Die Idee erscheint ökonomisch clever durchdacht. Was macht man mit einem Ferien- und Freizeitpark außerhalb der Hauptsaison? Man veranstaltet dort einfach ein mehrtägiges Festival. Apartments samt anliegenden Restaurants sind bereits vorhanden, Einkaufsmöglichkeiten und Parkplätze direkt nebenan. Und für die Kids gibt es ein Spaßbad, einen Indoor-Spielplatz und zahlreiche weitere Freizeitmöglichkeiten. Quasi ein Pauschalurlaub für Musikliebhaber. Dieses Konzept scheint unabhängig vom Genre gut zu funktionieren. Am Weißenhäuser Strand, das mittig zwischen Lübeck, Kiel und Fehmarn direkt an der Ostsee gelegen ist, haben sich bereits Festivals für Elektrofans (Nachtiville), Metalheads (Metal Hammer Paradise), Ballermann-Touristen (Schlagerwelle), Gothics (Plage Noir) und für Fans von Funk & Soul (Baltic Soul Weekender) etabliert. In der Vergangenheit hat es außerdem Festivals für Jazzliebhaber (Jazzville) und Frauen bzw. Lesben (L-Beach) – die Definition der Zielgruppe schwankt von Homepage zu Homepage – gegeben.
Und zu guter Letzt wäre da noch das Rolling Stone Beach, zuvor unter dem Namen Rolling Stone Weekender bekannt. Hier kommen alle Indie-Fans auf ihre Kosten, allen voran von Künstlern, die bereits seit den Neunzigern (PETER DOHERTY, CURSIVE, JOHN GRANT), wenn nicht sogar schon seit den Achtzigern (THE LEVELLERS, MERCURY REV, EVAN DANDO) aktiv sind. Andere Bands wie THE MURDER CAPITAL, EGYPTIAN BLUE oder zahlreiche Singer/Songwriter orientieren sich zumindest stilistisch an den guten alten Zeiten.
Wir waren gespannt, wie und ob uns das Konzept gefallen würde, aber ein paar Freunde lehnten auf Nachfrage dankend ab. „Da gehe ich besser zum Tanztee für Senioren“ meinten die einen, „wenn ich ein All-Inclusive-Package brauche, kann ich ja gleich bei einer Metal-Kreuzfahrt für Leichtmatrosen mitmachen“ die anderen.
Ein wenig befremdlich ist der Ort des Geschehens tatsächlich. Eine etwas heruntergekommene Ferienanlage im 70er Jahre-Charme, eine Trabantenstadt aus Beton, Apartment direkt an Apartment, dazwischen Männer jenseits der 50, die kistenweise Bier vom Parkplatz in die grauen Unterkünfte der nächsten zwei Tage lüngelten. Meine Freundin fühlte sich an ihre DDR-Vergangenheit erinnert.
Ich hätte am späten Nachmittag eigentlich noch einen Interview-Termin mit Tim Kasher gehabt, besser bekannt als Frontmann von CURSIVE und THE GOOD LIFE. Aber wie es oftmals so ist, verschiebt sich im Touralltag einiges. Da sich der Soundcheck verzögerte, sollte das Interview zunächst später stattfinden, nach dem Konzert fragte ihr Manager, ob auch Zoom möglich sei. Kein Problem, holen wir nach. So habe ich mir immerhin ein paar Songs der LEVELLERS angucken können. Eigentlich mochte ich die Briten mit ihrem keltisch inspirierten Folkrock nie besonders gerne. Aber die Stimmung war für einen Opening Act im großen Zelt ausgesprochen gut und selbiges bereits ordentlich gefüllt. Musikalisch werden wir in diesem Leben aber trotzdem nicht mehr zusammenfinden. Also schnell zum Abendbrot noch ein Nackensteak im knusprigen Brötchen (5,50€) in die eine Hand und einen großen Becher Bier (6,50€ für 0,5l) in die andere.
Danach ging es weiter bei HUSTEN – nicht zu verwechseln mit RAUCHEN oder FLUTEN. HUSTEN spielten im Baltic Festsaal, einem riesigen Raum mit niedriger Decke, den man sich auch als Hochzeitssaal für eine ziemlich große Gesellschaft vorstellen könnte. Hinter HUSTEN stecken allseits bekannte Namen wie GISBERT ZU KNYPHAUSEN und MOSES SCHNEIDER, letzterer vor allem bekannt als Produzent von Acts wie BEATSTEAKS, TOCOTRONIC, BOSSE und TURBOSTAAT. Doch Allstar-Bands müssen nicht automatisch gute Musik machen, jedenfalls wollte der Funke bei uns nicht wirklich überspringen. Zu seicht, zu deutschpoppig, zu lalala. Uns kamen Bands wie MADSEN, ELEMENT OF CRIME, SELIG und, sorry, PUR in den Sinn. Wahrscheinlich tun wir HUSTEN damit Unrecht, gut möglich, dass die Musik ausgefeilt und die Texte anspruchsvoll sind, wenn man sich näher damit beschäftigt.
Aber wir wollten uns stattdessen lieber weiter umsehen, landeten dabei im Möwenbräu, wo wir FLOODLIGHTS aber maximal über Bildschirme hätten verfolgen können, da sich sonst ziemlich viele Menschen, Pfeiler und Streben im Blickfeld befinden. Das Problem, wenn man nicht rechtzeitig vor Ort ist. In diesem Moment fiel uns auf, dass wir bereits den Anfang von CURSIVE verpasst hatten. Shit! Aber zum Glück spielte die Band aus Omaha ja auf der Zeltbühne, der größten Location vor Ort. Und anscheinend war das Set vielen der Zuschauer auch einen Tick zu laut, jedenfalls kamen wir recht problemlos nach vorne. Dort war die Stimmung richtig gut, denn was sich mit ihrem aktuellen Album „Devourer“ bereits andeutete, offenbarte sich auch heute: weg vom schwer nachvollziehbaren Prog-Rock der „I am gemini“-Zeit, dafür zurück zu den Postcore-Wurzeln. Da wundert es auch nicht, dass zuletzt wieder viele Songs aus den Anfangszeiten hervorgekramt wurden, die die Zuschauer richtig abfeierten. Kaum vorstellbar, dass die Band in Kürze ihr 30jähriges Jubiläum feiert und Tim Kasher soeben seinen 50. Geburtstag hatte. Was für eine Intensität, Hut ab!
Dass auch die Briten von BIG SPECIAL es gerne intensiv mögen, stellten sie bereits im letzten Jahr auf dem Reeperbahn-Festival unter Beweis. Im völlig überfüllten Karatekeller zeigte das Duo, dass es nicht viele Musiker braucht, um seine Wut in mächtig viel Krach umzumünzen. Auch heute wurde den Jungs mit der Alm wieder die kleinste Bühne des Festivals zugeteilt, so dass nur etwa der Hälfte der interessierten Zuschauer Zutritt gewährt werden konnte. Die erlebten dafür aber eine Stunde beste Unterhaltung mit einer Mischung aus SLEAFORD MODS, ALGIERS und THE STREETS. Soll heißen: Postpunk meets Grime meets HipHop meets Soul. Schon erstaunlich, wie gut sich scheinbar vollkommen unterschiedliche Stile miteinander kombinieren lassen. Nicht zu Unrecht wurde ihr Debüt so ziemlich überall abgefeiert. Im Backstage-Bereich der Bühne konnte man übrigens auch Peter Doherty mit BIG SPECIAL-Fanschal sehen. Schade für alle, die draußen bleiben mussten.
Etwas mehr Platz gab es im Anschluss daran bei JOHN GRANT im Baltic Saal. Auch mit seiner vorherigen Band THE CZARS war JOHN GRANT ja meist recht gefühlvoll unterwegs, aber solo kehrt er sein Seelenleben sogar noch mehr nach außen. Dabei geht es um Alkohol und Drogenmissbrauch, Angst und Selbstzweifel und natürlich die große Liebe. Aber der US-amerikanische Singer/Songwriter war heute ziemlich wütend und mit dem Sound am hadern. Dies schien aber nur den Bühnensound zu betreffen, denn unten klang seine warme Stimme in Begleitung mit seinen Pianomelodien fast so schön wie von RUFUS WAINWRIGHT.
Von Drogen könnte auch PETER DOHERTY viel berichten, erfreulicherweise hat er aber irgendwann den Absprung geschafft. Wobei ihn die Abhängigkeit im Laufe der Jahre doch ziemlich gezeichnet hat. Doch das ändert nichts an seinen Qualitäten als Frontmann, die ihn auch heute noch auszeichnen. Sei es zusammen mit seiner Band oder solo mit einer Akustischen, seien es seine Solosachen, der eine oder andere Coversong oder alte Songs von den BABYSHAMBLES oder THE LIBERTINES. Das alles hatte auch 20 Jahre später noch den wilden Charme seiner Jugendzeit und rief so manche Erinnerung an alte Zeiten hervor. Ein würdiger Abschluss des ersten Abends, der stilvoll mit „Fuck forever“ beendet wurde.
Am zweiten Tag merkten wir, dass bei allen Annehmlichkeiten eines „Indoor-Komfort-Festivals“ manchmal die banalsten Dinge zu Problemen führen können. Hieß für uns: Parkplatznot. Im Grunde sind alle Parkplätze am Weißenhäuser Strand beschrankt, aber wenn Apartmentgäste ihr Vehikel aus Bequemlichkeit auf dem Tagesparkplatz stehen lassen, wird es für Gäste von außerhalb schwierig. Also zurück zum Hotel und per Taxi zum RSB. So bekamen wir noch die letzte halbe Stunde der Lesung von MARKUS KAVKA mit. Was der ehemalige Moderator und Metal Hammer-Redakteur heute hauptberuflich macht, weiß ich eigentlich gar nicht. Jedenfalls schreibt er ab und an ein Buch, in dem er wahlweise über DEPECHE MODE oder über seine Vergangenheit berichtet. Heute ging es um seine Zeit als Moderator bei VIVA 2 und seinen Wechsel zu MTV. Wo Privatleben und Job nahtlos ineinander übergingen, wo sehr viele Drogen konsumiert wurden, und ab und an ging es um ein paar Befindlichkeiten der Prominenten. Aber insgesamt war man damals doch ein sehr cooles Team mit Charlotte Roche, Klaas Heufer-Umlauf, Nora Tschirner usw. usf. Ach ja, Kylie Minogue fand seine Frisur süß, Maria Carey mochte keine verspielten Welpen, aber wir waren Freaks und ich ein smarter Typ. Bei aller Nähkästchenplauderei und manch netter Anekdote doch etwas zu viel Selbstbeweihräucherung für unseren Gusto.
Also weiter zu HÖCHSTE EISENBAHN, der zweiten Supergroup auf dem Rolling Stone Beach, mit Musikern von u.a. TOMTE, TELE und SPACEMAN SPIFF. Die Musik der Berliner ist dabei so bunt gestrickt und zugleich so zugänglich, dass es eigentlich die ideale Band für ein Familienfestival ist, was vielleicht auch den frühen Slot erklären dürfte.
Im Anschluss daran ging es zurück in die späten Siebziger mit einer Band, die es allerdings erst seit sechs Jahren gibt: THE MURDER CAPITAL. Sie haben sich dem Sound des Post-Punk und Darkwave verschrieben, mit Einflüssen von JOY DIVISION, THE SMITHS und ECHO & THE BUNNYMEN. Auch wenn sie quasi als Ersatz für THE FELICE BROTHERS agieren mussten und ihre Bekanntheit wahrscheinlich noch längst nicht an US-Folk-Countryrocker heranreicht, passten sie mit ihrem düster-stimmungsvollen Sound fantastisch zum Publikum, das ihren Auftritt mehr als wohlwollend bejubelte.
Stilistisch nahtlos schloss sich das Konzert von EGYPTIAN BLUE an. Ebenfalls im Post-Punk beheimatet, kamen die vier Briten allerdings atmosphärisch komplett anders rüber. Mehr GANG OF FOUR und FOALS als Einfluss und mehr Tanzbarkeit als Düsternis. Das merkte man vor allem, als Frontmann Andy Buss das Publikum in der Mitte des Sets fragte „Do you want to move?“ Ab dem folgenden Song gab es im Publikum kein Halten mehr und in den ersten zehn Reihen wurde so ausgelassen getanzt, bis das letzte T-Shirt nassgeschwitzt war. Von wegen Tanztee für Senioren!
Der noch recht junge JAKE BUGG durfte anschließend auf der Zeltbühne ran. Kaum vorstellbar, dass sein Debüt bereits vor zehn Jahren erschienen ist und gerne mit BOB DYLAN verglichen wurde. Wobei ich diesen Vergleich nur bedingt, sprich: bei einzelnen Songs, zutreffend finde. Mich erinnert seine Musik genauso an Indierock der 2000er, wie ihn auch THE SUBWAYS oder WE ARE SCIENTISTS gemacht haben. Eingängige Songs mit Mitsingcharakter, dazu seine markant hohe Stimme und ein beeindruckend fetter Sound. Und das bei nur drei Musikern!
Da im Anschluss daran bei LAURA LEE & THE JETTES in der Alm die Einlassmöglichkeiten wieder sehr begrenzt waren, schauten wir bei POM POM SQUAD im Möwenbräu vorbei. Wir wunderten uns kurz, da so viele Leute den Saal verließen, als ob das Konzert bereits vorbei war, wurden aber schnell dem wirklichen Grund gewahr: Bubblegum Pop der Marke AVRIL LAVIGNE findet auf dem Rolling Stone Weekender einfach nicht so viel Zuspruch. Da nutzte auch das Cheerleading-Outfit samt Pompons nichts.
Also doch noch mal einen Blick bei WILLIAM FITZSIMMONS riskieren. Eigentlich hatte ich darauf keine Lust, weil mich so sanfte Musik zu später Stunde einfach nur müde macht. Zudem hatte ich mich an dem Folkpop des Rauschebarts nach anfänglicher Begeisterung irgendwann sattgehört. Zu sanft, zu sehr dahingehaucht, zu viel „Pssssst!!!!“-Getuschel bei seinen Konzerten. Aber es war gut, dem Mann aus Pennsylvania mit etwas Abstand eine zweite Chance zu geben, und die Dinge wiederzuentdecken, die mir damals doch so gut gefielen. Es waren die guten Gitarrenpickings und die entspannte Atmosphäre in seinen Songs, die mich wieder abholten. Und da er von einer Backing Band begleitet wurde, kam in seinen Stücken zudem etwas mehr Abwechslung auf. Ach, doch, das Konzert gefiel uns heute Abend ziemlich gut.
Zum Abschluss des Festivals noch mal ein paar Songs von den Burschen aus der Hansestadt. Den Jungs von KETTCAR begegnete man schon den ganzen Tag lang irgendwo auf dem Gelände, und anscheinend war das Rolling Stone Beach auch für sie eine Art Heimspiel. Denn gefühlt war halb Hamburg an diesem Wochenende am Weißenhäuser Strand anwesend. Wie formulierte es einer davon so schön? „KETTCAR guckt man nicht wegen der Musik, sondern weil es alte Bekannte sind!“. Das stimmt irgendwie, wobei sie natürlich auch textlich eine schöne Gratwanderung aus Wohlfühlsongs und politischer Notwendigkeit abdecken.
Das Konzert sahen wir nicht bis zum Ende, da unser Taxi bereits draußen wartete und man sich so langsam auch wieder aufs Bett freute. Und wie sieht unser Fazit aus? Die Einwände der Freunde konnten widerlegt werden. Es stimmt zwar, dass das Publikum etwas älter war als bei Hurricane, Elbjazz und Co, aber uns begegneten vor allem sehr viele musikinteressierte und offene Menschen, die Musik eben nicht nur zu einer bestimmten Lebensphase begleitet. Dass einen das ganze Festival manchmal an eine Kreuzfahrt erinnerte, können wir zwar nicht abstreiten, aber dass alles so nah beisammen liegt, bietet eben auch eine Menge Vorteile. Wenn dann das musikalische Programm noch stimmt und der CO₂-Fußabdruck besser ausfällt als bei einer Weltreise, spricht in unseren Augen wenig dagegen. Wir sind im nächsten Jahr jedenfalls gerne wieder mit an Bord!