You are currently viewing Roger Miret – United & Strong (Buch)

Roger Miret – United & Strong (Buch)

Ich sag mal so – obwohl ich mehrere Alben der New Yorker Hardcore-Institution AGNOSTIC FRONT mein Eigen nenne, habe ich mich bisher noch nie so wirklich mit der Geschichte der Band oder ihres charismatischen Frontmanns Roger Miret auseinandergesetzt. Natürlich hat man hier und da schon mal etwas gelesen oder gehört, darunter nicht selten negativ behaftete Dinge wie Gerüchte bezüglich einer angeblichen Nähe der Band zur rechtsradikalen Szene oder zahlreichen AF-Konzerten, bei denen es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam, die nicht selten von der Band selbst angezettelt wurden. Insofern verspricht die jüngst auch auf deutsch erschienene Roger Miret-Biografie „United & strong“ schon mal vorab jede Menge inhaltliche Brisanz und bietet eine gute Gelegenheit, sich endlich mal tiefergehend mit ihm, seiner Band AGNOSTIC FRONT und den Anfängen der NYHC-Szene generell auseinanderzusetzen.

Zunächst beginnt das Buch allerdings mit einem Rückblick auf Roger Mirets Kindheit, die wahrscheinlich exemplarisch war für viele Migranten-Familien, für die sich in den USA der frühen 80er Jahre den Traum eines besseren Lebens nicht verwirklichen ließ. Seine Eltern waren Exil-Kubaner, die auf Kuba zunächst ein glückliches und gutbürgerliches Leben führten, ehe sie im Jahre 1968 mit dem damals vierjährigen Roger 1968 mittels eines von der US-Regierung initiierten Umsiedlungsprogramms in die USA flohen. Doch leider mussten sie dort bald erfahren, dass man als Einwanderer in den USA nur Mensch zweiter Klasse ist – mit lächerlich bezahlten Jobs, ohne Krankenversicherung und mit eingeschränkten Rechten. Zunächst landete die Familie in einem Slum in New Jersey, die Anstellung der Eltern in einer Fleischfabrik reichte nicht aus, um die Miete zu bezahlen, und die Familie geriet in einen immer weiter eskalierenden Strudel aus Alkoholismus, Zwangsräumungen und häuslicher Gewalt, der sich auch nach der Trennung der Eltern unter dem neuen Stiefvater fortsetzte bzw. sogar verschlimmerte. Es ist verstörend, wie Roger Miret geradezu nebensächlich beschreibt, wie seine Mutter dem Stiefvater einmal mit einer Pistole zwei Kugeln in die Brust feuerte. Der Stiefvater überlebte, kam nach einigen Wochen wieder aus dem Krankenhaus, und das von körperlicher und psychischer Gewalt geprägte Eheleben wurde fortgesetzt, als wäre nichts geschehen.
Nach Aussage Roger Mirets hatten zahlreiche der damaligen Punk- und Hardcore-Kids einen ähnlichen sozialen Background. Er selbst kam erstmalig über einen Cousin mit Punk-Musik und Drogen in Berührung, rutschte stückweise in die Punk-Szene von New Jersey rein und machte immer wieder Abstecher nach New York City, wo sich bei Konzerten in Clubs wie dem A7, Max´s Kansas City oder dem CBGB die dortigen Punk- und Hardcore-Kids trafen und sich Anfang der 80er Jahre Bands wie VERBAL ASSAULT, CAUSE FOR ALARM, CRO-MAGS, SHEER TERROR oder REAGAN YOUTH gründeten. Und natürlich AGNOSTIC FRONT, denen Roger Miret kurz darauf beitrat und einige Zeit später in die Lower East Side von Manhattan umzog, die damals von Straßengangs, Drogen, Gewalt, Armut sowie einem generellem baulichen Verfall in Form von leerstehenden und zum Teil ausgebrannten Gebäuden geprägt war. Kein Wunder also, dass dieses Umfeld auch auf die NYHC-Szene abfärbte und exzessiver Drogenkonsum und Schlägereien sowohl gegen revierverteidigende Straßengangs, als auch gegen Mitglieder der Hardcore-Szenen anderer Städte wie Boston oder Washington D.C. zum Alltag gehörten. Überflüssig zu erwähnen, dass dieser Gewaltfetisch auch untereinander keinen Halt machte und auf Konzerten regelmäßig eskalierte – getreu dem Motto, wer sich etwas gefallen ließ, hatte praktisch schon verloren, und nur, wer sich zu behaupten wusste, bekam von den anderen Anerkennung. So einfach war damals die Überlebensformel im New York der Pre-Gentrifizierungs-Ära.

Den weiteren Werdegang von Roger Miret und AGNOSTIC FRONT an dieser Stelle wiederzugeben, würde den Rahmen sprengen und potentiellen Lesern des Buches den Spaß an der Lektüre rauben. Daher an dieser Stelle lediglich der Hinweis, dass Roger Miret im Verlauf des Buches sein Leben ausführlich, humorvoll und aus seiner heutigen Perspektive auch recht selbstkritisch Revue passieren lässt. Das zeitweilige Kokettieren mit rechten Symbolen zu seinen Teenagerzeiten wird von Roger Miret ebenso thematisiert wie das An-die-Wand-fahren mehrerer Beziehungen (u.a. mit der früheren NAUSEA-Sängerin Amy Keim, mit der er auch eine gemeinsame Tochter hat) und die anderthalb jährige Haftstrafe aufgrund von Drogenhandels, die letztendlich dafür verantwortlich war, dass er im Anschluss Gewalt und Drogen abgeschworen hat. Auf der anderen Seite werden auch zahlreiche zumeist amüsante Anekdoten geschildert, die sich zumeist rund um den Touralltag abspielten.
Insgesamt ist „United & strong“ ein überaus gelungenes und kurzweiliges Buch über eine Person, die trotz aller Kontroversen den NYHC-Lifestyle wie kaum ein anderer verkörpert. Daher sollte dieses Buch nicht nur Pflichtstoff für AGNOSTIC FRONT-Fans sein, sondern auch für diejenigen interessant sein, die sich gerne mit Musiker-Biografien generell auseinandersetzen.

Autoren: Roger Miret mit Jon Wiederhorn
Verlag: Iron Pages Books
Seitenzahl: 288
Erscheinungsdatum: 24.08.2018

http://www.ip-verlag.de/

Bernd Cramer

Konzert-Junkie & Vinyl-Liebhaber. Schreibt über Musik, ohne zu Architektur zu tanzen.