In diesem Jahr sah es so aus, als ob ich zum ersten Mal nicht am Reeperbahn-Festival hätte teilnehmen können. Ein seltsames Gefühl. Denn das Reeperbahn-Festival hat sich in den letzten zwölf Jahren einen festen Termin in meinem privaten Konzertkalender reserviert. Was vor zwölf Jahren mit gut 200 Bands auf 20 Bühnen angefangen hat, ist inzwischen zu dem größten europäischen Clubfestival mit mehr als 500 Konzerten an 90 verschiedenen Spielorten gewachsen. Hinzu kommen noch diverse Lesungen, Workshops, Kunst und Filme.
Doch dieses Überangebot erfordert auch viel Vorbereitung, wenn man nicht nur blind nach dem Zufallsprinzip entscheiden will, wo man hingeht. Allerdings sah es in diesem Jahr so aus, als ob der Job dem Musikmarathon einen Strich durch die Rechnung machen würde, doch am Ende sprangen immerhin noch der Freitag Abend und der Samstag heraus – sozusagen das Reeperbahn-Festival light.
Los ging es im Mojo mit LINIKER E OS CARAMELOWS aus Brasilien. Stilistisch ist die Band aus Sao Paulo nur schwer einzuordnen. Zwischen Soul, Jazz und Samba avancierte die Kombo um Transgender-Sängerin Liniker in den letzten Jahren von einem Geheimtipp zu einem Garant für große Shows, in der musikalische Grenzen genauso gesprengt wurden wie vorgeschriebene Geschlechterrollen. Doch am frühen Freitagabend wollte der letzte Funken noch nicht so richtig überspringen und der Auftritt wirkte ein wenig kraftlos, was dem Publikum vielleicht noch mehr zuzuschreiben war als LINIKER E OS CARAMELOWS.
Also schnell rüber in den Grünen Jäger, wo das ROBOCOBRA QUARTET aus Belfast auftrat. An den vier Nordiren war nicht nur die Instrumentierung (Synthies, Saxophon, Bass und Drums) ungewöhnlich, auch ihr Stil berührte Bereiche von Hardcore, über Punk bis hin zum Jazz, die man in dieser Kombination nur selten zu hören bekommt. Wähnte man sich in einem Moment noch im ruhigen Jazz, wurde kurze Zeit später der Bass verzerrt und FUGAZI zitiert, während der Drummer dazu mit Henry Rollins-artiger Stimme mehr spricht als singt. Nerdy!
Im Imperial Theater, wo außerhalb des Reeperbahn-Festivals Krimis aufgeführt werden, waren heute die ersten Sitzreihen für die Jury des Anchor Award reserviert. Es folgte der Auftritt von TAMINO, der zwar erst 21 Jahre alt ist, aber bereits vor dem Erscheinen seines Debütalbums als große Neuentdeckung gehandelt wird. In den folgenden 50 Minuten wurde uns klar, woher die vielen Vorschusslorbeeren kamen. Mit seiner dunklen Stimme und dem einnehmenden Gitarrenspiel ist der junge Belgier eine wahre Erscheinung auf der Bühne, von der man sich nur schwerlich abwenden kann. Musikalisch irgendwo zwischen RADIOHEAD, DOUGLAS DARE und den ruhigen Stücken von MUSE zu verorten, legte der Antwerpener einen nahezu perfekten Auftritt hin, bei dem jeder Ton saß, egal, ob er im tiefsten Bariton oder höchsten Falsett sang. Dass Tamino früher in einer Punkband gesungen hat, kann man sich kaum vorstellen. Schon eher lassen sich in dem gefühlvollen Indierock seine ägyptischen Wurzeln erkennen. Dass TAMINO am Ende zusammen mit FACES ON TV den Anchor-Award gewann, überraschte uns nicht.
Auf dem Weg zu Angies Nightclub passierten wir die Stände der Flatstock Poster Convention, die diesmal entlang der Esso-Häuser-Baustelle poitioniert waren und sich den vorbeiziehenden Passanten besser präsentierten als auf dem Spielbudenplatz, wo sie jedoch muckeliger beieinander standen. Bernd Hofmann, aka Senor Burns, berichtete, dass sie in diesem Jahr zwar mehr Laufkundschaft hatten, viele davon jedoch eher geschaut als gekauft hätten. Zudem machte das schlechte Wetter dem Geschäft einen Strich durch die Rechnung, weil die Stände teilweise geschlossen bleiben mussten. Ansonsten schien die Stimmung aber gut zu sein.
Eine ebenfalls gute, wenn nicht sogar euphorische Stimmung herrschte bei FIEH aus Oslo, allesamt StudentInnen der Norwegischen Musikakademie. Auch wenn Ihr Auftritt wegen der Vielzahl an Instrumenten erst mit etwas Verzögerung und anfänglichen Soundproblemen startete, dauerte es nur wenige Momente, bis die Begeisterung der achtköpfigen Band auf das Publikum übersprang. Mit souligem Jazz im Seventies Sound und eingeübten Choreographien versprühten die Mittzwanziger soviel gute Laune, dass man sich als Zuschauer daran erfreute, eine Band zu sehen, die in Sachen Performance noch ganz unvoreingenommen laienhaft agierte, die in musikalischer Hinsicht aber bereits ausgesprochen professionell vorging. Von FIEH, insbesondere von Sängerin Sofie Tollefsbøl, wird man wahrscheinlich noch langfristig etwas hören.
Zum Abschluss des Freitagabend landeten wir noch einmal im Imperial Theater, wo HARRISON STORM mit Akustikgitarre und sanfter, etwas heiserer Stimme das eine oder andere Herz der anwesenden Zuschauerinnen eroberte. Besonders fiel dabei eine Dame auf den oberen Rängen auf, die ihrer Ergriffenheit durch lautstarken Jubel und unrhythmisches Händeklatschen Ausdruck verlieh und dabei nicht nur den Australier aus dem Konzept brachte. Trotz alledem ein schöner Abschluss für den Freitag.
Der Samstag begann wieder wechselhaft. Regenschirm mitnehmen oder nicht? Ich entschied mich dagegen und wurde auf dem Weg zum Überquell promt recht nass. Nebenbei erfuhr ich, dass das neue Brauhaus dem Golden Pudel Club näher liegt als den Fischmarkthallen, was am Ende dazu führte, dass ich nur noch die beiden letzten Songs von KEELE mitbekam. KEELE zählen neben LETO zu den neuen Bands von Rookie Records, kommen ebenfalls aus Hamburg und schlagen musikalisch in die gleiche Kerbe. Soll heißen: hanseatischer Punkrock mit Emo-Einschlag, nicht ganz unähnlich zu Bands wie CAPTAIN PLANET, HERRENMAGAZIN und KETTCAR. Dazu ein hausgebrautes Bier – wie könnte man besser in den letzten Tag des Reeperbahn-Festivals starten.
Bei CHARLOTTE BRANDI im gemütlichen Molotow Backyard herrschte hingegen Katerstimmung. Die Sängerin und Pianistin, die zuvor mit dem Indie-Duo ME AND MY DRUMMER eine gewisse Popularität erlangte, begrüßte das Publikum mit einem: „Seid Ihr auch alle so… müde?“ Drei Wochen nach der offiziellen Auflösung von ME AND MY DRUMMER, die offensichtlich nicht im Guten erfolgt ist, nun also das Soloprojekt. Wobei solo nicht so ganz stimmte, denn Unterstützung fand Charlotte von Marie-Claire Schlameus am Cello und von Isabel Ment an der Gitarre. Stilistisch hat sich die Musik dabei gar nicht allzu weit von der Vorgängerband entfernt, vielleicht ist es einen Tick klassischer und melancholischer geworden, aber die Stimme und das Piano lassen natürlich noch immer an ME AND MY DRUMMER denken. Doch nicht nur auf ihren alten Bandkollegen war Charlotte schlecht zu sprechen, auch am Reeperbahn-Festival hatte sie etwas zu kritisieren. Mit vier Auftritten an drei Festivaltagen forderte man ihr als Künstlerin zu viel ab, weshalb die drei heute auch etwas träge seien. Ob die Kritik hier den richtigen Adressaten fand, sei dahin gestellt – vielleicht hätte sie hier besser ein ernstes Wort an ihren Booker gerichtet. Doch sei’s drum, der Auftritt war gut, und einer erfolgreichen Solokarriere dürfte sicherlich nichts im Wege stehen.
Bevor es im musikalischen Programm weiterging, widmeten wir uns der vielfältigen Kunst, die sich in diesem Jahr zu einem großen Teil auf dem Festival Village auf dem Heiligengeistfeld konzentrierte. Neben großformatiger Bleistiftkunst von Björn Holzweg, Konzert-Ölgemälden von Kasia Kandel, interaktiven Aktionen für die zivile Seenotrettung von Flüchtlingen und Coverartworks von Klaus Voormann, der unter anderem das Plattencover von BEATLES‘ „Revolver“ gestaltet hat, war es vor allem der digitale Beichtstuhl, der unsere Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Hier konnte man sich anonym die Sünden von der Seele tippen, die anschließend auf einem endlosen Kassenbon für alle sichtbar nachzulesen waren. Neben Alkoholexzessen und Seitensprüngen wurde aber auch gebeichtet, dass man PHILIPP POISEL insgeheim doch ganz geil findet, seinen Liebsten gerne ärgert oder aber, dass man in Australien Klamotten für rund 300 Dollar geklaut habe. Unterhaltsam bis erschreckend!
Direkt nebenan spielten anschließend FATHERSON auf der hohen Fritzbühne und brachten Indierock von Schottland nach Hamburg. Eingängig, durchaus sogar radiotauglich. Bisher mussten sie sich mit dem Support für Bands wie IDLEWILD und BIFFY CLYRO begnügen, demnächst dürften auch sie als Hauptact dran sein.
Als ich mich anschließend in Richtung Große Freiheit begab, war ich froh, dass ich nur ins Indra wollte, als ich eine lange Schlange vor dem Grünspan sah, die bis zur Simon-von-Utrecht-Straße reichte. Erst als ich näher kam, wurde mir bewusst, dass die Wartenden nicht ins große Grünspan wollten, sondern ebenfalls fürs Indra anstanden. Oh Shit! In solchen Momenten ist man froh, wenn man als Pressevertreter die „Fast Delegates Lane“ nutzen darf. Allerdings hatte man das Gefühl, dass die Türsteher gegenüber den Wartenden kulant sein wollten, so dass es im Indra unglaublich eng und warm war – bereits bevor die Band begann. Und wem galt der ganze Andrang? Der Band D/TROIT aus Kopenhagen, die den Soul aus den Sechzigern in die Gegenwart transportierten. Man fühlte sich tatsächlich wie beim legendären Soul Allnighter, nur dass die Musik nicht aus der Konserve, sondern live von der Bühne kam und Sänger Toke Bo Niste sein weißes Hemd bereits nach drei Songs komplett transparent geschwitzt hatte. Auch mir wurde es zu warm und so wechselte ich rüber ins Schulmuseum zu CHRISTOF VAN DER VEN, der wiederum selbst vor einigen Jahren von den Niederlanden nach Irland und weiter nach London gewechselt ist. Die Übersiedlung auf die Insel kam dem holländischen Indiefolker dabei sicherlich zugute, sammelte er anschließend doch Erfahrungen in der Liveband von BEAR’S DEN die er nun auch als Singer/Songwriter umsetzen kann. Dass ihm dies gelingt, kann man auch daran sehen, dass kaum einer der Zuschauer die kleine Aula verließ.
Uns lockte es anschließend den vergleichsweise weiten Weg in den Michel, um ANE BRUN in dieser riesigen Barockkirche live zu sehen. Bereits seit 15 Jahren ist die gebürtige Norwegerin und Wahl-Stockholmerin in diversen Kooperationen aktiv und hat dabei einen beeindruckenden und vielseitigen musikalischen Stempel hinterlassen. In der Hauptkirche Sankt Michaelis trat sie heute mit einem Streicherensemble auf, doch die Stimme von ANE BRUN, die ich bislang als zart und elfenhaft abgespeichert hatte, war heute relativ laut abgemischt, was zusammen mit dem Hall in einem großen Kirchensaal und in Kombination mit ihrer Gestik für meinen Geschmack etwas zu theatralisch ausfiel.
So begaben wir uns weiter ins kukuun, wo ich glücklicherweise auf meine positive Überraschung des diesjährigen Reeperbahn-Festivals traf: MAKENESS aus Schottland waren bislang als Duo unterwegs, aber inzwischen hat Kyle Molleson daraus eine One-Man-Band gemacht und kombiniert dabei Synthies mit geloopten Gitarren und poppigem Gesang. Das Besondere daran ist, dass Mollesons Electronics bereits so gut sind, dass er problemlos auch ohne Gitarre und Gesang als DJ die Meute zum Tanzen bringen würden und dem ganzen durch die Ergänzungen einen leichten HOT CHIP-Anstrich verpasst. Toll gemacht – MAKENESS unbedingt merken!
Zum Abschluss des Reeperbahn-Festivals schauten wir noch mal in Angie’s Nightclub vorbei, wo PONGO mit einer Mischung aus Disco und World Music den Abend langsam in die Clubmusik überleitete.
Den Termin fürs Reeperbahn-Festival 2019 habe ich bereits im Kalender markiert und werde in Kürze einen Urlaubsantrag dafür einreichen. First come, first go – im nächsten Jahr dann wieder alle vier Tage!