit Jazz und Psychedelic verbindet. Zwei Drumsets (gelegentlich auch in elektronischer Form), Saxophon und Kontrabass sorgten für eine sehr hypnotische Stimmung.
Als wir das K2 für NOSTALGIA 77 betraten, erklangen bereits die letzten Takte zusammen mit Sängerin JOSA PEIT. Die eine sehr schöne Stimme hat, wie man sie ähnlich auch von HUNDREDS kennt. Allerdings verabschiedeten sich NOSTALGIA 77 mit dem Gesang leider auch von dem bis dahin sehr angenehmen Jazz-Sound und begannen sich in experimentellen Solosachen zu verstricken. Dies sollte uns im Rahmen des Festivals noch häufiger passieren, was ein wenig schade ist, weil die markanten Besonderheiten der Bands dabei oft unter den Tisch fielen. Auf die erhoffte soulige „Seven nation army“-Coverversion von WHITE STRIPES warteten wir leider vergeblich.
Dass es bei WESSELTOFT & SCHWARZ voll werden würde, war vorauszusehen. Coverstory unter anderem im Jazzthing und gute Plattenkritiken in allen Indie- und Elektro-Magazinen sprechen für eine gelungene Fusion aus Jazz und elektronischer Musik. Und tatsächlich könnte eine Kombination nicht besser vollzogen werden. Wobei das nicht allzu sehr verwundert, sind beide Personen doch auch einzeln schon sehr erfolgreich und vielen Kollegen stets einen Schritt voraus gewesen. So verquickte Bugge Wesseltoft bereits vor 15 Jahren Jazz mit Elektro, während Henrik Schwarz in der elektronischen Musikszene schon seit Anfang der Neunziger umtriebig ist und spätestens seit der Zusammenstellung einer DJ Kicks-Compilation von der breiten Öffentlichkeit registriert wurde. Als Duo stellt sich vor allem live ihr Talent für Improvisationen heraus, wenn sie sich gegenseitig Bälle ueber-hozuspielen, gekonnt aufgreifen und geschickt wieder retournieren. Dabei klingt das Ergebnis überraschend homogen, modern und sehr eigenständig. Toller Auftritt.
Das HIDDEN ORCHESTRA wurde mir erst einen Tag zuvor wärmstens empfohlen. Ein junges Quartett aus Edinburgh, das gleich mit zwei Schlagzeugern, Bass, Geige, Keyboards und diversen Synthies und Samples aufwartet und dabei alle Bereiche von Folk, Rock, Electronica, Klassik und Jazz streift. Das klingt allerdings keineswegs zerfranst, sondern sehr episch, oftmals etwas düster, aber stets sehr energiegeladen. Da musste man einfach bis zum Ende bleiben.
Zu später Stunde lud CHILLY GONZALES in die größte der Hallen, das K6. Überraschend, dass heute wesentlich weniger los war als noch vor vier Monaten, als er im ausverkauften Kampnagel spielte. Meine größte Sorge war, dass das Konzert eine Kopie seiner letzten Show werden könnte, ganz sicher aber nicht mit dieser mithalten würde. Doch ich sollte mich täuschen. Der Mann ist Entertainer durch und durch, und deshalb kann man auch nicht von einer „Show“ sprechen – er ist, wie er sich gibt. Dass sein Fuck Luck Orchester inzwischen auf vier Personen zusammengeschrumpft ist, erklärte er damit, dass die Musiker einfach zu teuer für ihn seien und er selbst mehr Geld einstreichen wolle. Es folgten anderthalb Stunden furiose Piano-Artistik, Improvisation, Comedy, Rap, Politik und zum Schluss das unrühmliche Ende, als er unerbittlich versuchte, einen Gast aus der ersten Reihe des Publikums gegen dessen Willen auf die Bühne zu locken. Die Stimmung des Gastes war nach dem Konzert auf dem Tiefpunkt, ebenso verließen viele Zuschauer den Saal, als sie bemerkten, dass die Grenzen der Unterhaltung bereits lange überschritten waren. Sympathiepunkte verspielt, wobei CHILLY GONZALES selbst das herzlich wenig stören dürfte.
Zum Abschluss des ersten Tages lockte HENRIK SCHWARZ, die elektronische Hälfte von WESSELTOFT & SCHWARZ, ins kmh, um die Nacht in Clubatmosphäre ausklingen zu lassen. Nun kamen die eingeschlafenen Füße endlich dazu, sich zu bewegen, aber leider waren zu so später Stunde nur noch wenige Gäste bereit für den Dancefloor. Schade eigentlich, da sich das Liveset als äußerst abwechslungsreich und tanzbar gestaltete.

Am zweiten Tag standen im Vergleich zum Vortag eher klassische Künstler auf der Bühne, was sich auch am Publikum bemerkbar machte, das heute etwas älter ausfiel. Wir starteten mit MAGNUS ÖSTRÖM, der aufgrund seiner musikalischen Biographie viele Zuschauer locken konnte. Der ehemalige Drummer des ESBJÖRN SVENSSON TRIOs hat drei Jahre nach dem traurigen Tod seines ehemaligen Mitmusikers eine neue Band gefunden, die stilistisch neue Wege beschreitet. Der Beginn des Gigs schien vielversprechend, es wurden mehrstimmige Experimente mit dem Gesang gewagt, aber leider verstrickte sich der Gitarrist im Laufe des Konzertes allzu häufig in schwülstigen Gitarrensoli. Zudem blieb MAGNUS ÖSTRÖM ueber-kwehinter seinen Möglichkeiten und spielte eher unauffällige Sachen auf den Drums. Deshalb rüber ins kmh zum KAKO WEISS ENSEMBLE. Die Swing und Gypsy-Einflüsse des jungen Hamburgers blieben heute aus, dafür bewegte sich der Nachkomme der Musikerfamilie Weiss mehr im Barjazz-Bereich. Das war zwar nett anzuhören, aber etwas anderes als wir erwartet hätten. Somit entschieden wir uns, einen kleinen Blick bei der NDR BIGBAND zu erhaschen.
Im letzten Jahr wurde MATTHEW HERBERT von einer Big Band begleitet und diese Kombination sorgte für eine explosive Mischung und gute Stimmung im größten der Säle. Auch heute spielte die NDR BIGBAND im K6 auf, allerdings stand das Programm unter komplett anderen Zeichen. Da sich der renommierte und prämierte Jazzsaxophonist GABRIEL COBURGER für die Kompositionen verantwortlich zeichnete, lag heute der Fokus auf den Bläsern. Darüber freuten sich zwar die Zuschauer, die auf technisches Können versiert waren, weniger aber diejenigen, die ein furioses Programm erwarteten. Vielleicht tauchten wir auch nur im falschen Moment auf, aber zum Schluss des Sets wurde uns die Musik doch zu experimentell. Voller Erwartungen füllte sich direkt im Anschluss das K2, fand hier doch heute die Premiere einer neuen Fusion statt: SEBASTIAN STUDNITZKY (bekannt durch seine Zusammenarbeit u.a. mit JAZZANOVA und NILS LANDGREN) traf auf MORITZ VON OSWALD, den man bereits von vielen elektronischen Projekten kennt. Vorab gab es nichts zu hören, man wusste noch nicht mal für welches Instrument sich STUDNITZKY, der sowohl das Piano als auch die Trompete beherrscht, entschieden hatte. Es war die Trompete, diese wurde allerdings durch diverse Effektgeräte gejagt und zum Teil so weit verfremdet, dass man sie kaum noch als solche erkennen konnte. Es entstanden Sounds und Flächen, die in Kombination mit den elektronisch unterlegten Beats skurril und für das Publikum anscheinend kaum nachvollziehbar waren. Wer sich Ähnlichkeiten zu WESSELTOFT & SCHWARZ erhofft hatte, sah sich getäuscht. Als wir uns nach einer Viertelstunde umblickten, war der Saal bereits halb leer gespielt. Ob diese Kombo fortbestehen wird, bleibt anzuzweifeln.
ueber-pelboPELBO aus Norwegen sorgten anschließend im kmh schon aufgrund der ungewöhnlichen Instrumentierung für frischen Esprit. Ine Hoem kümmerte sich, während sie sang, um die Electronics, und neben Drummer Trond Bersu sorgte vor allem Kristoffer Lo mit seiner Tuba für einiges Aufsehen. Wer dieses unförmige Blechblasinstrument bisher hauptsächlich mit angestaubten Schützenfestumzügen in Verbindung brachte, konnte heute dran teilhaben, wie eine Tuba genauso rockig rüberkommen kann wie ein Kontrabass in einer Rockabilly-Band. Hut ab!
Wenn man hört, dass JACOB KARLZON Metal-Fan ist und mit seinen beiden Mitmusikern auch nicht vor Cover-Versionen von Bands wie KORN zurückschreckt, kann man entweder eine ziemlich laute Show, zumindest aber eine ziemlich tolerante Herangehensweise erwarten. Laut wurde es nicht, dafür aber sehr abwechslungsreich. Außer KORN wurde eine jazzige Coverversion von „She’s a maniac“ dargeboten, die Musik blieb stets nachvollziehbar und auf ausufernde Soli wurde weitestgehend verzichtet. Dabei sorgte vor allem Jonas Holgersson mit seinem treibenden Schlagzeugspiel für den nötigen Drive.
ueber-gksoDa wir am dritten Tag des Festivals nicht mehr anwesend waren, entschieden wir uns als letzten Act für das GORAN KAJFES SUBTROPIC ARKESTRA. Der Namensgeber stammt aus Kroatien und hat bisher nicht nur fürs TV Musik geschrieben, sondern bereits mit genrefremden Künstlern wir MANDO DIAO und JOSÉ GONZÁLES zusammengearbeitet. Auch sein heute zusammengestelltes, vorrangig aus Bläsern bestehendes Arkestra ähnelte rein optisch eher einer Indieband und stellte von Beginn an unter Beweis, dass selbst Weltmusik ziemlich modern und sexy klingen kann. Dabei fühlte ich mich das eine oder andere Mal an JAGA JAZZIST erinnert, die vor einem guten halben Jahr an selber Stelle ein ziemlich furioses Konzert ablieferten. Dass auch Goran und sein subtropisches Orchester gut ankamen, merkte man nicht nur am Applaus, sondern auch beim nachträglichen Von-der-Bühne-Verkauf ihres letzten Werkes „X/Y“, das als edel aufgemachtes Buch im Hochformat daherkam.

Zum Schluss bleibt festzustellen, dass das Überjazz auch in seinem zweiten Jahr eine bunte Mischung aus Jazz und diversen anderen Stilen aufbot, wenngleich das Line-Up aus unserer Sicht nicht ganz mit dem letzten Jahr mithalten konnte. Seine Darseinsberechtigung hat das Festival aber unumstritten, und man kann sich als Hamburger glücklich schätzen, wenn ein solch abwechslungsreiches Programm direkt vor der Haustür angeboten wird. Es bleibt zu hoffen, dass sich 2012 noch mehr Zuschauer davon überzeugen lassen.

http://www.ueberjazz.de/