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SAY ANYTHING – … is a real boy

Neulich in Berlin. Ich so gerade am Einpennen, nochmal kurz den nostalgischen Flohmarkt-Radiowecker meiner Freundin angeknipst und zack, saß ich vor Begeisterung senkrecht im Bett als da dieser Typ zu einem monotonen Keyboard-Beat „I called her on the phone and she touched herself…“ singt. Nee, nicht singt, zelebriert, lebt. Ein so simples Stück, aber zum Überhit katapultiert von einer ausdrucksstarken, kurzzeitig in einen Wutausbruch ausartenden Stimme. Das war eine dieser seltenen Entdeckungen, wo man denkt: Band rauskriegen und Album kaufen, ohne vorheriges Reinhören, kann nur gut gehen! Und welch ein Werk! „…Is a real boy“ war bereits 2004 erschienen und ist jetzt mit ein paar alten Songs aus der Mottenkiste auf einer Extra-CD, angeführt vom eben angesprochenen, herrlichen „wow, i can get sexual too“, aufgepeppt worden.
Aber zur Musik: Selbst bezeichnet als Punkrock-Musical, sage ich fett produzierter, mächtiger, hymnenhafter Rock. Hat daher was von QUEEN. Ein Vergleich mit PIEBALD ist auch durchaus berechtigt, hört man sich deren „We are the only friends that we have“ an oder zählt man mal die „Yeahs“ beider Sänger pro Song.
Das Tolle an SAY ANYTHING ist, dass selbst Stücke, die mir eigentlich nicht gefallen würden, doch noch durch Facetten- und Abwechslungsreichtum und die detailverliebte Umsetzung glänzen. Außerdem beeindruckt der gewaltige Backgroundchor mit seinen vielschichtigen Harmonien. Da verwundert es nicht, dass „…Is a real boy“ ursprünglich als Rock-Oper konzipiert war mit Geschichte, Dialogen und so Tüddelkram.
Was aber verwundert, ist, dass hinter SAY ANYTHING eigentlich nur ein Kopf steckt, nämlich der von Songwriter Max Bemis, der sich nicht nur wunderbar die Seele aus dem Leib geschrieen, sondern bis aufs Schlagzeug und etwas Unterstützung auch noch alle Instrumente eingespielt hat. Respekt, der Herr, der nie wieder wilden Sex mit seiner Ex Molly Connolly haben wird, weil er Lieder über sie schrieb („every man has a molly“), der uns in „woe“ von seinen Ängsten und Selbstzweifeln erzählt und im bissigen „admit it“ beide Stinkefinger elitären Kritikern ins Gesicht streckt. Was sollte man überhaupt kritisieren? „Sell out, sell out“ – Rufe wären naheliegend, denn mit J-Records ist das Re-Release auf einem Major-Label erschienen. Dazu sagt Bemis auf seiner Homepage, er möchte so viele Kids wie möglich erreichen, und ein Mainstreammucke-Hörer sei nicht weniger Wert als ein Fanzine-Leser. Seine Musik sei für jedermann und nicht in Besitz einer kleinen Szenegruppe. Ein Indie-Label heutzutage sei eh nicht viel anders als ein Major, außer, dass man sich’s nicht leisten kann, auf Tour zu gehen. Also, meinen Segen hat der egozentrische Typ.
Meine beiden absoluten Favoriten übrigens: „alive with glory of love“ mit seinem herrlichen Intro, das eindeutig eine Mutation des „twist and shout“-Intros der BEATLES ist, und das mitreißende, vielschichtige „the futile“, durch das ich täglich aufs Neue meinen Nachbarn lauthals mitteile, dass es Rattengift zum Abendbrot gibt.
Ich würd hier locker alle Sterne gelb machen, aber leider sind auch drei bis vier echt schwache Songs dabei, gerade auf CD 2, und auf Dauer kann das Ganze auch ganz schön anstrengend sein. Trotzdem meine Entdeckung No.1 im Jahr 2006. Aber Vorsicht! Ist poppig.